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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Was in Gstasien vorgeht

Wäre es auch nur für ein Menschenalter. Es wäre weise im Interesse unsrer
Industrie und im Interesse des Friedens, der durch jede im Innern Chinas
neu entstehende Fabrik gefährdet wird.

Ich zweifle, ob einige Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden ist, daß, wie
man oft hört, China demnächst aufgeteilt werden könne. Aber mir er¬
scheint es wohl möglich, daß man von europäischer Seite mit dem neuen
völkerrechtlichen Instrument der Interessensphären gegen China vorgehen
wird. Mit diesem Brecheisen wird man bei der Unfähigkeit Chinas, den
europäischen Truppen zu widerstehen, leicht große Stücke ausbrechen und an
die nächsten Interessenten austeilen. England versucht ja schou, die Hand auf die
größte Marktstraße der Welt zu legen, die dem Laufe des herrlichen S)an-tse-
kiang folgend hinauf in die reichsten Provinzen Hupe und sse-tschuan führt.
Ich wünschte, wir machten dort nicht zum andern mal die Erfahrungen, die
wir mit dem "allen Nationen freien" Niger gemacht haben. Wird China erst
einmal in Interessensphären geteilt, dann folgt die Zerreißung in Russisch-,
Deutsch-, Englisch-, Französisch-China bald hinterher, und die Aufstände werden
die Mächte ebenso schnell "nötigen," gewaltsam Ordnung zu schaffen und ihre
"Interessen" zu konsolidiren, worunter ich freilich nicht Eroberung meine.
China ist nicht von Jndiern bewohnt, und das Selbstgefühl des Volkes hat
den Haß gegen die Europäer schon jetzt zu einer bedenklichen Höhe gesteigert.
Für jene Möglichkeiten ist Kiautschou ein ungenügender Erwerb, schon um der
Entfernung willen von den reichen innern Gebieten und den großen natür¬
lichen Verkehrsadern. Wir werden uns beizeiten vorsehen müssen, um nicht
bloß die Knochen von dem reichen Mahle zu bekommen.

Die Gefahr, daß es zu diesem Mahle kommt, liegt in der Schwäche der
zentralen Regierung und in der Neigung des Volkes zu Aufständen. Die
Japaner haben uns gezeigt, daß China 1896 kaum besser auf einen ernstlichen
Krieg vorbereitet war, als es 1850 gegen die Taiping und als es zehn Jahre
später gegen Frankreich und England war. Mit elftausend Mann europäischer
Truppen wurde damals Peking genommen, und mit einem Armeekorps könnte
es heute wohl wieder genommen werden. Man darf sich wundern, daß bei solcher
Schwäche der zentralen Regierung die in letzter Zeit hie und da ausgebrochuen
Unruhen nicht größern Umfang gewonnen haben. Kein Staat Europas hat
so viel Revolutionen erlebt als der chinesische. Jener schon erwähnte Kenner
Chinas nennt es "das revolutionärste Land der Welt." Die geheimen Gesell¬
schaften sind vorzüglich organisirt, und sie bedecken das ganze Land in zahl¬
losen Verbänden. Der Haß gegen die Mandschu ist alt und heftig. Ein
Fanatiker wie im Jahre 1850 oder ein ehrgeiziger Statthalter findet sich
leicht, der die geheimen Gesellschaften sammelt und wieder wie 1850 gegen die
Mandschu oder aber auch gegen die fremden Eindringlinge aus Europa führt.
Es ist daher unwahrscheinlich, daß, wie in einigen Blättern angedeutet worden


Grenzboten II 18S8 46
Was in Gstasien vorgeht

Wäre es auch nur für ein Menschenalter. Es wäre weise im Interesse unsrer
Industrie und im Interesse des Friedens, der durch jede im Innern Chinas
neu entstehende Fabrik gefährdet wird.

Ich zweifle, ob einige Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden ist, daß, wie
man oft hört, China demnächst aufgeteilt werden könne. Aber mir er¬
scheint es wohl möglich, daß man von europäischer Seite mit dem neuen
völkerrechtlichen Instrument der Interessensphären gegen China vorgehen
wird. Mit diesem Brecheisen wird man bei der Unfähigkeit Chinas, den
europäischen Truppen zu widerstehen, leicht große Stücke ausbrechen und an
die nächsten Interessenten austeilen. England versucht ja schou, die Hand auf die
größte Marktstraße der Welt zu legen, die dem Laufe des herrlichen S)an-tse-
kiang folgend hinauf in die reichsten Provinzen Hupe und sse-tschuan führt.
Ich wünschte, wir machten dort nicht zum andern mal die Erfahrungen, die
wir mit dem „allen Nationen freien" Niger gemacht haben. Wird China erst
einmal in Interessensphären geteilt, dann folgt die Zerreißung in Russisch-,
Deutsch-, Englisch-, Französisch-China bald hinterher, und die Aufstände werden
die Mächte ebenso schnell „nötigen," gewaltsam Ordnung zu schaffen und ihre
„Interessen" zu konsolidiren, worunter ich freilich nicht Eroberung meine.
China ist nicht von Jndiern bewohnt, und das Selbstgefühl des Volkes hat
den Haß gegen die Europäer schon jetzt zu einer bedenklichen Höhe gesteigert.
Für jene Möglichkeiten ist Kiautschou ein ungenügender Erwerb, schon um der
Entfernung willen von den reichen innern Gebieten und den großen natür¬
lichen Verkehrsadern. Wir werden uns beizeiten vorsehen müssen, um nicht
bloß die Knochen von dem reichen Mahle zu bekommen.

