Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Was in Vstaflen vorgeht

ganz so leicht herausstellen wird wie das Erwerben. Denn China und seine
tributpflichtigen Nebenländer sind denn doch etwas andres als die afrikanischen
Negergebiete, und um China handelt es sich heute in der That.

Und da haben nun auch wir auf chinesischem Boden Fuß gefaßt, und
zwar ohne daß von irgend einer Seite, weder von andern Staaten noch von
innern Nörglern dagegen Einspruch erhoben worden wäre. Daß dieses Vor¬
gehen unsrer Regierung im Volke so einmütig gutgeheißen wurde, ist nicht
nur erfreulich, sondern fast überraschend. Denn das ist Weltpolitik, mehr
Weltpolitik als die Erwerbung afrikanischer Kolonialländer, mehr selbst als
die jüngst beschlossene Vergrößerung unsrer Flotte es war -- allerdings unter
der Annahme, daß wir uns von Kiautschou aus an den Ereignissen kräftig
beteiligen wollen, die sich in Ostasien vorbereiten.

Man kann sagen, daß die europäische Kulturwelt im Begriff ist, ihren
Eroberungszug um die Erdkugel zu vollenden, Mittelasien und Ostasien sind
die letzten großen Gebiete, die dem Vordringen europäischen Wesens wider¬
standen haben, und das zwanzigste Jahrhundert wird Europa als das be¬
herrschende Haupt unsers Weltkörpers anerkennen. Wie merkwürdig ist es da,
daß auf diesem mehr als zweitausend Jahre dauernden Zuge wir zu allerletzt
an das größte und älteste der uns bekannten Reiche der Welt gelangt sind,
an einen Staat, der bisher eine Welt für sich war und, was mehr ist, eine
Kultur sür sich geschaffen hat, die wir, bei unserm Kulturstolz zwar mit
Widerstreben, dennoch anerkennen müssen. Denn nicht die Waffengewalt ist
der einzige und höchste Kulturmesser, sondern die Arbeitskraft.

Lange hat China sich gegen alles Eindringen europäischer Menschen und
Dinge gewehrt. Und welcher billig und objektiv denkende Mensch wollte ihm
das verargen? Braucht es, um das Recht der Chinesen auf ihre grundsätz¬
liche Abschließung zu erweisen, eines klareren Beispiels als die Vorgänge, die
zu unsrer Erwerbung von Kiautschou führten? Was konnte harmloser,
humaner, ja in unsern europäisch-christlichen Augen uneigennütziger und segen¬
reicher sein, als das Bestreben der christlichen Völker und Staaten, den armen
Chinesen das Evangelium zu predigen? War es nicht christliche Liebe, die
mit allen Opfern an Gut und Blut, mit Entsagung und Märtyrertum nach
China ging, um nichts zu nehmen, um das Beste zu geben? War es nicht
heidnische, rohe Verstocktheit, wenn China solchem Streben mit Abneigung, mit
Verachtung hindernd entgegentrat? Aber der nationale Widerwille, der doch
wahrlich nicht als eine besondre chinesische Eigentümlichkeit von uns bezeichnet
werden kann, brachte es dazu, daß ein paar dieser uneigennützigen Missionare
getötet wurden; und die Folge war, daß wir uns mit Kiautschou und Umgegend
für diesen Totschlag entschädigten!

Da steht nun die christliche Menschenliebe plötzlich mit Kanonen und
Schiffen, mit Schaufel und Hacke, mit Grubenlicht und Lokomotive ausgerüstet
da, und die Missionare sind verschwunden, die Maskerade ist aus; über Nacht


Was in Vstaflen vorgeht

ganz so leicht herausstellen wird wie das Erwerben. Denn China und seine
tributpflichtigen Nebenländer sind denn doch etwas andres als die afrikanischen
Negergebiete, und um China handelt es sich heute in der That.

Und da haben nun auch wir auf chinesischem Boden Fuß gefaßt, und
zwar ohne daß von irgend einer Seite, weder von andern Staaten noch von
innern Nörglern dagegen Einspruch erhoben worden wäre. Daß dieses Vor¬
gehen unsrer Regierung im Volke so einmütig gutgeheißen wurde, ist nicht
nur erfreulich, sondern fast überraschend. Denn das ist Weltpolitik, mehr
Weltpolitik als die Erwerbung afrikanischer Kolonialländer, mehr selbst als
die jüngst beschlossene Vergrößerung unsrer Flotte es war — allerdings unter
der Annahme, daß wir uns von Kiautschou aus an den Ereignissen kräftig
beteiligen wollen, die sich in Ostasien vorbereiten.

