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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Manchesterlehre und Christentum

soll, die selbstherrlich und ausschließend über das innere wie über das äußere
Leben des Menschen gebietet, nichts ist, als eine ziemlich fadenscheinige Ab¬
straktion.

Aus welcher Gedankensphäre stammt die Vorstellung vom Egoismus als
einer Willenspotenz, die bei allen Menschen gleich und in dem Einzelnen das
ganze Leben hindurch unveränderlich sein soll? Wo hat die Abstraktion einer
rein auf materiellen Vorteil bedachten Selbstsucht, in der sich der ganze Inhalt
des individuellen Wollens erschöpfen würde, ihren Ursprung genommen? In
Manchester hat die Lehre vom abstrakten Jndividualegoismus als dem das
gesamte Wirtschaftsleben souverän beherrschenden Prinzip im Laufe unsers
Jahrhunderts eine besonders charakteristische Ausprägung und Anwendung
gefunden; der Grundgedanke dieser Lehre taucht aber zuerst auf am Ausgang
der Religionskriege auf den Kondoren von Rotterdam und London. Es ist
die von allen Traditionen der Religion und des Staatslebens abgelöste Kauf¬
mannsmoral, die in der Gleichheit des individuellen Egoismus das Prinzip
gefunden zu haben glaubte, woraus sich alle Erscheinungen des in ihren Ge¬
sichtskreis fallenden Ausschnittes des gesellschaftlichen Lebens erklären und die
für den Kreis des Erwerbslebens gemeingiltigen Gesetze des Erlaubten und
Gerechten herleiten ließen.

Wenn der Kaufmann als solcher seinem Mitmenschen näher tritt, so ge¬
schieht es, um mit ihm ein Tauschgeschäft zu machen. In dem Augenblick,
wo das Geschäft zu stände kommt, ist er sich in seinem Innersten bewußt,
ganz legitim zu handeln, wenn er, ohne der Wahrheit und Ehrlichkeit etwas
zu vergeben, daraus bedacht ist, den größtmöglichen Gewinn daraus zu ziehen.
Eine solche Ruhe des Gewissens ist in der praktischen Natur des Menschen
begründet. Es giebt allerdings zart besaitete, ideal gestimmte Seelen, in denen
sich ein gewisses Etwas gegen jede Handlung dieser Art sträubt, weil sie den
Verdacht gegen sich selbst nicht los zu werden vermögen, sich beim Streben
nach einem Vorteil im Tauschgeschäft zu einem Betrug, wenn auch leisester
Art und nur etwa durch Schweigen begangen, vor sich selber erniedrigt zu
haben. Solche Leute würden aber alle Handelsgeschäfte unmöglich machen,
weswegen es ganz berechtigt ist, sie von der Feststellung der moralischen und
Rechtsregeln für den Geschäftsverkehr auszuschließen.

Insoweit als der einzelne Tauschvertrag in Betracht kommt, mag also der
Satz, daß, mit dem Vorbehalt der Vermeidung des Betrugs, das vernunft¬
mäßige, intelligente Streben nach persönlichem Vorteil und die kluge Wahr¬
nehmung des egoistischen Interesses die innere Berechtigung des Vertrags
in sich trage, ohne weiteres zugestanden werden. Die gesamte, durch englisch-
holländischen Vorgang hervorgerufne Entwicklung des modernen Verkehrs¬
lebens hat aber dazu beigetragen, daß allmählich alle auf wirtschaftlichem
Grunde ruhenden Beziehungen der Menschen zu einander jenem Moment-


Grenzboten II 18W !>!'.
Manchesterlehre und Christentum

soll, die selbstherrlich und ausschließend über das innere wie über das äußere
Leben des Menschen gebietet, nichts ist, als eine ziemlich fadenscheinige Ab¬
straktion.

Aus welcher Gedankensphäre stammt die Vorstellung vom Egoismus als
einer Willenspotenz, die bei allen Menschen gleich und in dem Einzelnen das
ganze Leben hindurch unveränderlich sein soll? Wo hat die Abstraktion einer
rein auf materiellen Vorteil bedachten Selbstsucht, in der sich der ganze Inhalt
des individuellen Wollens erschöpfen würde, ihren Ursprung genommen? In
Manchester hat die Lehre vom abstrakten Jndividualegoismus als dem das
gesamte Wirtschaftsleben souverän beherrschenden Prinzip im Laufe unsers
Jahrhunderts eine besonders charakteristische Ausprägung und Anwendung
gefunden; der Grundgedanke dieser Lehre taucht aber zuerst auf am Ausgang
der Religionskriege auf den Kondoren von Rotterdam und London. Es ist
die von allen Traditionen der Religion und des Staatslebens abgelöste Kauf¬
mannsmoral, die in der Gleichheit des individuellen Egoismus das Prinzip
gefunden zu haben glaubte, woraus sich alle Erscheinungen des in ihren Ge¬
sichtskreis fallenden Ausschnittes des gesellschaftlichen Lebens erklären und die
für den Kreis des Erwerbslebens gemeingiltigen Gesetze des Erlaubten und
Gerechten herleiten ließen.

