Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Manchesterlehre und Christentum

nahm es vor zweitausend Jahren, eine Wiedergeburt des innern Menschen
herbeizuführen und so der Menschheit den Weg zu weisen, der sie zur Er¬
lösung von ihrem Elend und zu vollkommnem Glück führen sollte. Aber nach
aller Meinung, sagt der manchesterliche Professor, verweilt noch heutigestags
die Welt in derselben Lage der Verdammnis und des irdischen Elends. Warum
ändert sich die Welt nicht? Sie kann sich nicht andern, weil der Kern des
Menschen immer derselbe bleibt -- ein nackter, unzerstörbarer, unveränderlicher
Egoismus. Vor einem Jahrhundert wollte die französische Revolution durch
eine gruudstürzende Änderung der äußern, der objektiven Lebensordnung ein
freieres, edleres, beglückteres Menschendasein herstellen. Die Menschenrechte
wurden verkündet als unveräußerliches, niemals verjährendes Erbteil aller
Völker. Was war die Folge? Die großen Kulturvölker Europas, meint
Professor Reinhold, "sind in der innern Struktur der Gesellschaft, in der
organischen Gestaltung ihrer Rechts- und Eigentumsordnung nicht von der
Stelle gerückt. Sie haben vollauf mit dem drängenden Leben zu thun, und
ihre praktischen Gedanken sind andern Zielen zugewendet, als dem sozialen
Frieden auf Erden."

So wäre es denn nichts mit der Lehre, daß das Christentum zur Be¬
glückung der Menschheit beitragen könnte; es ist auch nichts mit der Re¬
volution; denn weder durch die Religion noch durch politische und soziale
Reformen wird an dem Wesen des Menschen irgend etwas geändert, und solange
das Wesen des Menschen dasselbe bleibt -- nackter Egoismus, so lange wird sich
auch an der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen, namentlich der
armen und schwachen, im wesentlichen nichts ändern. Darum gebt allen
Glauben an ein Besserwerden auf, verzichtet auf alles Streben nach Ver¬
änderungen, die euch eine bessere Lebenslage sichern sollen, lAsomw oZni sxg-
rÄn^g., laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr in diese wirtschaftende Welt
eintretet, die nun einmal unter dem despotischen Szepter des naturgesetzlicher
Egoismus steht!

Es läge nahe, an der Hand unbestreitbarer Thatsachen solchen Deutungen
der Weltgeschichte zu widersprechen und darzuthun, daß wirklich durch das
Christentum sowohl wie durch die französische Revolution die Volksmassen auf
eine höhere Stufe der Sittlichkeit und auch der äußern Wohlfahrt gehoben
worden sind. Da wir aber nicht dem optimistischen Glauben huldigen, daß es
einen Fortschritt der Menschheit geben könnte, der nicht zugleich einen Verlust
und Rückschritt bedeutet, so vermöchte" wir uns nicht zu schmeicheln, eine der¬
artige historische Kontroverse innerhalb eines knappen Raumes zu einem ab¬
schließenden Ergebnis zu führen. Wir müssen daher, um die Nichtigkeit eines
Trugschlusses darzuthun, der allem Aufstreben, allem Glauben und Hoffen der
Menschheit ein Ziel setzen würde, dem Prinzip der Manchesterdoktrin selbst zu
Leibe gehen und nachweisen, wie jener Egoismus, der eine Macht vorstellen


Manchesterlehre und Christentum

nahm es vor zweitausend Jahren, eine Wiedergeburt des innern Menschen
herbeizuführen und so der Menschheit den Weg zu weisen, der sie zur Er¬
lösung von ihrem Elend und zu vollkommnem Glück führen sollte. Aber nach
aller Meinung, sagt der manchesterliche Professor, verweilt noch heutigestags
die Welt in derselben Lage der Verdammnis und des irdischen Elends. Warum
ändert sich die Welt nicht? Sie kann sich nicht andern, weil der Kern des
Menschen immer derselbe bleibt — ein nackter, unzerstörbarer, unveränderlicher
Egoismus. Vor einem Jahrhundert wollte die französische Revolution durch
eine gruudstürzende Änderung der äußern, der objektiven Lebensordnung ein
freieres, edleres, beglückteres Menschendasein herstellen. Die Menschenrechte
wurden verkündet als unveräußerliches, niemals verjährendes Erbteil aller
Völker. Was war die Folge? Die großen Kulturvölker Europas, meint
Professor Reinhold, „sind in der innern Struktur der Gesellschaft, in der
organischen Gestaltung ihrer Rechts- und Eigentumsordnung nicht von der
Stelle gerückt. Sie haben vollauf mit dem drängenden Leben zu thun, und
ihre praktischen Gedanken sind andern Zielen zugewendet, als dem sozialen
Frieden auf Erden."

