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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Was in Gstasien vorgeht

ist: der Sozialismus in allen seinen Verzweigungen, der Kampf zwischen dem
Handarbeiter und dem Kopfarbeiter um die staatliche Macht: China meint diese
Frage vor siebenhundert Jahren schon gelöst zu haben. Im elften Jahrhundert
soll dort alles, Grundbesitz, Handel, Gewerbe verstaatlicht worden sein; aber
die Sozialisten wurden -- so heißt es -- im Jahre 1129 gestürzt und zu
Hunderttausenden aus dem Lande gejagt, weil die Zustände unter ihrer Re¬
gierung unerträglich geworden waren. Werden wir aus ihrer Geschichte zu
unserm Heil lernen, oder werden sich die sozialen Gegensätze bei uns nicht
auch theoretisch durch die chinesischen Erfahrungen und Zustände verschärfen?
Niemals werden wir uns mit chinesischem Blut vermischen; wir werden in
China fremde Herren sein, oder gar nicht sein. Wir werden vielleicht finden,
daß der friedliche, fleißige, geschäftliebende Chinese bequem zu beherrschen
ist. Aber der Gegensatz zwischen uns und ihnen ist so groß, daß wir besten
Falls eine Stellung erringen werden, wie sie von den Südbaronen Amerikas
um 1860 eingenommen wurde, mit dem Unterschiede, daß die moralische Ver¬
kommenheit eines Kulturvolkes sehr viel stärker das sittliche Bewußtsein eines
fremden Herrenvolkes herabzieht, als die rohen Sitten einer Naturrasse.

Es ist nicht zu erwarten, daß Europa, selbst wenn es die Gefahr dieses
Eindringens in das innere China anerkennen sollte, vor den einmal geöffneten
Thüren werde stehen bleiben. Die Begierde nach Gewinn ist dabei zu groß,
die lockende Beute zu glänzend. Aber ich meine, wir hätten besser gethan,
uns mit dem Gewinn des Handels zu begnügen und im übrigen die Abschließung
Chinas gegen das Eindringen europäischen Wesens und Treibens bestehen zu
lassen. Vielleicht wäre es für die Chinesen besser gewesen, wenn die europäischen
Mächte der Mandschudynastie vor achtunddreißig Jahren nicht geholfen hätten,
den Taipingaufstcmd zu besiegen. Vielleicht ist die heutige erschütterte Stellung
des Thrones zu Peking der Anfang einer Auflösung, die zu dem endlichen
Sturze dieser fremden Herrscher und zum Zerfall des Reichs in einzelne
Staaten mit eingebornen Herrschern führen wird. Dann könnte die seit zwei¬
hundert Jahren dauernde Mißwirtschaft aufhören, das Raubshstem des Er¬
oberers, der gierigen und wie eine Herde von Schafen über das Land hin
weidenden Mandschnmandarinen könnte ein Ende finden. Kanäle und Wege
und unzählige andre öffentliche Anlagen, die unter dieser Dynastie zerfielen,
könnten hergestellt, Bestechung und Lvkaltyrannei gemüßigt werden, und der
Chinese würde versuchen können, die guten Zeiten vor 1644 wieder zurück zu
bringen, von denen er erzählt. Dann würden die Grenzen dem Fremden offen
stehen wie ehedem. Der Zopf verschwände, und der Chinese würde vielleicht
in die Fremde wandern ohne das Verlangen, als Leiche in seine Heimat
zurückzukehren. Alles das wäre vielleicht gut für die Chinesen, aber wahr¬
scheinlich übel für Europa. Die Staaten europäischer Kultur würden weise
handeln, wenn sie sich untereinander dahin einigten, China dem Handel aller
Völker zu öffnen, aber dem Eindringen europäischer Industrie zu verschließen,


Was in Gstasien vorgeht

ist: der Sozialismus in allen seinen Verzweigungen, der Kampf zwischen dem
Handarbeiter und dem Kopfarbeiter um die staatliche Macht: China meint diese
Frage vor siebenhundert Jahren schon gelöst zu haben. Im elften Jahrhundert
soll dort alles, Grundbesitz, Handel, Gewerbe verstaatlicht worden sein; aber
die Sozialisten wurden — so heißt es — im Jahre 1129 gestürzt und zu
Hunderttausenden aus dem Lande gejagt, weil die Zustände unter ihrer Re¬
gierung unerträglich geworden waren. Werden wir aus ihrer Geschichte zu
unserm Heil lernen, oder werden sich die sozialen Gegensätze bei uns nicht
auch theoretisch durch die chinesischen Erfahrungen und Zustände verschärfen?
Niemals werden wir uns mit chinesischem Blut vermischen; wir werden in
China fremde Herren sein, oder gar nicht sein. Wir werden vielleicht finden,
daß der friedliche, fleißige, geschäftliebende Chinese bequem zu beherrschen
ist. Aber der Gegensatz zwischen uns und ihnen ist so groß, daß wir besten
Falls eine Stellung erringen werden, wie sie von den Südbaronen Amerikas
um 1860 eingenommen wurde, mit dem Unterschiede, daß die moralische Ver¬
kommenheit eines Kulturvolkes sehr viel stärker das sittliche Bewußtsein eines
fremden Herrenvolkes herabzieht, als die rohen Sitten einer Naturrasse.

