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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

sein kann; desgleichen entgeht er der Gefahr, durch die Widersprüche philo¬
sophischer Meinungen und durch den philosophischen Nihilismus um die Mög¬
lichkeit des praktischen Wirkens und zuletzt um seinen Verstand gebracht zu
werden.

Von den zahllosen Einwendungen Nietzsches gegen den Gottesgedanken
mögen nur zwei angeführt werden, die sich auf eine.bestimmte Anwendung
dieses Gedankens, auf den Glauben an Gottes Allgegenwart und Vorsehung,
beziehen. Er führt einmal, offenbar beistimmend, die Bemerkung eines kleinen
Mädchens an, sie finde es sehr unanständig von Gott, daß er "überall dabei
sei," und VIII, 291 schreibt er selbst: "Mit einem noch so kleinen Maße von
Frömmigkeit im Leibe sollte uns ein Gott, der zu rechter Zeit vom Schnupfen
kurirt, oder der uns in einem Augenblick in die Kutsche steigen heißt, wo
gerade ein großer Regen losbricht, ein so absurder Gott sein, daß man ihn
abschaffen müßte, selbst wenn er existirte! Ein Gott als Dienstbote, als
Briefträger, als Kalendermann. . .!" Dem Christentum rechnet es Nietzsche
als Verbrechen an, daß es das Natürliche am Menschen zur Sünde stempele
und beschimpfe, und hier findet er es selbst unanständig, daß Gott dem Natür¬
lichen, das er geschaffen hat, nicht fern bleibe! Das bekundet nicht philo¬
sophischen Geist, sondern leidenschaftliche Boreingenommenheit. Und wie un¬
wissenschaftlich, das Eingreifen der göttlichen Vorsehung in die Menschen¬
schicksale als Dienstbotenverrichtungen verächtlich zu machen. Warum nicht
Mutterdienste? Thut nicht eine Mutter so manches Widerwärtige, was der
Dienstbote nicht für Geld thun mag, und ist sie darum verächtlich? Für den
Mann der Wissenschaft giebt es im Natürlichen überhaupt nichts verächtliches
und unanständiges. Wenn Gott durch die wunderbarsten Fortpflanzungs¬
einrichtungen dafür sorgt, daß die Wasserflöhe einer Pfütze nicht aussterben,
sondern die Zeiten der Trockenheit überdauern, so bewundern wir seine uner¬
gründliche Schöpferkuust; warum sollte es seiner unwürdig sein, einen Mann,
den er zu einem Werkzeug für gewisse Zwecke ausersehen hat, und der doch
auch ohne dies mehr wert ist als alle Wasserflöhe der Erde zusammengenommen,
einen solchen Mann von einem Schnupfen zu heilen, der in eine tödliche
Krankheit umschlagen könnte?

Als achtzehnjähriger hat Nietzsche einmal (V. I, 318) die Worte nieder¬
geschrieben: "Innerhalb ^gewisser^ Grenzen W die Willensfreiheit^ unbeschränkt.
Etwas andres ist es, den Willen ins Werk zu setzen; das Vermögen hiezu ist
uns fatalistisch zugemessen. Indem das Fatum dem Menschen im Spiegel
seiner eignen Persönlichkeit erscheint, sind individuelle Willensfreiheit und
individuelles Fatum zwei sich gewachsene Gegner. Wir finden, daß die an
ein Fatum glaubenden Völker sich durch Kraft und Willensstärke auszeichnen,
daß hingegen Frauen und Männer, die nach verkehrt aufgefaßten christlichen
Sätzen die Dinge gehen lassen, wie sie gehen, da "Gott alles gut gemacht


Friedrich Nietzsche

sein kann; desgleichen entgeht er der Gefahr, durch die Widersprüche philo¬
sophischer Meinungen und durch den philosophischen Nihilismus um die Mög¬
lichkeit des praktischen Wirkens und zuletzt um seinen Verstand gebracht zu
werden.

Von den zahllosen Einwendungen Nietzsches gegen den Gottesgedanken
mögen nur zwei angeführt werden, die sich auf eine.bestimmte Anwendung
dieses Gedankens, auf den Glauben an Gottes Allgegenwart und Vorsehung,
beziehen. Er führt einmal, offenbar beistimmend, die Bemerkung eines kleinen
Mädchens an, sie finde es sehr unanständig von Gott, daß er „überall dabei
sei," und VIII, 291 schreibt er selbst: „Mit einem noch so kleinen Maße von
Frömmigkeit im Leibe sollte uns ein Gott, der zu rechter Zeit vom Schnupfen
kurirt, oder der uns in einem Augenblick in die Kutsche steigen heißt, wo
gerade ein großer Regen losbricht, ein so absurder Gott sein, daß man ihn
abschaffen müßte, selbst wenn er existirte! Ein Gott als Dienstbote, als
Briefträger, als Kalendermann. . .!" Dem Christentum rechnet es Nietzsche
als Verbrechen an, daß es das Natürliche am Menschen zur Sünde stempele
und beschimpfe, und hier findet er es selbst unanständig, daß Gott dem Natür¬
lichen, das er geschaffen hat, nicht fern bleibe! Das bekundet nicht philo¬
sophischen Geist, sondern leidenschaftliche Boreingenommenheit. Und wie un¬
wissenschaftlich, das Eingreifen der göttlichen Vorsehung in die Menschen¬
schicksale als Dienstbotenverrichtungen verächtlich zu machen. Warum nicht
Mutterdienste? Thut nicht eine Mutter so manches Widerwärtige, was der
Dienstbote nicht für Geld thun mag, und ist sie darum verächtlich? Für den
Mann der Wissenschaft giebt es im Natürlichen überhaupt nichts verächtliches
und unanständiges. Wenn Gott durch die wunderbarsten Fortpflanzungs¬
einrichtungen dafür sorgt, daß die Wasserflöhe einer Pfütze nicht aussterben,
sondern die Zeiten der Trockenheit überdauern, so bewundern wir seine uner¬
gründliche Schöpferkuust; warum sollte es seiner unwürdig sein, einen Mann,
den er zu einem Werkzeug für gewisse Zwecke ausersehen hat, und der doch
auch ohne dies mehr wert ist als alle Wasserflöhe der Erde zusammengenommen,
einen solchen Mann von einem Schnupfen zu heilen, der in eine tödliche
Krankheit umschlagen könnte?

