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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

jeder, der Philosophie treibt. Das Endergebnis der Grübelei hängt einerseits,
wie schon bemerkt wurde, von persönlichen Stimmungen und Erfahrungen ab,
namentlich davon, ob einer in der Welt mehr Vernunft und Glück oder mehr
Unvernunft und Elend gewahr wird. Andrerseits aber liegt die Entscheidung
bei der eigentümlichen Beschaffenheit des Kausalitätstriebes eines jeden.
Während im mathematischen Gebiet der Denkapparat bei allen Menschen gleich¬
müßig arbeitet, verhalten sie sich bei Schlösser von den Wirkungen auf die
Ursachen verschieden. Ich kann mir das Denken weder aus der materiellen
Bewegung entstanden noch als ein unbewußtes vorstellen; andre können
beides; darum kommen sie ohne einen persönlichen Gott aus, ich nicht. Die
Frage, ob es einen Beweis für das Dasein Gottes gebe, beantworte ich also
zwar mit ja, aber mit der Einschränkung, daß er nur subjektive Geltung habe.
Daß er theoretischer Art ist, unterscheidet ihn von dem Beweise Kants, dem
von seinem Urheber jedenfalls nur subjektive Geltung zugeschrieben wird, dem
man aber, weil er ausschließlich praktischen Erwägungen entnommen ist, noch
außerdem den Vorwurf machen kann, er laufe auf den Satz hinaus: es giebt
zwar keinen Gott, aber es ist nützlich, sich einen vorzulügen. Und der Theist
hat noch den Vorteil, von dem großen Problem der Erkenntnistheorie, mit
dem sich auch Nietzsche zeitlebens herumgeschlagen hat, nicht bis zum Wahn¬
sinn gepeinigt zu werden. Die Erkenntnistheorie lehrt uns, daß die Eigen¬
schaften der Dinge nicht an diesen haften, sondern nur unsre Vorstellungen
sind, sodaß, nachdem Kant auch noch die Ausdehnung, die seine englischen
Vorgänger noch stehen gelassen hatten, in unser Inneres verlegt hatte, von
den Dingen gar nichts mehr übrig geblieben ist. Andrerseits lehrt uns die
Erfahrung, daß, auf unsrer Erde wenigstens, kein Vorstellen und Denken vor¬
kommt ohne ein Gehirn, das nach dem eben erwähnten Denkergebnisfe selbst
nur eine Vorstellung unsrer Seele sein soll. Ist nicht dieser Zirkel allein
schon imstande, den Philosophen ins Tollhaus zu bringen?

Wenn sich nun ein Atheist, wie Nietzsche in seinen letzten Jahren gethan
hat, zum naiven Realismus des Volkes zurückrettet, an der derben Wirklichkeit
der körperlichen Dinge festhält und sich die Grübeleien aus dem Sinne schlägt,
so bedeutet das die Verzichtleistung auf das Denken, auf das Dasein des eigent¬
lichen, des höhern Menschen, dem derselbe Nietzsche gerade in diesen letzten
Jahren zustrebte; damit lebt aber der seelenzerreißende Zwiespalt in einer
andern Form wieder auf. Der Theist dagegen kann sich durch folgende Be¬
trachtung daraus retten. Es ist vollkommen wahr und richtig, daß der Geist,
der bewußte Geist, das einzige wahrhaft Seiende ist, und daß die körperlichen
Dinge ohne einen wahrnehmenden Geist nicht vorhanden sein würden. Aber
ehe die Menschenseelen, ehe die Tierseelen vorhanden waren, war Gott vor¬
handen, und in dessen bewußtem Geist und Willen hatten die körperlichen
Dinge ihr Dasein. Gott wollte, daß Wesen da seien, die gleich ihm sich und


Friedrich Nietzsche

jeder, der Philosophie treibt. Das Endergebnis der Grübelei hängt einerseits,
wie schon bemerkt wurde, von persönlichen Stimmungen und Erfahrungen ab,
namentlich davon, ob einer in der Welt mehr Vernunft und Glück oder mehr
Unvernunft und Elend gewahr wird. Andrerseits aber liegt die Entscheidung
bei der eigentümlichen Beschaffenheit des Kausalitätstriebes eines jeden.
Während im mathematischen Gebiet der Denkapparat bei allen Menschen gleich¬
müßig arbeitet, verhalten sie sich bei Schlösser von den Wirkungen auf die
Ursachen verschieden. Ich kann mir das Denken weder aus der materiellen
Bewegung entstanden noch als ein unbewußtes vorstellen; andre können
beides; darum kommen sie ohne einen persönlichen Gott aus, ich nicht. Die
Frage, ob es einen Beweis für das Dasein Gottes gebe, beantworte ich also
zwar mit ja, aber mit der Einschränkung, daß er nur subjektive Geltung habe.
Daß er theoretischer Art ist, unterscheidet ihn von dem Beweise Kants, dem
von seinem Urheber jedenfalls nur subjektive Geltung zugeschrieben wird, dem
man aber, weil er ausschließlich praktischen Erwägungen entnommen ist, noch
außerdem den Vorwurf machen kann, er laufe auf den Satz hinaus: es giebt
zwar keinen Gott, aber es ist nützlich, sich einen vorzulügen. Und der Theist
hat noch den Vorteil, von dem großen Problem der Erkenntnistheorie, mit
dem sich auch Nietzsche zeitlebens herumgeschlagen hat, nicht bis zum Wahn¬
sinn gepeinigt zu werden. Die Erkenntnistheorie lehrt uns, daß die Eigen¬
schaften der Dinge nicht an diesen haften, sondern nur unsre Vorstellungen
sind, sodaß, nachdem Kant auch noch die Ausdehnung, die seine englischen
Vorgänger noch stehen gelassen hatten, in unser Inneres verlegt hatte, von
den Dingen gar nichts mehr übrig geblieben ist. Andrerseits lehrt uns die
Erfahrung, daß, auf unsrer Erde wenigstens, kein Vorstellen und Denken vor¬
kommt ohne ein Gehirn, das nach dem eben erwähnten Denkergebnisfe selbst
nur eine Vorstellung unsrer Seele sein soll. Ist nicht dieser Zirkel allein
schon imstande, den Philosophen ins Tollhaus zu bringen?