Man kann sagen, daß die europäische Kulturwelt im Begriff ist, ihren
Eroberungszug um die Erdkugel zu vollenden, Mittelasien und Ostasien sind
die letzten großen Gebiete, die dem Vordringen europäischen Wesens wider¬
standen haben, und das zwanzigste Jahrhundert wird Europa als das be¬
herrschende Haupt unsers Weltkörpers anerkennen. Wie merkwürdig ist es da,
daß auf diesem mehr als zweitausend Jahre dauernden Zuge wir zu allerletzt
an das größte und älteste der uns bekannten Reiche der Welt gelangt sind,
an einen Staat, der bisher eine Welt für sich war und, was mehr ist, eine
Kultur sür sich geschaffen hat, die wir, bei unserm Kulturstolz zwar mit
Widerstreben, dennoch anerkennen müssen. Denn nicht die Waffengewalt ist
der einzige und höchste Kulturmesser, sondern die Arbeitskraft.

Lange hat China sich gegen alles Eindringen europäischer Menschen und
Dinge gewehrt. Und welcher billig und objektiv denkende Mensch wollte ihm
das verargen? Braucht es, um das Recht der Chinesen auf ihre grundsätz¬
liche Abschließung zu erweisen, eines klareren Beispiels als die Vorgänge, die
zu unsrer Erwerbung von Kiautschou führten? Was konnte harmloser,
humaner, ja in unsern europäisch-christlichen Augen uneigennütziger und segen¬
reicher sein, als das Bestreben der christlichen Völker und Staaten, den armen
Chinesen das Evangelium zu predigen? War es nicht christliche Liebe, die
mit allen Opfern an Gut und Blut, mit Entsagung und Märtyrertum nach
China ging, um nichts zu nehmen, um das Beste zu geben? War es nicht
heidnische, rohe Verstocktheit, wenn China solchem Streben mit Abneigung, mit
Verachtung hindernd entgegentrat? Aber der nationale Widerwille, der doch
wahrlich nicht als eine besondre chinesische Eigentümlichkeit von uns bezeichnet
werden kann, brachte es dazu, daß ein paar dieser uneigennützigen Missionare
getötet wurden; und die Folge war, daß wir uns mit Kiautschou und Umgegend
für diesen Totschlag entschädigten!

