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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Was in Gstasien vorgeht

Moralität; dabei außerordentlich unempfindlich gegen seelische wie körperliche
Leiden, in der Not mit allen Lastern leicht vertraut, dem Spiel leidenschaftlich
ergeben, den materiellen Gewinn allein und rücksichtslos verfolgend, schlau,
verschlagen, sparsam. Das ist der Charakter der großen chinesischen Nation,
von der sich in Nord und West die mehr oder minder verwandten Völker
unterscheiden, mit der wir aber auch in Kiautschau vorwiegend werden zu
rechnen haben. Und nun denke man sich in China Städte wie Elberfeld oder
Chemnitz in Menge entstehen, mit Hunderttausenden von Kukis als Arbeitern,
vorläufig unter der Leitung wenn auch europäischer Unternehmer, so doch
chinesischer Unterbeamten. Alle Bemühungen, diesen Kukis einigen Schutz zu
gewähren, werden nicht verhindern können, daß in kurzer Zeit eine Sklaven¬
wirtschaft entsteht, fürchterlicher als die in den Südstaaten von Amerika zur
Zeit des Onkel Tom war. Das Elend, der Schmutz, die Lasterhöhlen in den
großen Städten des heutigen China, in den chinesischen Vierteln von San
Franzisko, die der Europäer kaum zu betreten wagt, sind oft genug geschildert,
worden, daß man sich die Zustünde vorstellen kann, die entstehen müßten
sobald erst dieses Fabrikwesen im großen Stil in die chinesischen Millionen¬
städte einzieht. Es wird da ein menschliches Arbeitsvieh gezüchtet werden,
wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Und glaubt man denn, daß das für
die Dauer auf unser eignes soziales Elend ohne Einfluß bleiben kann? Glaubt
man, mit Schutzzöllen für immer die Fabrikate der Kukis schlagen zu können,
auch wenn man die Einfuhr von Kukis nach Europa verhindert? Glaubt
man, daß die Bereitwilligkeit, die Lage unsrer Fabrikarbeiter zu bessern, bei
uns wachsen wird, wenn man erst den Druck der billigen chinesischen Arbeit
spürt, wenn man erst auf die Lage des chinesischen Kuli in den von unsern
Unternehmern und unsern Technikern geleiteten Fabriken Chinas wird hin¬
weisen können? Wer wird denn den deutschen Betriebsdirektor oder Aufseher
in der Fabrik am Jan-the-klang hindern, seine für fünfzig Pfennige arbeitenden
Kukis mit der Peitsche und den üblichen Strafen chinesischer Gerechtigkeit zur
Arbeit zu ermutigen? Und sollten solche Erfahrungen nicht auf die Moral
bei uns zu Hause ihre Wirkung üben?

Wir werden zuerst vielleicht eine reiche Ernte an Gewinn durch den
Handel und durch die Anlage von Kapital in chinesischen Unternehmungen ein¬
heimsen. Aber nach einigen Jahren wird die üble Rückwirkung nicht aus¬
bleiben, wenn wir wie bisher China weiter aufschließen. So überlegen wir
uns im ganzen und besonders in einigen Wissenszweigen den Chinesen gegen¬
über fühlen dürfen: man sollte die Kraft nicht unterschätzen, die in einer so
alten Kultur, in einem so stark ausgeprägten Volkscharakter, in einer durch
Geschichte und Naturanlage so verflüchtigten Volksmoral liegt. Was uns im
ganzen denn doch noch heilig ist, die Religion, ist dort kaum vorhanden, und
alle Religionslehren sind einmal von einem chinesischen Kaiser grundsätzlich
verdammt worden- Was für uns die große noch ungelöste Frage der Zeit


Was in Gstasien vorgeht

Moralität; dabei außerordentlich unempfindlich gegen seelische wie körperliche
Leiden, in der Not mit allen Lastern leicht vertraut, dem Spiel leidenschaftlich
ergeben, den materiellen Gewinn allein und rücksichtslos verfolgend, schlau,
verschlagen, sparsam. Das ist der Charakter der großen chinesischen Nation,
von der sich in Nord und West die mehr oder minder verwandten Völker
unterscheiden, mit der wir aber auch in Kiautschau vorwiegend werden zu
rechnen haben. Und nun denke man sich in China Städte wie Elberfeld oder
Chemnitz in Menge entstehen, mit Hunderttausenden von Kukis als Arbeitern,
vorläufig unter der Leitung wenn auch europäischer Unternehmer, so doch
chinesischer Unterbeamten. Alle Bemühungen, diesen Kukis einigen Schutz zu
gewähren, werden nicht verhindern können, daß in kurzer Zeit eine Sklaven¬
wirtschaft entsteht, fürchterlicher als die in den Südstaaten von Amerika zur
Zeit des Onkel Tom war. Das Elend, der Schmutz, die Lasterhöhlen in den
großen Städten des heutigen China, in den chinesischen Vierteln von San
Franzisko, die der Europäer kaum zu betreten wagt, sind oft genug geschildert,
worden, daß man sich die Zustünde vorstellen kann, die entstehen müßten
sobald erst dieses Fabrikwesen im großen Stil in die chinesischen Millionen¬
städte einzieht. Es wird da ein menschliches Arbeitsvieh gezüchtet werden,
wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Und glaubt man denn, daß das für
die Dauer auf unser eignes soziales Elend ohne Einfluß bleiben kann? Glaubt
man, mit Schutzzöllen für immer die Fabrikate der Kukis schlagen zu können,
auch wenn man die Einfuhr von Kukis nach Europa verhindert? Glaubt
man, daß die Bereitwilligkeit, die Lage unsrer Fabrikarbeiter zu bessern, bei
uns wachsen wird, wenn man erst den Druck der billigen chinesischen Arbeit
spürt, wenn man erst auf die Lage des chinesischen Kuli in den von unsern
Unternehmern und unsern Technikern geleiteten Fabriken Chinas wird hin¬
weisen können? Wer wird denn den deutschen Betriebsdirektor oder Aufseher
in der Fabrik am Jan-the-klang hindern, seine für fünfzig Pfennige arbeitenden
Kukis mit der Peitsche und den üblichen Strafen chinesischer Gerechtigkeit zur
Arbeit zu ermutigen? Und sollten solche Erfahrungen nicht auf die Moral
bei uns zu Hause ihre Wirkung üben?