So wäre es denn nichts mit der Lehre, daß das Christentum zur Be¬
glückung der Menschheit beitragen könnte; es ist auch nichts mit der Re¬
volution; denn weder durch die Religion noch durch politische und soziale
Reformen wird an dem Wesen des Menschen irgend etwas geändert, und solange
das Wesen des Menschen dasselbe bleibt — nackter Egoismus, so lange wird sich
auch an der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen, namentlich der
armen und schwachen, im wesentlichen nichts ändern. Darum gebt allen
Glauben an ein Besserwerden auf, verzichtet auf alles Streben nach Ver¬
änderungen, die euch eine bessere Lebenslage sichern sollen, lAsomw oZni sxg-
rÄn^g., laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr in diese wirtschaftende Welt
eintretet, die nun einmal unter dem despotischen Szepter des naturgesetzlicher
Egoismus steht!

Es läge nahe, an der Hand unbestreitbarer Thatsachen solchen Deutungen
der Weltgeschichte zu widersprechen und darzuthun, daß wirklich durch das
Christentum sowohl wie durch die französische Revolution die Volksmassen auf
eine höhere Stufe der Sittlichkeit und auch der äußern Wohlfahrt gehoben
worden sind. Da wir aber nicht dem optimistischen Glauben huldigen, daß es
einen Fortschritt der Menschheit geben könnte, der nicht zugleich einen Verlust
und Rückschritt bedeutet, so vermöchte» wir uns nicht zu schmeicheln, eine der¬
artige historische Kontroverse innerhalb eines knappen Raumes zu einem ab¬
schließenden Ergebnis zu führen. Wir müssen daher, um die Nichtigkeit eines
Trugschlusses darzuthun, der allem Aufstreben, allem Glauben und Hoffen der
Menschheit ein Ziel setzen würde, dem Prinzip der Manchesterdoktrin selbst zu
Leibe gehen und nachweisen, wie jener Egoismus, der eine Macht vorstellen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0424" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228060"/>
          <fw type="header" place="top"> Manchesterlehre und Christentum</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1164" prev="#ID_1163"> nahm es vor zweitausend Jahren, eine Wiedergeburt des innern Menschen<lb/>
herbeizuführen und so der Menschheit den Weg zu weisen, der sie zur Er¬<lb/>
lösung von ihrem Elend und zu vollkommnem Glück führen sollte. Aber nach<lb/>
aller Meinung, sagt der manchesterliche Professor, verweilt noch heutigestags<lb/>
die Welt in derselben Lage der Verdammnis und des irdischen Elends. Warum<lb/>
ändert sich die Welt nicht? Sie kann sich nicht andern, weil der Kern des<lb/>
Menschen immer derselbe bleibt &#x2014; ein nackter, unzerstörbarer, unveränderlicher<lb/>
Egoismus. Vor einem Jahrhundert wollte die französische Revolution durch<lb/>
eine gruudstürzende Änderung der äußern, der objektiven Lebensordnung ein<lb/>
freieres, edleres, beglückteres Menschendasein herstellen. Die Menschenrechte<lb/>
wurden verkündet als unveräußerliches, niemals verjährendes Erbteil aller<lb/>
Völker. Was war die Folge? Die großen Kulturvölker Europas, meint<lb/>
Professor Reinhold, &#x201E;sind in der innern Struktur der Gesellschaft, in der<lb/>
organischen Gestaltung ihrer Rechts- und Eigentumsordnung nicht von der<lb/>
Stelle gerückt. Sie haben vollauf mit dem drängenden Leben zu thun, und<lb/>
ihre praktischen Gedanken sind andern Zielen zugewendet, als dem sozialen<lb/>
Frieden auf Erden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1165"> So wäre es denn nichts mit der Lehre, daß das Christentum zur Be¬<lb/>
glückung der Menschheit beitragen könnte; es ist auch nichts mit der Re¬<lb/>
volution; denn weder durch die Religion noch durch politische und soziale<lb/>
Reformen wird an dem Wesen des Menschen irgend etwas geändert, und solange<lb/>
das Wesen des Menschen dasselbe bleibt &#x2014; nackter Egoismus, so lange wird sich<lb/>
auch an der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen, namentlich der<lb/>
armen und schwachen, im wesentlichen nichts ändern. Darum gebt allen<lb/>
Glauben an ein Besserwerden auf, verzichtet auf alles Streben nach Ver¬<lb/>
änderungen, die euch eine bessere Lebenslage sichern sollen, lAsomw oZni sxg-<lb/>
rÄn^g., laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr in diese wirtschaftende Welt<lb/>
eintretet, die nun einmal unter dem despotischen Szepter des naturgesetzlicher<lb/>