Da steht nun die christliche Menschenliebe plötzlich mit Kanonen und
Schiffen, mit Schaufel und Hacke, mit Grubenlicht und Lokomotive ausgerüstet
da, und die Missionare sind verschwunden, die Maskerade ist aus; über Nacht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0363" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227999"/>
          <fw type="header" place="top"> Was in Vstaflen vorgeht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_989" prev="#ID_988"> ganz so leicht herausstellen wird wie das Erwerben. Denn China und seine<lb/>
tributpflichtigen Nebenländer sind denn doch etwas andres als die afrikanischen<lb/>
Negergebiete, und um China handelt es sich heute in der That.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_990"> Und da haben nun auch wir auf chinesischem Boden Fuß gefaßt, und<lb/>
zwar ohne daß von irgend einer Seite, weder von andern Staaten noch von<lb/>
innern Nörglern dagegen Einspruch erhoben worden wäre. Daß dieses Vor¬<lb/>
gehen unsrer Regierung im Volke so einmütig gutgeheißen wurde, ist nicht<lb/>
nur erfreulich, sondern fast überraschend. Denn das ist Weltpolitik, mehr<lb/>
Weltpolitik als die Erwerbung afrikanischer Kolonialländer, mehr selbst als<lb/>
die jüngst beschlossene Vergrößerung unsrer Flotte es war &#x2014; allerdings unter<lb/>
der Annahme, daß wir uns von Kiautschou aus an den Ereignissen kräftig<lb/>
beteiligen wollen, die sich in Ostasien vorbereiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_991"> Man kann sagen, daß die europäische Kulturwelt im Begriff ist, ihren<lb/>
Eroberungszug um die Erdkugel zu vollenden, Mittelasien und Ostasien sind<lb/>
die letzten großen Gebiete, die dem Vordringen europäischen Wesens wider¬<lb/>
standen haben, und das zwanzigste Jahrhundert wird Europa als das be¬<lb/>
herrschende Haupt unsers Weltkörpers anerkennen. Wie merkwürdig ist es da,<lb/>
daß auf diesem mehr als zweitausend Jahre dauernden Zuge wir zu allerletzt<lb/>
an das größte und älteste der uns bekannten Reiche der Welt gelangt sind,<lb/>
an einen Staat, der bisher eine Welt für sich war und, was mehr ist, eine<lb/>
Kultur sür sich geschaffen hat, die wir, bei unserm Kulturstolz zwar mit<lb/>
Widerstreben, dennoch anerkennen müssen. Denn nicht die Waffengewalt ist<lb/>
der einzige und höchste Kulturmesser, sondern die Arbeitskraft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_992"> Lange hat China sich gegen alles Eindringen europäischer Menschen und<lb/>
Dinge gewehrt. Und welcher billig und objektiv denkende Mensch wollte ihm<lb/>
das verargen? Braucht es, um das Recht der Chinesen auf ihre grundsätz¬<lb/>
liche Abschließung zu erweisen, eines klareren Beispiels als die Vorgänge, die<lb/>
zu unsrer Erwerbung von Kiautschou führten? Was konnte harmloser,<lb/>
humaner, ja in unsern europäisch-christlichen Augen uneigennütziger und segen¬<lb/>
reicher sein, als das Bestreben der christlichen Völker und Staaten, den armen<lb/>
Chinesen das Evangelium zu predigen? War es nicht christliche Liebe, die<lb/>
mit allen Opfern an Gut und Blut, mit Entsagung und Märtyrertum nach<lb/>
China ging, um nichts zu nehmen, um das Beste zu geben? War es nicht<lb/>
heidnische, rohe Verstocktheit, wenn China solchem Streben mit Abneigung, mit<lb/>
Verachtung hindernd entgegentrat? Aber der nationale Widerwille, der doch<lb/>
wahrlich nicht als eine besondre chinesische Eigentümlichkeit von uns bezeichnet<lb/>
werden kann, brachte es dazu, daß ein paar dieser uneigennützigen Missionare<lb/>
getötet wurden; und die Folge war, daß wir uns mit Kiautschou und Umgegend<lb/>
für diesen Totschlag entschädigten!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_993" next="#ID_994"> Da steht nun die christliche Menschenliebe plötzlich mit Kanonen und<lb/>
Schiffen, mit Schaufel und Hacke, mit Grubenlicht und Lokomotive ausgerüstet<lb/>
da, und die Missionare sind verschwunden, die Maskerade ist aus; über Nacht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0363] Was in Vstaflen vorgeht ganz so leicht herausstellen wird wie das Erwerben. Denn China und seine tributpflichtigen Nebenländer sind denn doch etwas andres als die afrikanischen Negergebiete, und um China handelt es sich heute in der That. Und da haben nun auch wir auf chinesischem Boden Fuß gefaßt, und zwar ohne daß von irgend einer Seite, weder von andern Staaten noch von innern Nörglern dagegen Einspruch erhoben worden wäre. Daß dieses Vor¬ gehen unsrer Regierung im Volke so einmütig gutgeheißen wurde, ist nicht nur erfreulich, sondern fast überraschend. Denn das ist Weltpolitik, mehr Weltpolitik als die Erwerbung afrikanischer Kolonialländer, mehr selbst als die jüngst beschlossene Vergrößerung unsrer Flotte es war — allerdings unter der Annahme, daß wir uns von Kiautschou aus an den Ereignissen kräftig beteiligen wollen, die sich in Ostasien vorbereiten. Man kann sagen, daß die europäische Kulturwelt im Begriff ist, ihren Eroberungszug um die Erdkugel zu vollenden, Mittelasien und Ostasien sind die letzten großen Gebiete, die dem Vordringen europäischen Wesens wider¬ standen haben, und das zwanzigste Jahrhundert wird Europa als das be¬ herrschende Haupt unsers Weltkörpers anerkennen. Wie merkwürdig ist es da, daß auf diesem mehr als zweitausend Jahre dauernden Zuge wir zu allerletzt an das größte und älteste der uns bekannten Reiche der Welt gelangt sind, an einen Staat, der bisher eine Welt für sich war und, was mehr ist, eine Kultur sür sich geschaffen hat, die wir, bei unserm Kulturstolz zwar mit Widerstreben, dennoch anerkennen müssen. Denn nicht die Waffengewalt ist der einzige und höchste Kulturmesser, sondern die Arbeitskraft. Lange hat China sich gegen alles Eindringen europäischer Menschen und Dinge gewehrt. Und welcher billig und objektiv denkende Mensch wollte ihm das verargen? Braucht es, um das Recht der Chinesen auf ihre grundsätz¬ liche Abschließung zu erweisen, eines klareren Beispiels als die Vorgänge, die zu unsrer Erwerbung von Kiautschou führten? Was konnte harmloser, humaner, ja in unsern europäisch-christlichen Augen uneigennütziger und segen¬ reicher sein, als das Bestreben der christlichen Völker und Staaten, den armen Chinesen das Evangelium zu predigen? War es nicht christliche Liebe, die mit allen Opfern an Gut und Blut, mit Entsagung und Märtyrertum nach China ging, um nichts zu nehmen, um das Beste zu geben? War es nicht heidnische, rohe Verstocktheit, wenn China solchem Streben mit Abneigung, mit Verachtung hindernd entgegentrat? Aber der nationale Widerwille, der doch wahrlich nicht als eine besondre chinesische Eigentümlichkeit von uns bezeichnet werden kann, brachte es dazu, daß ein paar dieser uneigennützigen Missionare getötet wurden; und die Folge war, daß wir uns mit Kiautschou und Umgegend für diesen Totschlag entschädigten! Da steht nun die christliche Menschenliebe plötzlich mit Kanonen und Schiffen, mit Schaufel und Hacke, mit Grubenlicht und Lokomotive ausgerüstet da, und die Missionare sind verschwunden, die Maskerade ist aus; über Nacht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/363
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/363>, abgerufen am 23.07.2024.