Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Neue Romane und Novellen thaten. Stoffe genug haben alle gehabt. In der That ist Berlin -- diesen In der Schilderung solcher Menschen, die entweder ganz untergehen oder Neue Romane und Novellen thaten. Stoffe genug haben alle gehabt. In der That ist Berlin — diesen In der Schilderung solcher Menschen, die entweder ganz untergehen oder <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0036" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227672"/> <fw type="header" place="top"> Neue Romane und Novellen</fw><lb/> <p xml:id="ID_80" prev="#ID_79"> thaten. Stoffe genug haben alle gehabt. In der That ist Berlin — diesen<lb/> Vorzug werden ihm selbst seine erbittertsten Feinde lassen müssen — der be¬<lb/> vorzugte Sammelplatz aller Leute geworden, die für Romanschriftsteller die<lb/> brauchbarsten und dankbarsten Modelle abgeben. Man kann sie zunächst in<lb/> zwei große Gruppen teilen: in solche, die ihr Glück, d. h. ihren auswärts be¬<lb/> gründeten Wohlstand mit vollen Zügen oder in ruhiger Behaglichkeit genießen<lb/> wollen, und in solche, die in Berlin ihr Glück machen wollen, weil andre<lb/> Orte Deutschlands für ihren Thatendurst zu klein geworden sind, oder nachdem<lb/> sie anderswo Schiffbruch erlitten haben. Dazwischen giebt es natürlich noch<lb/> einige Mittelgruppen, wie z. V. abgewirtschaftete Gutsbesitzer, pensionirte<lb/> Ofsizierte und Beamte, die verbitterten Gemüts im Strudel der Millionenstadt<lb/> untertauchen oder mit ihrer spärlichen Habe, die sie aus dem Zusammen¬<lb/> bruch gerettet haben, in einem stillen Winkel ein bescheidnes Leben führen<lb/> wollen.</p><lb/> <p xml:id="ID_81" next="#ID_82"> In der Schilderung solcher Menschen, die entweder ganz untergehen oder<lb/> durch eigne Kraft oder mit Hilfe mutiger, anders denkender Söhne und Töchter<lb/> aus der Brandung wieder emportauchen, entfaltet Frau Ada von Gersdorff<lb/> seit Jahren eine bemerkenswerte Virtuosität. Sie ist, wie es das moderne<lb/> Nomadenleben so mit sich bringt, teils in Ostpreußen, teils in Berlin zu Hause,<lb/> und zwar dort wie hier gleich gut. Sie kennt die „Zigeuner der Großstadt"<lb/> ebenso genau wie die großen und doch auf mehr oder wenigen schwachen<lb/> Füßen stehenden Grundherren der Ostmark. Diese gründliche Kenntnis zweier<lb/> Welten hat sie zu einer Lebensanschauung gebracht, die man eher demokratisch<lb/> als aristokratisch nennen könnte. Für sie hat die Aristokratie nur baun ihren<lb/> vollen Wert, wenn sich die vornehme Geburt mit Adel des Herzens und Vor¬<lb/> nehmheit der Gesinnung verbindet, und der schlicht bürgerliche Mann ist, wenn<lb/> er die gleichen Eigenschaften des Geistes und Herzens hat und sie bewährt,<lb/> nach ihrer Meinung einem Grafen und Fürsten durchaus ebenbürtig. Diese<lb/> Anschauung hat sie mit großer Entschlossenheit in dem dreibändigen Romane<lb/> Hochgeboren! (Berlin, Otto Janke) vertreten, der zwar nicht zu ihren<lb/> künstlerisch vollendetsten, aber jedenfalls zu denen gehört, die den Gefühlen<lb/> der namenlosen Menge am meisten schmeicheln und darum sehr gern gelesen<lb/> werden. Wie die Standesgenossen der Verfasserin darüber denken, wissen wir<lb/> nicht. Aber gewisse Anzeichen deuten darauf hin, daß man in diesen Kreisen<lb/> bereits gelernt hat, wenn man dort überhaupt noch etwas liest, solche Tendenz¬<lb/> romane, die alle Standesunterschiede beseitigen wollen, mit Gleichgiltigkeit,<lb/> blasirten Achselzucken, vielleicht sogar mit einem gewissen Wohlwollen aufzu¬<lb/> nehmen. Man wird darum schwerlich daran Anstoß nehmen, daß in dem<lb/> Roman Hochgeboren eine Gräfin, deren Mutter ihr eine „geschlossene" Krone,<lb/> d. h. eine Fllrstenkrone zugedacht hat, wegen wirtschaftlicher Unglücksfälle dem<lb/> bürgerlichen Inspektor ihres Vaters, einem mit allen guten Gaben ausge-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0036]