Die Gefahr, daß es zu diesem Mahle kommt, liegt in der Schwäche der
zentralen Regierung und in der Neigung des Volkes zu Aufständen. Die
Japaner haben uns gezeigt, daß China 1896 kaum besser auf einen ernstlichen
Krieg vorbereitet war, als es 1850 gegen die Taiping und als es zehn Jahre
später gegen Frankreich und England war. Mit elftausend Mann europäischer
Truppen wurde damals Peking genommen, und mit einem Armeekorps könnte
es heute wohl wieder genommen werden. Man darf sich wundern, daß bei solcher
Schwäche der zentralen Regierung die in letzter Zeit hie und da ausgebrochuen
Unruhen nicht größern Umfang gewonnen haben. Kein Staat Europas hat
so viel Revolutionen erlebt als der chinesische. Jener schon erwähnte Kenner
Chinas nennt es „das revolutionärste Land der Welt." Die geheimen Gesell¬
schaften sind vorzüglich organisirt, und sie bedecken das ganze Land in zahl¬
losen Verbänden. Der Haß gegen die Mandschu ist alt und heftig. Ein
Fanatiker wie im Jahre 1850 oder ein ehrgeiziger Statthalter findet sich
leicht, der die geheimen Gesellschaften sammelt und wieder wie 1850 gegen die
Mandschu oder aber auch gegen die fremden Eindringlinge aus Europa führt.
Es ist daher unwahrscheinlich, daß, wie in einigen Blättern angedeutet worden


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[0369] Was in Gstasien vorgeht Wäre es auch nur für ein Menschenalter. Es wäre weise im Interesse unsrer Industrie und im Interesse des Friedens, der durch jede im Innern Chinas neu entstehende Fabrik gefährdet wird. Ich zweifle, ob einige Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden ist, daß, wie man oft hört, China demnächst aufgeteilt werden könne. Aber mir er¬ scheint es wohl möglich, daß man von europäischer Seite mit dem neuen völkerrechtlichen Instrument der Interessensphären gegen China vorgehen wird. Mit diesem Brecheisen wird man bei der Unfähigkeit Chinas, den europäischen Truppen zu widerstehen, leicht große Stücke ausbrechen und an die nächsten Interessenten austeilen. England versucht ja schou, die Hand auf die größte Marktstraße der Welt zu legen, die dem Laufe des herrlichen S)an-tse- kiang folgend hinauf in die reichsten Provinzen Hupe und sse-tschuan führt. Ich wünschte, wir machten dort nicht zum andern mal die Erfahrungen, die wir mit dem „allen Nationen freien" Niger gemacht haben. Wird China erst einmal in Interessensphären geteilt, dann folgt die Zerreißung in Russisch-, Deutsch-, Englisch-, Französisch-China bald hinterher, und die Aufstände werden die Mächte ebenso schnell „nötigen," gewaltsam Ordnung zu schaffen und ihre „Interessen" zu konsolidiren, worunter ich freilich nicht Eroberung meine. China ist nicht von Jndiern bewohnt, und das Selbstgefühl des Volkes hat den Haß gegen die Europäer schon jetzt zu einer bedenklichen Höhe gesteigert. Für jene Möglichkeiten ist Kiautschou ein ungenügender Erwerb, schon um der Entfernung willen von den reichen innern Gebieten und den großen natür¬ lichen Verkehrsadern. Wir werden uns beizeiten vorsehen müssen, um nicht bloß die Knochen von dem reichen Mahle zu bekommen. Die Gefahr, daß es zu diesem Mahle kommt, liegt in der Schwäche der zentralen Regierung und in der Neigung des Volkes zu Aufständen. Die Japaner haben uns gezeigt, daß China 1896 kaum besser auf einen ernstlichen Krieg vorbereitet war, als es 1850 gegen die Taiping und als es zehn Jahre später gegen Frankreich und England war. Mit elftausend Mann europäischer Truppen wurde damals Peking genommen, und mit einem Armeekorps könnte es heute wohl wieder genommen werden. Man darf sich wundern, daß bei solcher Schwäche der zentralen Regierung die in letzter Zeit hie und da ausgebrochuen Unruhen nicht größern Umfang gewonnen haben. Kein Staat Europas hat so viel Revolutionen erlebt als der chinesische. Jener schon erwähnte Kenner Chinas nennt es „das revolutionärste Land der Welt." Die geheimen Gesell¬ schaften sind vorzüglich organisirt, und sie bedecken das ganze Land in zahl¬ losen Verbänden. Der Haß gegen die Mandschu ist alt und heftig. Ein Fanatiker wie im Jahre 1850 oder ein ehrgeiziger Statthalter findet sich leicht, der die geheimen Gesellschaften sammelt und wieder wie 1850 gegen die Mandschu oder aber auch gegen die fremden Eindringlinge aus Europa führt. Es ist daher unwahrscheinlich, daß, wie in einigen Blättern angedeutet worden Grenzboten II 18S8 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/369>, abgerufen am 23.07.2024.