Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Manchesterlehre und (Lhristentum

geschaft des Kaufmanns gleichgestellt wurden. So erschien denn der reine
Egoismus in letzter Instanz als das treibende Motiv aller im wirtschaft¬
lichen Leben wurzelnden Handlungen und damit als die souveräne Macht, die
die gesellschaftliche Entwicklung ausschließlich beherrschte. Mit dieser Zurück-
führung des egoistischen Prinzips aus seinen Ursprung ist aber eben der
Nachweis geliefert, daß wir es hier mit einer Abstraktion zu thun haben, die
in einseitiger Weise aus den Eigenschaften des Menschen eine einzige/ besonders
bedeutsame herausgriff und die übrigen bei jeder Handlung, wenn auch vielleicht
in sehr geringem Maße, unbeteiligten Seelenkräfte zurückstellte. Eine solche
Einseitigkeit entsprach aber dem Bedürfnis der Zeit. Die rücksichtslose Ent¬
fesselung des Einzelwillens löste Energien aus, deren der Kulturfortschritt
der europäischen Menschheit nicht entraten konnte.

Durch das Innewerden der Kraft, die von einer Idee geweckt wird, er¬
zeugt sich der Glaube. Je stärker ein Glaube ist, desto mehr hat er die
Neigung, einen andern Glauben, dessen Wirkung er als Hemmnis empfindet,
beiseite zu drängen, dagegen sich das Vertrauen auf Ideen anzueignen, die
sich seinem Streben förderlich erweisen. Es wurde so zum allgemein ange¬
nommenen Kennzeichen des modernen Menschen, Kulturfortschritt und all¬
gemeine Wohlfahrt von der vereinigten Energie des auf wirtschaftliche Thätigkeit
gerichteten Einzelwillens und der im Interesse des "Egoismus" fessellos
waltenden Einzelvernnnft zu erwarten.

Daß sich in der Entfaltung dieser Einseitigkeit eine unaufhaltsame historische
Notwendigkeit vollzog, geht klar und deutlich daraus hervor, daß alle lebens¬
kräftigen Völker Europas, mochten ihre kirchlichen und staatlichen Einrichtungen
und Überlieferungen sein, welche sie wollten, der Reihe nach von dem mit
jener liberalistisch-Militärischen Lebensauffassung in engster Wechselbeziehung
stehenden Fieber des Jndustrialismus ergriffen worden sind. Wenn sich nun in
allen diesen Ländern, obschon nicht überall in gleicher Stärke, als Folge der
wirtschaftlichen Entwicklung und der sie begleitenden Ausgestaltung der sitt¬
lichen und Rechtsanschauungen, übereinstimmend auch dieselben sozialen Mi߬
stände und Gefahren einstellen, so kann kaum ein Zweifel darüber bestehen,
daß in dein gemeinsamen Prinzip, von dem sich die an die allbeglückende
Macht des Liberalismus Glaubenden bei ihren sich auf das wirtschaftliche
Leben beziehenden Handlungen leiten lind bestimmen ließen, ein grober Fehler
mit unterlaufen muß. Dieser Fehler besteht, wie sich bei näherer Prüfung
unzweifelhaft herausstellt, eben in der irrigen Annahme, daß man an dem ab¬
strakten Begriff Egoismus eine konkrete Grundlage für das Gleichmaß sozialer
Gerechtigkeit habe. Man könnte, zwar immer noch mit Vorbehalt, eine der¬
artige Annahme etwa zulassen, wenn die Erfahrung irgendwo einen durchaus
in sich abgeschlossenen, nach Inhalt und Stärkegrad bei allen gleichen Willen,
also einen thatsächlich gleichen Egoismus aufweisen würde. Ein solcher


Manchesterlehre und (Lhristentum

geschaft des Kaufmanns gleichgestellt wurden. So erschien denn der reine
Egoismus in letzter Instanz als das treibende Motiv aller im wirtschaft¬
lichen Leben wurzelnden Handlungen und damit als die souveräne Macht, die
die gesellschaftliche Entwicklung ausschließlich beherrschte. Mit dieser Zurück-
führung des egoistischen Prinzips aus seinen Ursprung ist aber eben der
Nachweis geliefert, daß wir es hier mit einer Abstraktion zu thun haben, die
in einseitiger Weise aus den Eigenschaften des Menschen eine einzige/ besonders
bedeutsame herausgriff und die übrigen bei jeder Handlung, wenn auch vielleicht
in sehr geringem Maße, unbeteiligten Seelenkräfte zurückstellte. Eine solche
Einseitigkeit entsprach aber dem Bedürfnis der Zeit. Die rücksichtslose Ent¬
fesselung des Einzelwillens löste Energien aus, deren der Kulturfortschritt
der europäischen Menschheit nicht entraten konnte.

