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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane und Novellen

statteten Prachtmenschen, mit herzlicher Freude die Hand reicht. Wieder einmal
hat männliches Heldentum ohne Ansehen der Geburt den Sieg über eine Welt
von Vorurteil gewonnen.

Trotz des etwas phantastischen und, wenn wir uns die Sache recht über¬
legen, zur Zeit noch wenig glaubwürdigen Grundzugs der Handlung hat die
Verfasserin doch in den Einzelschilderungen eine Menge feiner Beobachtungen
offenbart, namentlich in der Schilderung einer Gärtnerfamilie in Berlin 0.,
die jedem Kenner der Verhältnisse die eignen Erinnerungen auffrischen wird.
Es liegt vielleicht in der weiblichen Natur begründet, daß die Anschauung, die
Fähigkeit, schnell erfaßte Eindrücke mit allen für die meisten Beobachter un¬
sichtbaren oder gleichgiltigen Kleinigkeiten zu schildern, und die Kunst, sie an
rechter Stelle zu verwerten, noch in einem Mißverhältnis zu der Kraft steht,
große Handlungen zu erfinden, denen sich die Ornamentik der Detailmalerei
als etwas Beiläufiges und doch Unentbehrliebes angliedert. An diesem Mangel
leidet auch der Roman Sankt Georg von G. von Stokmans (Berlin,
Otto Janke). Die Verfasserin, eine Schlesierin. führt uns in eine der größern
Städte ihres Heimatlandes, in eine, deren mittelalterlicher Charakter sich noch
stolz und ehrfurchtgebietend neben moderner Lebensweise und neben modernen
Landhäusern behauptet hat. Den Titel des Romans hat das Wahrzeichen
einer alten Apotheke gegeben, auf der sich Wohlstand. Reichtum und Ehrbar¬
keit einer ganzen Familie aufgebaut haben, denen plötzlich von allen Seiten
Erschütterung droht. In die alte, verschnörkelte Welt, die nicht bloß durch
die geheiligten Überlieferungen eines Patriziergeschlechts, sondern auch durch
strenge religiöse Überzeugungen und moralische Anschauungen wie durch Eisen-
s-'leer abgeschlossen ist, dringt jugendlicher Frohsinn und jugendlicher Übermut.
Ausgelassene Künstler und Weltkinder rufen Irrungen und Verwirrungen
hervor, die beinahe den Seelenfrieden ehrenfester Menschen zu stören drohen.
Aber die kluge Verfasserin weiß den schnell heraufbeschwvrnen Spuk auch
ebenso schnell wieder zu bannen, und wenn auch hie und da noch eine Wunde
ewe Zeit lang nachblutet, so ist doch soviel Seelenstärke vorhanden, daß der
^ser um endliche Heilung nicht zu bangen braucht. Er wird vielleicht auch
"icht lange mehr an die Menschen zurückdenken, deren seelische Kämpfe für ein
paar Stunden seine Aufmerksamkeit gefesselt haben, länger vielleicht an die
kleine Welt von engen, winkligen Gassen, hochgiebligcn Häusern und halb¬
dunkeln Gotteshäusern, in der diese Kämpfe ausgerungen worden sind.

Immerhin halten sich in dieser Erzählung die phantastische Erfindung in
der wundersamen Führung von Menschenschicksalen und die Beobachtung wirk¬
lichen Lebens noch so die Wage, daß eine erträgliche Unterhaltung für an¬
spruchslose Leser daraus geworden ist. In voller Zügellosigkeit hat dagegen
Fou Ursula Zoege von Manteuffel ihre Phantasie in dem dreibändigen
Roman: Am langen See (Berlin, Otto Janke) hernmgaloppiren lassen. Es


Neue Romane und Novellen

statteten Prachtmenschen, mit herzlicher Freude die Hand reicht. Wieder einmal
hat männliches Heldentum ohne Ansehen der Geburt den Sieg über eine Welt
von Vorurteil gewonnen.

Trotz des etwas phantastischen und, wenn wir uns die Sache recht über¬
legen, zur Zeit noch wenig glaubwürdigen Grundzugs der Handlung hat die
Verfasserin doch in den Einzelschilderungen eine Menge feiner Beobachtungen
offenbart, namentlich in der Schilderung einer Gärtnerfamilie in Berlin 0.,
die jedem Kenner der Verhältnisse die eignen Erinnerungen auffrischen wird.
Es liegt vielleicht in der weiblichen Natur begründet, daß die Anschauung, die
Fähigkeit, schnell erfaßte Eindrücke mit allen für die meisten Beobachter un¬
sichtbaren oder gleichgiltigen Kleinigkeiten zu schildern, und die Kunst, sie an
rechter Stelle zu verwerten, noch in einem Mißverhältnis zu der Kraft steht,
große Handlungen zu erfinden, denen sich die Ornamentik der Detailmalerei
als etwas Beiläufiges und doch Unentbehrliebes angliedert. An diesem Mangel
leidet auch der Roman Sankt Georg von G. von Stokmans (Berlin,
Otto Janke). Die Verfasserin, eine Schlesierin. führt uns in eine der größern
Städte ihres Heimatlandes, in eine, deren mittelalterlicher Charakter sich noch
stolz und ehrfurchtgebietend neben moderner Lebensweise und neben modernen
Landhäusern behauptet hat. Den Titel des Romans hat das Wahrzeichen
einer alten Apotheke gegeben, auf der sich Wohlstand. Reichtum und Ehrbar¬
keit einer ganzen Familie aufgebaut haben, denen plötzlich von allen Seiten
Erschütterung droht. In die alte, verschnörkelte Welt, die nicht bloß durch
die geheiligten Überlieferungen eines Patriziergeschlechts, sondern auch durch
strenge religiöse Überzeugungen und moralische Anschauungen wie durch Eisen-
s-'leer abgeschlossen ist, dringt jugendlicher Frohsinn und jugendlicher Übermut.
Ausgelassene Künstler und Weltkinder rufen Irrungen und Verwirrungen
hervor, die beinahe den Seelenfrieden ehrenfester Menschen zu stören drohen.
Aber die kluge Verfasserin weiß den schnell heraufbeschwvrnen Spuk auch
ebenso schnell wieder zu bannen, und wenn auch hie und da noch eine Wunde
ewe Zeit lang nachblutet, so ist doch soviel Seelenstärke vorhanden, daß der
^ser um endliche Heilung nicht zu bangen braucht. Er wird vielleicht auch
"icht lange mehr an die Menschen zurückdenken, deren seelische Kämpfe für ein
paar Stunden seine Aufmerksamkeit gefesselt haben, länger vielleicht an die
kleine Welt von engen, winkligen Gassen, hochgiebligcn Häusern und halb¬
dunkeln Gotteshäusern, in der diese Kämpfe ausgerungen worden sind.