Egoismus steht!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1166" next="#ID_1167"> Es läge nahe, an der Hand unbestreitbarer Thatsachen solchen Deutungen<lb/>
der Weltgeschichte zu widersprechen und darzuthun, daß wirklich durch das<lb/>
Christentum sowohl wie durch die französische Revolution die Volksmassen auf<lb/>
eine höhere Stufe der Sittlichkeit und auch der äußern Wohlfahrt gehoben<lb/>
worden sind. Da wir aber nicht dem optimistischen Glauben huldigen, daß es<lb/>
einen Fortschritt der Menschheit geben könnte, der nicht zugleich einen Verlust<lb/>
und Rückschritt bedeutet, so vermöchte» wir uns nicht zu schmeicheln, eine der¬<lb/>
artige historische Kontroverse innerhalb eines knappen Raumes zu einem ab¬<lb/>
schließenden Ergebnis zu führen. Wir müssen daher, um die Nichtigkeit eines<lb/>
Trugschlusses darzuthun, der allem Aufstreben, allem Glauben und Hoffen der<lb/>
Menschheit ein Ziel setzen würde, dem Prinzip der Manchesterdoktrin selbst zu<lb/>
Leibe gehen und nachweisen, wie jener Egoismus, der eine Macht vorstellen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0424] Manchesterlehre und Christentum nahm es vor zweitausend Jahren, eine Wiedergeburt des innern Menschen herbeizuführen und so der Menschheit den Weg zu weisen, der sie zur Er¬ lösung von ihrem Elend und zu vollkommnem Glück führen sollte. Aber nach aller Meinung, sagt der manchesterliche Professor, verweilt noch heutigestags die Welt in derselben Lage der Verdammnis und des irdischen Elends. Warum ändert sich die Welt nicht? Sie kann sich nicht andern, weil der Kern des Menschen immer derselbe bleibt — ein nackter, unzerstörbarer, unveränderlicher Egoismus. Vor einem Jahrhundert wollte die französische Revolution durch eine gruudstürzende Änderung der äußern, der objektiven Lebensordnung ein freieres, edleres, beglückteres Menschendasein herstellen. Die Menschenrechte wurden verkündet als unveräußerliches, niemals verjährendes Erbteil aller Völker. Was war die Folge? Die großen Kulturvölker Europas, meint Professor Reinhold, „sind in der innern Struktur der Gesellschaft, in der organischen Gestaltung ihrer Rechts- und Eigentumsordnung nicht von der Stelle gerückt. Sie haben vollauf mit dem drängenden Leben zu thun, und ihre praktischen Gedanken sind andern Zielen zugewendet, als dem sozialen Frieden auf Erden." So wäre es denn nichts mit der Lehre, daß das Christentum zur Be¬ glückung der Menschheit beitragen könnte; es ist auch nichts mit der Re¬ volution; denn weder durch die Religion noch durch politische und soziale Reformen wird an dem Wesen des Menschen irgend etwas geändert, und solange das Wesen des Menschen dasselbe bleibt — nackter Egoismus, so lange wird sich auch an der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen, namentlich der armen und schwachen, im wesentlichen nichts ändern. Darum gebt allen Glauben an ein Besserwerden auf, verzichtet auf alles Streben nach Ver¬ änderungen, die euch eine bessere Lebenslage sichern sollen, lAsomw oZni sxg- rÄn^g., laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr in diese wirtschaftende Welt eintretet, die nun einmal unter dem despotischen Szepter des naturgesetzlicher Egoismus steht! Es läge nahe, an der Hand unbestreitbarer Thatsachen solchen Deutungen der Weltgeschichte zu widersprechen und darzuthun, daß wirklich durch das Christentum sowohl wie durch die französische Revolution die Volksmassen auf eine höhere Stufe der Sittlichkeit und auch der äußern Wohlfahrt gehoben worden sind. Da wir aber nicht dem optimistischen Glauben huldigen, daß es einen Fortschritt der Menschheit geben könnte, der nicht zugleich einen Verlust und Rückschritt bedeutet, so vermöchte» wir uns nicht zu schmeicheln, eine der¬ artige historische Kontroverse innerhalb eines knappen Raumes zu einem ab¬ schließenden Ergebnis zu führen. Wir müssen daher, um die Nichtigkeit eines Trugschlusses darzuthun, der allem Aufstreben, allem Glauben und Hoffen der Menschheit ein Ziel setzen würde, dem Prinzip der Manchesterdoktrin selbst zu Leibe gehen und nachweisen, wie jener Egoismus, der eine Macht vorstellen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/424
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/424>, abgerufen am 23.07.2024.