Wenn sich nun ein Atheist, wie Nietzsche in seinen letzten Jahren gethan
hat, zum naiven Realismus des Volkes zurückrettet, an der derben Wirklichkeit
der körperlichen Dinge festhält und sich die Grübeleien aus dem Sinne schlägt,
so bedeutet das die Verzichtleistung auf das Denken, auf das Dasein des eigent¬
lichen, des höhern Menschen, dem derselbe Nietzsche gerade in diesen letzten
Jahren zustrebte; damit lebt aber der seelenzerreißende Zwiespalt in einer
andern Form wieder auf. Der Theist dagegen kann sich durch folgende Be¬
trachtung daraus retten. Es ist vollkommen wahr und richtig, daß der Geist,
der bewußte Geist, das einzige wahrhaft Seiende ist, und daß die körperlichen
Dinge ohne einen wahrnehmenden Geist nicht vorhanden sein würden. Aber
ehe die Menschenseelen, ehe die Tierseelen vorhanden waren, war Gott vor¬
handen, und in dessen bewußtem Geist und Willen hatten die körperlichen
Dinge ihr Dasein. Gott wollte, daß Wesen da seien, die gleich ihm sich und


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[0444] Friedrich Nietzsche jeder, der Philosophie treibt. Das Endergebnis der Grübelei hängt einerseits, wie schon bemerkt wurde, von persönlichen Stimmungen und Erfahrungen ab, namentlich davon, ob einer in der Welt mehr Vernunft und Glück oder mehr Unvernunft und Elend gewahr wird. Andrerseits aber liegt die Entscheidung bei der eigentümlichen Beschaffenheit des Kausalitätstriebes eines jeden. Während im mathematischen Gebiet der Denkapparat bei allen Menschen gleich¬ müßig arbeitet, verhalten sie sich bei Schlösser von den Wirkungen auf die Ursachen verschieden. Ich kann mir das Denken weder aus der materiellen Bewegung entstanden noch als ein unbewußtes vorstellen; andre können beides; darum kommen sie ohne einen persönlichen Gott aus, ich nicht. Die Frage, ob es einen Beweis für das Dasein Gottes gebe, beantworte ich also zwar mit ja, aber mit der Einschränkung, daß er nur subjektive Geltung habe. Daß er theoretischer Art ist, unterscheidet ihn von dem Beweise Kants, dem von seinem Urheber jedenfalls nur subjektive Geltung zugeschrieben wird, dem man aber, weil er ausschließlich praktischen Erwägungen entnommen ist, noch außerdem den Vorwurf machen kann, er laufe auf den Satz hinaus: es giebt zwar keinen Gott, aber es ist nützlich, sich einen vorzulügen. Und der Theist hat noch den Vorteil, von dem großen Problem der Erkenntnistheorie, mit dem sich auch Nietzsche zeitlebens herumgeschlagen hat, nicht bis zum Wahn¬ sinn gepeinigt zu werden. Die Erkenntnistheorie lehrt uns, daß die Eigen¬ schaften der Dinge nicht an diesen haften, sondern nur unsre Vorstellungen sind, sodaß, nachdem Kant auch noch die Ausdehnung, die seine englischen Vorgänger noch stehen gelassen hatten, in unser Inneres verlegt hatte, von den Dingen gar nichts mehr übrig geblieben ist. Andrerseits lehrt uns die Erfahrung, daß, auf unsrer Erde wenigstens, kein Vorstellen und Denken vor¬ kommt ohne ein Gehirn, das nach dem eben erwähnten Denkergebnisfe selbst nur eine Vorstellung unsrer Seele sein soll. Ist nicht dieser Zirkel allein schon imstande, den Philosophen ins Tollhaus zu bringen? Wenn sich nun ein Atheist, wie Nietzsche in seinen letzten Jahren gethan hat, zum naiven Realismus des Volkes zurückrettet, an der derben Wirklichkeit der körperlichen Dinge festhält und sich die Grübeleien aus dem Sinne schlägt, so bedeutet das die Verzichtleistung auf das Denken, auf das Dasein des eigent¬ lichen, des höhern Menschen, dem derselbe Nietzsche gerade in diesen letzten Jahren zustrebte; damit lebt aber der seelenzerreißende Zwiespalt in einer andern Form wieder auf. Der Theist dagegen kann sich durch folgende Be¬ trachtung daraus retten. Es ist vollkommen wahr und richtig, daß der Geist, der bewußte Geist, das einzige wahrhaft Seiende ist, und daß die körperlichen Dinge ohne einen wahrnehmenden Geist nicht vorhanden sein würden. Aber ehe die Menschenseelen, ehe die Tierseelen vorhanden waren, war Gott vor¬ handen, und in dessen bewußtem Geist und Willen hatten die körperlichen Dinge ihr Dasein. Gott wollte, daß Wesen da seien, die gleich ihm sich und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/444>, abgerufen am 23.07.2024.