Es ist nicht zu erwarten, daß Europa, selbst wenn es die Gefahr dieses
Eindringens in das innere China anerkennen sollte, vor den einmal geöffneten
Thüren werde stehen bleiben. Die Begierde nach Gewinn ist dabei zu groß,
die lockende Beute zu glänzend. Aber ich meine, wir hätten besser gethan,
uns mit dem Gewinn des Handels zu begnügen und im übrigen die Abschließung
Chinas gegen das Eindringen europäischen Wesens und Treibens bestehen zu
lassen. Vielleicht wäre es für die Chinesen besser gewesen, wenn die europäischen
Mächte der Mandschudynastie vor achtunddreißig Jahren nicht geholfen hätten,
den Taipingaufstcmd zu besiegen. Vielleicht ist die heutige erschütterte Stellung
des Thrones zu Peking der Anfang einer Auflösung, die zu dem endlichen
Sturze dieser fremden Herrscher und zum Zerfall des Reichs in einzelne
Staaten mit eingebornen Herrschern führen wird. Dann könnte die seit zwei¬
hundert Jahren dauernde Mißwirtschaft aufhören, das Raubshstem des Er¬
oberers, der gierigen und wie eine Herde von Schafen über das Land hin
weidenden Mandschnmandarinen könnte ein Ende finden. Kanäle und Wege
und unzählige andre öffentliche Anlagen, die unter dieser Dynastie zerfielen,
könnten hergestellt, Bestechung und Lvkaltyrannei gemüßigt werden, und der
Chinese würde versuchen können, die guten Zeiten vor 1644 wieder zurück zu
bringen, von denen er erzählt. Dann würden die Grenzen dem Fremden offen
stehen wie ehedem. Der Zopf verschwände, und der Chinese würde vielleicht
in die Fremde wandern ohne das Verlangen, als Leiche in seine Heimat
zurückzukehren. Alles das wäre vielleicht gut für die Chinesen, aber wahr¬
scheinlich übel für Europa. Die Staaten europäischer Kultur würden weise
handeln, wenn sie sich untereinander dahin einigten, China dem Handel aller
Völker zu öffnen, aber dem Eindringen europäischer Industrie zu verschließen,


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[0368] Was in Gstasien vorgeht ist: der Sozialismus in allen seinen Verzweigungen, der Kampf zwischen dem Handarbeiter und dem Kopfarbeiter um die staatliche Macht: China meint diese Frage vor siebenhundert Jahren schon gelöst zu haben. Im elften Jahrhundert soll dort alles, Grundbesitz, Handel, Gewerbe verstaatlicht worden sein; aber die Sozialisten wurden — so heißt es — im Jahre 1129 gestürzt und zu Hunderttausenden aus dem Lande gejagt, weil die Zustände unter ihrer Re¬ gierung unerträglich geworden waren. Werden wir aus ihrer Geschichte zu unserm Heil lernen, oder werden sich die sozialen Gegensätze bei uns nicht auch theoretisch durch die chinesischen Erfahrungen und Zustände verschärfen? Niemals werden wir uns mit chinesischem Blut vermischen; wir werden in China fremde Herren sein, oder gar nicht sein. Wir werden vielleicht finden, daß der friedliche, fleißige, geschäftliebende Chinese bequem zu beherrschen ist. Aber der Gegensatz zwischen uns und ihnen ist so groß, daß wir besten Falls eine Stellung erringen werden, wie sie von den Südbaronen Amerikas um 1860 eingenommen wurde, mit dem Unterschiede, daß die moralische Ver¬ kommenheit eines Kulturvolkes sehr viel stärker das sittliche Bewußtsein eines fremden Herrenvolkes herabzieht, als die rohen Sitten einer Naturrasse. Es ist nicht zu erwarten, daß Europa, selbst wenn es die Gefahr dieses Eindringens in das innere China anerkennen sollte, vor den einmal geöffneten Thüren werde stehen bleiben. Die Begierde nach Gewinn ist dabei zu groß, die lockende Beute zu glänzend. Aber ich meine, wir hätten besser gethan, uns mit dem Gewinn des Handels zu begnügen und im übrigen die Abschließung Chinas gegen das Eindringen europäischen Wesens und Treibens bestehen zu lassen. Vielleicht wäre es für die Chinesen besser gewesen, wenn die europäischen Mächte der Mandschudynastie vor achtunddreißig Jahren nicht geholfen hätten, den Taipingaufstcmd zu besiegen. Vielleicht ist die heutige erschütterte Stellung des Thrones zu Peking der Anfang einer Auflösung, die zu dem endlichen Sturze dieser fremden Herrscher und zum Zerfall des Reichs in einzelne Staaten mit eingebornen Herrschern führen wird. Dann könnte die seit zwei¬ hundert Jahren dauernde Mißwirtschaft aufhören, das Raubshstem des Er¬ oberers, der gierigen und wie eine Herde von Schafen über das Land hin weidenden Mandschnmandarinen könnte ein Ende finden. Kanäle und Wege und unzählige andre öffentliche Anlagen, die unter dieser Dynastie zerfielen, könnten hergestellt, Bestechung und Lvkaltyrannei gemüßigt werden, und der Chinese würde versuchen können, die guten Zeiten vor 1644 wieder zurück zu bringen, von denen er erzählt. Dann würden die Grenzen dem Fremden offen stehen wie ehedem. Der Zopf verschwände, und der Chinese würde vielleicht in die Fremde wandern ohne das Verlangen, als Leiche in seine Heimat zurückzukehren. Alles das wäre vielleicht gut für die Chinesen, aber wahr¬ scheinlich übel für Europa. Die Staaten europäischer Kultur würden weise handeln, wenn sie sich untereinander dahin einigten, China dem Handel aller Völker zu öffnen, aber dem Eindringen europäischer Industrie zu verschließen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/368>, abgerufen am 23.07.2024.