Immerhin halten sich in dieser Erzählung die phantastische Erfindung in
der wundersamen Führung von Menschenschicksalen und die Beobachtung wirk¬
lichen Lebens noch so die Wage, daß eine erträgliche Unterhaltung für an¬
spruchslose Leser daraus geworden ist. In voller Zügellosigkeit hat dagegen
Fou Ursula Zoege von Manteuffel ihre Phantasie in dem dreibändigen
Roman: Am langen See (Berlin, Otto Janke) hernmgaloppiren lassen. Es


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[0037] Neue Romane und Novellen statteten Prachtmenschen, mit herzlicher Freude die Hand reicht. Wieder einmal hat männliches Heldentum ohne Ansehen der Geburt den Sieg über eine Welt von Vorurteil gewonnen. Trotz des etwas phantastischen und, wenn wir uns die Sache recht über¬ legen, zur Zeit noch wenig glaubwürdigen Grundzugs der Handlung hat die Verfasserin doch in den Einzelschilderungen eine Menge feiner Beobachtungen offenbart, namentlich in der Schilderung einer Gärtnerfamilie in Berlin 0., die jedem Kenner der Verhältnisse die eignen Erinnerungen auffrischen wird. Es liegt vielleicht in der weiblichen Natur begründet, daß die Anschauung, die Fähigkeit, schnell erfaßte Eindrücke mit allen für die meisten Beobachter un¬ sichtbaren oder gleichgiltigen Kleinigkeiten zu schildern, und die Kunst, sie an rechter Stelle zu verwerten, noch in einem Mißverhältnis zu der Kraft steht, große Handlungen zu erfinden, denen sich die Ornamentik der Detailmalerei als etwas Beiläufiges und doch Unentbehrliebes angliedert. An diesem Mangel leidet auch der Roman Sankt Georg von G. von Stokmans (Berlin, Otto Janke). Die Verfasserin, eine Schlesierin. führt uns in eine der größern Städte ihres Heimatlandes, in eine, deren mittelalterlicher Charakter sich noch stolz und ehrfurchtgebietend neben moderner Lebensweise und neben modernen Landhäusern behauptet hat. Den Titel des Romans hat das Wahrzeichen einer alten Apotheke gegeben, auf der sich Wohlstand. Reichtum und Ehrbar¬ keit einer ganzen Familie aufgebaut haben, denen plötzlich von allen Seiten Erschütterung droht. In die alte, verschnörkelte Welt, die nicht bloß durch die geheiligten Überlieferungen eines Patriziergeschlechts, sondern auch durch strenge religiöse Überzeugungen und moralische Anschauungen wie durch Eisen- s-'leer abgeschlossen ist, dringt jugendlicher Frohsinn und jugendlicher Übermut. Ausgelassene Künstler und Weltkinder rufen Irrungen und Verwirrungen hervor, die beinahe den Seelenfrieden ehrenfester Menschen zu stören drohen. Aber die kluge Verfasserin weiß den schnell heraufbeschwvrnen Spuk auch ebenso schnell wieder zu bannen, und wenn auch hie und da noch eine Wunde ewe Zeit lang nachblutet, so ist doch soviel Seelenstärke vorhanden, daß der ^ser um endliche Heilung nicht zu bangen braucht. Er wird vielleicht auch "icht lange mehr an die Menschen zurückdenken, deren seelische Kämpfe für ein paar Stunden seine Aufmerksamkeit gefesselt haben, länger vielleicht an die kleine Welt von engen, winkligen Gassen, hochgiebligcn Häusern und halb¬ dunkeln Gotteshäusern, in der diese Kämpfe ausgerungen worden sind. Immerhin halten sich in dieser Erzählung die phantastische Erfindung in der wundersamen Führung von Menschenschicksalen und die Beobachtung wirk¬ lichen Lebens noch so die Wage, daß eine erträgliche Unterhaltung für an¬ spruchslose Leser daraus geworden ist. In voller Zügellosigkeit hat dagegen Fou Ursula Zoege von Manteuffel ihre Phantasie in dem dreibändigen Roman: Am langen See (Berlin, Otto Janke) hernmgaloppiren lassen. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/37>, abgerufen am 27.12.2024.