Als achtzehnjähriger hat Nietzsche einmal (V. I, 318) die Worte nieder¬
geschrieben: „Innerhalb ^gewisser^ Grenzen W die Willensfreiheit^ unbeschränkt.
Etwas andres ist es, den Willen ins Werk zu setzen; das Vermögen hiezu ist
uns fatalistisch zugemessen. Indem das Fatum dem Menschen im Spiegel
seiner eignen Persönlichkeit erscheint, sind individuelle Willensfreiheit und
individuelles Fatum zwei sich gewachsene Gegner. Wir finden, daß die an
ein Fatum glaubenden Völker sich durch Kraft und Willensstärke auszeichnen,
daß hingegen Frauen und Männer, die nach verkehrt aufgefaßten christlichen
Sätzen die Dinge gehen lassen, wie sie gehen, da »Gott alles gut gemacht


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[0446] Friedrich Nietzsche sein kann; desgleichen entgeht er der Gefahr, durch die Widersprüche philo¬ sophischer Meinungen und durch den philosophischen Nihilismus um die Mög¬ lichkeit des praktischen Wirkens und zuletzt um seinen Verstand gebracht zu werden. Von den zahllosen Einwendungen Nietzsches gegen den Gottesgedanken mögen nur zwei angeführt werden, die sich auf eine.bestimmte Anwendung dieses Gedankens, auf den Glauben an Gottes Allgegenwart und Vorsehung, beziehen. Er führt einmal, offenbar beistimmend, die Bemerkung eines kleinen Mädchens an, sie finde es sehr unanständig von Gott, daß er „überall dabei sei," und VIII, 291 schreibt er selbst: „Mit einem noch so kleinen Maße von Frömmigkeit im Leibe sollte uns ein Gott, der zu rechter Zeit vom Schnupfen kurirt, oder der uns in einem Augenblick in die Kutsche steigen heißt, wo gerade ein großer Regen losbricht, ein so absurder Gott sein, daß man ihn abschaffen müßte, selbst wenn er existirte! Ein Gott als Dienstbote, als Briefträger, als Kalendermann. . .!" Dem Christentum rechnet es Nietzsche als Verbrechen an, daß es das Natürliche am Menschen zur Sünde stempele und beschimpfe, und hier findet er es selbst unanständig, daß Gott dem Natür¬ lichen, das er geschaffen hat, nicht fern bleibe! Das bekundet nicht philo¬ sophischen Geist, sondern leidenschaftliche Boreingenommenheit. Und wie un¬ wissenschaftlich, das Eingreifen der göttlichen Vorsehung in die Menschen¬ schicksale als Dienstbotenverrichtungen verächtlich zu machen. Warum nicht Mutterdienste? Thut nicht eine Mutter so manches Widerwärtige, was der Dienstbote nicht für Geld thun mag, und ist sie darum verächtlich? Für den Mann der Wissenschaft giebt es im Natürlichen überhaupt nichts verächtliches und unanständiges. Wenn Gott durch die wunderbarsten Fortpflanzungs¬ einrichtungen dafür sorgt, daß die Wasserflöhe einer Pfütze nicht aussterben, sondern die Zeiten der Trockenheit überdauern, so bewundern wir seine uner¬ gründliche Schöpferkuust; warum sollte es seiner unwürdig sein, einen Mann, den er zu einem Werkzeug für gewisse Zwecke ausersehen hat, und der doch auch ohne dies mehr wert ist als alle Wasserflöhe der Erde zusammengenommen, einen solchen Mann von einem Schnupfen zu heilen, der in eine tödliche Krankheit umschlagen könnte? Als achtzehnjähriger hat Nietzsche einmal (V. I, 318) die Worte nieder¬ geschrieben: „Innerhalb ^gewisser^ Grenzen W die Willensfreiheit^ unbeschränkt. Etwas andres ist es, den Willen ins Werk zu setzen; das Vermögen hiezu ist uns fatalistisch zugemessen. Indem das Fatum dem Menschen im Spiegel seiner eignen Persönlichkeit erscheint, sind individuelle Willensfreiheit und individuelles Fatum zwei sich gewachsene Gegner. Wir finden, daß die an ein Fatum glaubenden Völker sich durch Kraft und Willensstärke auszeichnen, daß hingegen Frauen und Männer, die nach verkehrt aufgefaßten christlichen Sätzen die Dinge gehen lassen, wie sie gehen, da »Gott alles gut gemacht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/446>, abgerufen am 23.07.2024.