Durch das Innewerden der Kraft, die von einer Idee geweckt wird, er¬
zeugt sich der Glaube. Je stärker ein Glaube ist, desto mehr hat er die
Neigung, einen andern Glauben, dessen Wirkung er als Hemmnis empfindet,
beiseite zu drängen, dagegen sich das Vertrauen auf Ideen anzueignen, die
sich seinem Streben förderlich erweisen. Es wurde so zum allgemein ange¬
nommenen Kennzeichen des modernen Menschen, Kulturfortschritt und all¬
gemeine Wohlfahrt von der vereinigten Energie des auf wirtschaftliche Thätigkeit
gerichteten Einzelwillens und der im Interesse des „Egoismus" fessellos
waltenden Einzelvernnnft zu erwarten.

Daß sich in der Entfaltung dieser Einseitigkeit eine unaufhaltsame historische
Notwendigkeit vollzog, geht klar und deutlich daraus hervor, daß alle lebens¬
kräftigen Völker Europas, mochten ihre kirchlichen und staatlichen Einrichtungen
und Überlieferungen sein, welche sie wollten, der Reihe nach von dem mit
jener liberalistisch-Militärischen Lebensauffassung in engster Wechselbeziehung
stehenden Fieber des Jndustrialismus ergriffen worden sind. Wenn sich nun in
allen diesen Ländern, obschon nicht überall in gleicher Stärke, als Folge der
wirtschaftlichen Entwicklung und der sie begleitenden Ausgestaltung der sitt¬
lichen und Rechtsanschauungen, übereinstimmend auch dieselben sozialen Mi߬
stände und Gefahren einstellen, so kann kaum ein Zweifel darüber bestehen,
daß in dein gemeinsamen Prinzip, von dem sich die an die allbeglückende
Macht des Liberalismus Glaubenden bei ihren sich auf das wirtschaftliche
Leben beziehenden Handlungen leiten lind bestimmen ließen, ein grober Fehler
mit unterlaufen muß. Dieser Fehler besteht, wie sich bei näherer Prüfung
unzweifelhaft herausstellt, eben in der irrigen Annahme, daß man an dem ab¬
strakten Begriff Egoismus eine konkrete Grundlage für das Gleichmaß sozialer
Gerechtigkeit habe. Man könnte, zwar immer noch mit Vorbehalt, eine der¬
artige Annahme etwa zulassen, wenn die Erfahrung irgendwo einen durchaus
in sich abgeschlossenen, nach Inhalt und Stärkegrad bei allen gleichen Willen,
also einen thatsächlich gleichen Egoismus aufweisen würde. Ein solcher