Wenn der Kaufmann als solcher seinem Mitmenschen näher tritt, so ge¬
schieht es, um mit ihm ein Tauschgeschäft zu machen. In dem Augenblick,
wo das Geschäft zu stände kommt, ist er sich in seinem Innersten bewußt,
ganz legitim zu handeln, wenn er, ohne der Wahrheit und Ehrlichkeit etwas
zu vergeben, daraus bedacht ist, den größtmöglichen Gewinn daraus zu ziehen.
Eine solche Ruhe des Gewissens ist in der praktischen Natur des Menschen
begründet. Es giebt allerdings zart besaitete, ideal gestimmte Seelen, in denen
sich ein gewisses Etwas gegen jede Handlung dieser Art sträubt, weil sie den
Verdacht gegen sich selbst nicht los zu werden vermögen, sich beim Streben
nach einem Vorteil im Tauschgeschäft zu einem Betrug, wenn auch leisester
Art und nur etwa durch Schweigen begangen, vor sich selber erniedrigt zu
haben. Solche Leute würden aber alle Handelsgeschäfte unmöglich machen,
weswegen es ganz berechtigt ist, sie von der Feststellung der moralischen und
Rechtsregeln für den Geschäftsverkehr auszuschließen.

Insoweit als der einzelne Tauschvertrag in Betracht kommt, mag also der
Satz, daß, mit dem Vorbehalt der Vermeidung des Betrugs, das vernunft¬
mäßige, intelligente Streben nach persönlichem Vorteil und die kluge Wahr¬
nehmung des egoistischen Interesses die innere Berechtigung des Vertrags
in sich trage, ohne weiteres zugestanden werden. Die gesamte, durch englisch-
holländischen Vorgang hervorgerufne Entwicklung des modernen Verkehrs¬
lebens hat aber dazu beigetragen, daß allmählich alle auf wirtschaftlichem
Grunde ruhenden Beziehungen der Menschen zu einander jenem Moment-


Grenzboten II 18W !>!'.
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[0425] Manchesterlehre und Christentum soll, die selbstherrlich und ausschließend über das innere wie über das äußere Leben des Menschen gebietet, nichts ist, als eine ziemlich fadenscheinige Ab¬ straktion. Aus welcher Gedankensphäre stammt die Vorstellung vom Egoismus als einer Willenspotenz, die bei allen Menschen gleich und in dem Einzelnen das ganze Leben hindurch unveränderlich sein soll? Wo hat die Abstraktion einer rein auf materiellen Vorteil bedachten Selbstsucht, in der sich der ganze Inhalt des individuellen Wollens erschöpfen würde, ihren Ursprung genommen? In Manchester hat die Lehre vom abstrakten Jndividualegoismus als dem das gesamte Wirtschaftsleben souverän beherrschenden Prinzip im Laufe unsers Jahrhunderts eine besonders charakteristische Ausprägung und Anwendung gefunden; der Grundgedanke dieser Lehre taucht aber zuerst auf am Ausgang der Religionskriege auf den Kondoren von Rotterdam und London. Es ist die von allen Traditionen der Religion und des Staatslebens abgelöste Kauf¬ mannsmoral, die in der Gleichheit des individuellen Egoismus das Prinzip gefunden zu haben glaubte, woraus sich alle Erscheinungen des in ihren Ge¬ sichtskreis fallenden Ausschnittes des gesellschaftlichen Lebens erklären und die für den Kreis des Erwerbslebens gemeingiltigen Gesetze des Erlaubten und Gerechten herleiten ließen. Wenn der Kaufmann als solcher seinem Mitmenschen näher tritt, so ge¬ schieht es, um mit ihm ein Tauschgeschäft zu machen. In dem Augenblick, wo das Geschäft zu stände kommt, ist er sich in seinem Innersten bewußt, ganz legitim zu handeln, wenn er, ohne der Wahrheit und Ehrlichkeit etwas zu vergeben, daraus bedacht ist, den größtmöglichen Gewinn daraus zu ziehen. Eine solche Ruhe des Gewissens ist in der praktischen Natur des Menschen begründet. Es giebt allerdings zart besaitete, ideal gestimmte Seelen, in denen sich ein gewisses Etwas gegen jede Handlung dieser Art sträubt, weil sie den Verdacht gegen sich selbst nicht los zu werden vermögen, sich beim Streben nach einem Vorteil im Tauschgeschäft zu einem Betrug, wenn auch leisester Art und nur etwa durch Schweigen begangen, vor sich selber erniedrigt zu haben. Solche Leute würden aber alle Handelsgeschäfte unmöglich machen, weswegen es ganz berechtigt ist, sie von der Feststellung der moralischen und Rechtsregeln für den Geschäftsverkehr auszuschließen. Insoweit als der einzelne Tauschvertrag in Betracht kommt, mag also der Satz, daß, mit dem Vorbehalt der Vermeidung des Betrugs, das vernunft¬ mäßige, intelligente Streben nach persönlichem Vorteil und die kluge Wahr¬ nehmung des egoistischen Interesses die innere Berechtigung des Vertrags in sich trage, ohne weiteres zugestanden werden. Die gesamte, durch englisch- holländischen Vorgang hervorgerufne Entwicklung des modernen Verkehrs¬ lebens hat aber dazu beigetragen, daß allmählich alle auf wirtschaftlichem Grunde ruhenden Beziehungen der Menschen zu einander jenem Moment- Grenzboten II 18W !>!'.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/425>, abgerufen am 23.07.2024.