Wir werden zuerst vielleicht eine reiche Ernte an Gewinn durch den
Handel und durch die Anlage von Kapital in chinesischen Unternehmungen ein¬
heimsen. Aber nach einigen Jahren wird die üble Rückwirkung nicht aus¬
bleiben, wenn wir wie bisher China weiter aufschließen. So überlegen wir
uns im ganzen und besonders in einigen Wissenszweigen den Chinesen gegen¬
über fühlen dürfen: man sollte die Kraft nicht unterschätzen, die in einer so
alten Kultur, in einem so stark ausgeprägten Volkscharakter, in einer durch
Geschichte und Naturanlage so verflüchtigten Volksmoral liegt. Was uns im
ganzen denn doch noch heilig ist, die Religion, ist dort kaum vorhanden, und
alle Religionslehren sind einmal von einem chinesischen Kaiser grundsätzlich
verdammt worden- Was für uns die große noch ungelöste Frage der Zeit


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[0367] Was in Gstasien vorgeht Moralität; dabei außerordentlich unempfindlich gegen seelische wie körperliche Leiden, in der Not mit allen Lastern leicht vertraut, dem Spiel leidenschaftlich ergeben, den materiellen Gewinn allein und rücksichtslos verfolgend, schlau, verschlagen, sparsam. Das ist der Charakter der großen chinesischen Nation, von der sich in Nord und West die mehr oder minder verwandten Völker unterscheiden, mit der wir aber auch in Kiautschau vorwiegend werden zu rechnen haben. Und nun denke man sich in China Städte wie Elberfeld oder Chemnitz in Menge entstehen, mit Hunderttausenden von Kukis als Arbeitern, vorläufig unter der Leitung wenn auch europäischer Unternehmer, so doch chinesischer Unterbeamten. Alle Bemühungen, diesen Kukis einigen Schutz zu gewähren, werden nicht verhindern können, daß in kurzer Zeit eine Sklaven¬ wirtschaft entsteht, fürchterlicher als die in den Südstaaten von Amerika zur Zeit des Onkel Tom war. Das Elend, der Schmutz, die Lasterhöhlen in den großen Städten des heutigen China, in den chinesischen Vierteln von San Franzisko, die der Europäer kaum zu betreten wagt, sind oft genug geschildert, worden, daß man sich die Zustünde vorstellen kann, die entstehen müßten sobald erst dieses Fabrikwesen im großen Stil in die chinesischen Millionen¬ städte einzieht. Es wird da ein menschliches Arbeitsvieh gezüchtet werden, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Und glaubt man denn, daß das für die Dauer auf unser eignes soziales Elend ohne Einfluß bleiben kann? Glaubt man, mit Schutzzöllen für immer die Fabrikate der Kukis schlagen zu können, auch wenn man die Einfuhr von Kukis nach Europa verhindert? Glaubt man, daß die Bereitwilligkeit, die Lage unsrer Fabrikarbeiter zu bessern, bei uns wachsen wird, wenn man erst den Druck der billigen chinesischen Arbeit spürt, wenn man erst auf die Lage des chinesischen Kuli in den von unsern Unternehmern und unsern Technikern geleiteten Fabriken Chinas wird hin¬ weisen können? Wer wird denn den deutschen Betriebsdirektor oder Aufseher in der Fabrik am Jan-the-klang hindern, seine für fünfzig Pfennige arbeitenden Kukis mit der Peitsche und den üblichen Strafen chinesischer Gerechtigkeit zur Arbeit zu ermutigen? Und sollten solche Erfahrungen nicht auf die Moral bei uns zu Hause ihre Wirkung üben? Wir werden zuerst vielleicht eine reiche Ernte an Gewinn durch den Handel und durch die Anlage von Kapital in chinesischen Unternehmungen ein¬ heimsen. Aber nach einigen Jahren wird die üble Rückwirkung nicht aus¬ bleiben, wenn wir wie bisher China weiter aufschließen. So überlegen wir uns im ganzen und besonders in einigen Wissenszweigen den Chinesen gegen¬ über fühlen dürfen: man sollte die Kraft nicht unterschätzen, die in einer so alten Kultur, in einem so stark ausgeprägten Volkscharakter, in einer durch Geschichte und Naturanlage so verflüchtigten Volksmoral liegt. Was uns im ganzen denn doch noch heilig ist, die Religion, ist dort kaum vorhanden, und alle Religionslehren sind einmal von einem chinesischen Kaiser grundsätzlich verdammt worden- Was für uns die große noch ungelöste Frage der Zeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/367>, abgerufen am 23.07.2024.