Neue Romane und Novellen
thaten. Stoffe genug haben alle gehabt. In der That ist Berlin — diesen
Vorzug werden ihm selbst seine erbittertsten Feinde lassen müssen — der be¬
vorzugte Sammelplatz aller Leute geworden, die für Romanschriftsteller die
brauchbarsten und dankbarsten Modelle abgeben. Man kann sie zunächst in
zwei große Gruppen teilen: in solche, die ihr Glück, d. h. ihren auswärts be¬
gründeten Wohlstand mit vollen Zügen oder in ruhiger Behaglichkeit genießen
wollen, und in solche, die in Berlin ihr Glück machen wollen, weil andre
Orte Deutschlands für ihren Thatendurst zu klein geworden sind, oder nachdem
sie anderswo Schiffbruch erlitten haben. Dazwischen giebt es natürlich noch
einige Mittelgruppen, wie z. V. abgewirtschaftete Gutsbesitzer, pensionirte
Ofsizierte und Beamte, die verbitterten Gemüts im Strudel der Millionenstadt
untertauchen oder mit ihrer spärlichen Habe, die sie aus dem Zusammen¬
bruch gerettet haben, in einem stillen Winkel ein bescheidnes Leben führen
wollen.
In der Schilderung solcher Menschen, die entweder ganz untergehen oder
durch eigne Kraft oder mit Hilfe mutiger, anders denkender Söhne und Töchter
aus der Brandung wieder emportauchen, entfaltet Frau Ada von Gersdorff
seit Jahren eine bemerkenswerte Virtuosität. Sie ist, wie es das moderne
Nomadenleben so mit sich bringt, teils in Ostpreußen, teils in Berlin zu Hause,
und zwar dort wie hier gleich gut. Sie kennt die „Zigeuner der Großstadt"
ebenso genau wie die großen und doch auf mehr oder wenigen schwachen
Füßen stehenden Grundherren der Ostmark. Diese gründliche Kenntnis zweier
Welten hat sie zu einer Lebensanschauung gebracht, die man eher demokratisch
als aristokratisch nennen könnte. Für sie hat die Aristokratie nur baun ihren
vollen Wert, wenn sich die vornehme Geburt mit Adel des Herzens und Vor¬
nehmheit der Gesinnung verbindet, und der schlicht bürgerliche Mann ist, wenn
er die gleichen Eigenschaften des Geistes und Herzens hat und sie bewährt,
nach ihrer Meinung einem Grafen und Fürsten durchaus ebenbürtig. Diese
Anschauung hat sie mit großer Entschlossenheit in dem dreibändigen Romane
Hochgeboren! (Berlin, Otto Janke) vertreten, der zwar nicht zu ihren
künstlerisch vollendetsten, aber jedenfalls zu denen gehört, die den Gefühlen
der namenlosen Menge am meisten schmeicheln und darum sehr gern gelesen
werden. Wie die Standesgenossen der Verfasserin darüber denken, wissen wir
nicht. Aber gewisse Anzeichen deuten darauf hin, daß man in diesen Kreisen
bereits gelernt hat, wenn man dort überhaupt noch etwas liest, solche Tendenz¬
romane, die alle Standesunterschiede beseitigen wollen, mit Gleichgiltigkeit,
blasirten Achselzucken, vielleicht sogar mit einem gewissen Wohlwollen aufzu¬
nehmen. Man wird darum schwerlich daran Anstoß nehmen, daß in dem
Roman Hochgeboren eine Gräfin, deren Mutter ihr eine „geschlossene" Krone,
d. h. eine Fllrstenkrone zugedacht hat, wegen wirtschaftlicher Unglücksfälle dem
bürgerlichen Inspektor ihres Vaters, einem mit allen guten Gaben ausge-
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