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0426" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228062"/>
          <fw type="header" place="top"> Manchesterlehre und (Lhristentum</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1171" prev="#ID_1170"> geschaft des Kaufmanns gleichgestellt wurden. So erschien denn der reine<lb/>
Egoismus in letzter Instanz als das treibende Motiv aller im wirtschaft¬<lb/>
lichen Leben wurzelnden Handlungen und damit als die souveräne Macht, die<lb/>
die gesellschaftliche Entwicklung ausschließlich beherrschte. Mit dieser Zurück-<lb/>
führung des egoistischen Prinzips aus seinen Ursprung ist aber eben der<lb/>
Nachweis geliefert, daß wir es hier mit einer Abstraktion zu thun haben, die<lb/>
in einseitiger Weise aus den Eigenschaften des Menschen eine einzige/ besonders<lb/>
bedeutsame herausgriff und die übrigen bei jeder Handlung, wenn auch vielleicht<lb/>
in sehr geringem Maße, unbeteiligten Seelenkräfte zurückstellte. Eine solche<lb/>
Einseitigkeit entsprach aber dem Bedürfnis der Zeit. Die rücksichtslose Ent¬<lb/>
fesselung des Einzelwillens löste Energien aus, deren der Kulturfortschritt<lb/>
der europäischen Menschheit nicht entraten konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1172"> Durch das Innewerden der Kraft, die von einer Idee geweckt wird, er¬<lb/>
zeugt sich der Glaube. Je stärker ein Glaube ist, desto mehr hat er die<lb/>
Neigung, einen andern Glauben, dessen Wirkung er als Hemmnis empfindet,<lb/>
beiseite zu drängen, dagegen sich das Vertrauen auf Ideen anzueignen, die<lb/>
sich seinem Streben förderlich erweisen. Es wurde so zum allgemein ange¬<lb/>
nommenen Kennzeichen des modernen Menschen, Kulturfortschritt und all¬<lb/>
gemeine Wohlfahrt von der vereinigten Energie des auf wirtschaftliche Thätigkeit<lb/>
gerichteten Einzelwillens und der im Interesse des &#x201E;Egoismus" fessellos<lb/>
waltenden Einzelvernnnft zu erwarten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1173" next="#ID_1174"> Daß sich in der Entfaltung dieser Einseitigkeit eine unaufhaltsame historische<lb/>
Notwendigkeit vollzog, geht klar und deutlich daraus hervor, daß alle lebens¬<lb/>
kräftigen Völker Europas, mochten ihre kirchlichen und staatlichen Einrichtungen<lb/>
und Überlieferungen sein, welche sie wollten, der Reihe nach von dem mit<lb/>
jener liberalistisch-Militärischen Lebensauffassung in engster Wechselbeziehung<lb/>
stehenden Fieber des Jndustrialismus ergriffen worden sind. Wenn sich nun in<lb/>
allen diesen Ländern, obschon nicht überall in gleicher Stärke, als Folge der<lb/>
wirtschaftlichen Entwicklung und der sie begleitenden Ausgestaltung der sitt¬<lb/>
lichen und Rechtsanschauungen, übereinstimmend auch dieselben sozialen Mi߬<lb/>
stände und Gefahren einstellen, so kann kaum ein Zweifel darüber bestehen,<lb/>
daß in dein gemeinsamen Prinzip, von dem sich die an die allbeglückende<lb/>
Macht des Liberalismus Glaubenden bei ihren sich auf das wirtschaftliche<lb/>
Leben beziehenden Handlungen leiten lind bestimmen ließen, ein grober Fehler<lb/>
mit unterlaufen muß. Dieser Fehler besteht, wie sich bei näherer Prüfung<lb/>
unzweifelhaft herausstellt, eben in der irrigen Annahme, daß man an dem ab¬<lb/>
strakten Begriff Egoismus eine konkrete Grundlage für das Gleichmaß sozialer<lb/>
Gerechtigkeit habe. Man könnte, zwar immer noch mit Vorbehalt, eine der¬<lb/>
artige Annahme etwa zulassen, wenn die Erfahrung irgendwo einen durchaus<lb/>
in sich abgeschlossenen, nach Inhalt und Stärkegrad bei allen gleichen Willen,<lb/>
also einen thatsächlich gleichen Egoismus aufweisen würde.  Ein solcher</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0426] Manchesterlehre und (Lhristentum geschaft des Kaufmanns gleichgestellt wurden. So erschien denn der reine Egoismus in letzter Instanz als das treibende Motiv aller im wirtschaft¬ lichen Leben wurzelnden Handlungen und damit als die souveräne Macht, die die gesellschaftliche Entwicklung ausschließlich beherrschte. Mit dieser Zurück- führung des egoistischen Prinzips aus seinen Ursprung ist aber eben der Nachweis geliefert, daß wir es hier mit einer Abstraktion zu thun haben, die in einseitiger Weise aus den Eigenschaften des Menschen eine einzige/ besonders bedeutsame herausgriff und die übrigen bei jeder Handlung, wenn auch vielleicht in sehr geringem Maße, unbeteiligten Seelenkräfte zurückstellte. Eine solche Einseitigkeit entsprach aber dem Bedürfnis der Zeit. Die rücksichtslose Ent¬ fesselung des Einzelwillens löste Energien aus, deren der Kulturfortschritt der europäischen Menschheit nicht entraten konnte. Durch das Innewerden der Kraft, die von einer Idee geweckt wird, er¬ zeugt sich der Glaube. Je stärker ein Glaube ist, desto mehr hat er die Neigung, einen andern Glauben, dessen Wirkung er als Hemmnis empfindet, beiseite zu drängen, dagegen sich das Vertrauen auf Ideen anzueignen, die sich seinem Streben förderlich erweisen. Es wurde so zum allgemein ange¬ nommenen Kennzeichen des modernen Menschen, Kulturfortschritt und all¬ gemeine Wohlfahrt von der vereinigten Energie des auf wirtschaftliche Thätigkeit gerichteten Einzelwillens und der im Interesse des „Egoismus" fessellos waltenden Einzelvernnnft zu erwarten. Daß sich in der Entfaltung dieser Einseitigkeit eine unaufhaltsame historische Notwendigkeit vollzog, geht klar und deutlich daraus hervor, daß alle lebens¬ kräftigen Völker Europas, mochten ihre kirchlichen und staatlichen Einrichtungen und Überlieferungen sein, welche sie wollten, der Reihe nach von dem mit jener liberalistisch-Militärischen Lebensauffassung in engster Wechselbeziehung stehenden Fieber des Jndustrialismus ergriffen worden sind. Wenn sich nun in allen diesen Ländern, obschon nicht überall in gleicher Stärke, als Folge der wirtschaftlichen Entwicklung und der sie begleitenden Ausgestaltung der sitt¬ lichen und Rechtsanschauungen, übereinstimmend auch dieselben sozialen Mi߬ stände und Gefahren einstellen, so kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß in dein gemeinsamen Prinzip, von dem sich die an die allbeglückende Macht des Liberalismus Glaubenden bei ihren sich auf das wirtschaftliche Leben beziehenden Handlungen leiten lind bestimmen ließen, ein grober Fehler mit unterlaufen muß. Dieser Fehler besteht, wie sich bei näherer Prüfung unzweifelhaft herausstellt, eben in der irrigen Annahme, daß man an dem ab¬ strakten Begriff Egoismus eine konkrete Grundlage für das Gleichmaß sozialer Gerechtigkeit habe. Man könnte, zwar immer noch mit Vorbehalt, eine der¬ artige Annahme etwa zulassen, wenn die Erfahrung irgendwo einen durchaus in sich abgeschlossenen, nach Inhalt und Stärkegrad bei allen gleichen Willen, also einen thatsächlich gleichen Egoismus aufweisen würde. Ein solcher

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/426
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/426>, abgerufen am 28.12.2024.