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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane und Novellen

Wandlung übertriebnen Rechtsbewnßtseins die letzten Jahre seines Lebens getrübt
hat. Wenn man nach dem von seiner Gattin, Hermine von Preuschen, gemalten
Bilde urteilen darf, das ihn in seinem Arbeitszimmer darstellt, so muß er bei
seinem dichterischen Schaffen allerlei sinnliche Anregungen von außen gebraucht
haben: ein mit orientalischer Pracht ausgestattetes Zimmer, ein phantastisches
Ruhebett, auf dem er seinen Träumen nachhängen konnte, Dekorationen, wie
man sie häufiger bei Schauspielerinnen als bei ernsten Schriftstellern findet.
Aus dieser Umgebung kann man sich die bisweilen wie von Fieberwahn
diktirten Romane seiner letzten Zeit erklären; aber in diesem Zustand der
Ekstase verließ ihn auch die Erinnerung an das Leben, das er auf seinen
häufigen Reisen durch Italien, die Schweiz, Süd- und Norddeutschland
kennen gelernt hatte. Unter diesem Verhängnis seines Lebens haben besonders
seine letzten Romane gelitten, deren Handlung in Norddeutschland spielt. So
auch sein letzt erschienener Roman Gottbegnadet (Dresden, Karl Meißner),
der eigentlich nur in dem hastigen, aufgeregten, hie und da auch glänzenden
Stil die Hand Telmcmus verrät. Die Erfindung und die Charakteristik der
Personen geht aber nirgends über die Routine eines Erzählers hinaus, der,
ohne einen höhern künstlerischen Zweck vor Augen zu haben, nur zur Unter¬
haltung seiner Leser schreibt. Die Geschichte von der Liebschaft, der Ehe, der
Trennung und der schließlichen Wiederversöhnung eines verwöhnten Mutter-
fohnes, der als Gescmgsvirtuose im Winter in Berlin, im Sommer in den
Bädern sein Irrlicht leuchten läßt, und einer soliden Kaufmannstochter aus
Stettin ist nicht einmal spannend im Sinne sensationslüsterner Leser. Aber
sie liest sich leicht und nett, und mit diesem Erfolg begnügen sich viele Schrift¬
steller. Telmann war ehrgeiziger. Es muß ihm aber doch an Selbstkritik ge¬
suhlt haben, sonst Würde er, der in seinen italienischen, besonders in seinen
sizilianischen Novellen dicht an Paul Heyse herangerückt ist, nicht Romane zu
alltäglicher Unterhaltung geschrieben haben.

Dafür sorgt ein ganzes Heer von Schriftstellern und Schriftstellerinnen
w Berlin, die sich, nachdem einmal das Stichwort vom "Berliner Roman"
gefallen war -- wohl zuerst von dem schnell vergessenen Paul Lindau --,
ort großer Fingerfertigkeit auf diese neue Romcmgattuug gestürzt haben. Dabei
handelte es sich natürlich nur um eine Veränderung des Stoffgebiets, nicht
UM eine Umwälzung der litterarischen Gattung, die sich die Wortführer und
Bahnbrecher für den "Berliner Roman" von ihrer großartigen Entdeckung ver¬
sprochen hatten. Zuerst kamen die mehr oder weniger witzigen Fabrikanten
und Spekulanten wie Paul Lindau, Hugo Lubliucr und Fritz Mcmthner, die
"lie zusammen keinen Funken dichterischer Gestaltungskraft haben, dann die
Naturalisten, die in dem Kote der vorstädtischen Gassen und Proletarier¬
wohnungen herumwühlten, und zuletzt die federgewandten Damen, die wirklich
"l Berlin ^V. und in Berlin 0. Bescheid wußten öder doch wenigstens so


Neue Romane und Novellen

Wandlung übertriebnen Rechtsbewnßtseins die letzten Jahre seines Lebens getrübt
hat. Wenn man nach dem von seiner Gattin, Hermine von Preuschen, gemalten
Bilde urteilen darf, das ihn in seinem Arbeitszimmer darstellt, so muß er bei
seinem dichterischen Schaffen allerlei sinnliche Anregungen von außen gebraucht
haben: ein mit orientalischer Pracht ausgestattetes Zimmer, ein phantastisches
Ruhebett, auf dem er seinen Träumen nachhängen konnte, Dekorationen, wie
man sie häufiger bei Schauspielerinnen als bei ernsten Schriftstellern findet.
Aus dieser Umgebung kann man sich die bisweilen wie von Fieberwahn
diktirten Romane seiner letzten Zeit erklären; aber in diesem Zustand der
Ekstase verließ ihn auch die Erinnerung an das Leben, das er auf seinen
häufigen Reisen durch Italien, die Schweiz, Süd- und Norddeutschland
kennen gelernt hatte. Unter diesem Verhängnis seines Lebens haben besonders
seine letzten Romane gelitten, deren Handlung in Norddeutschland spielt. So
auch sein letzt erschienener Roman Gottbegnadet (Dresden, Karl Meißner),
der eigentlich nur in dem hastigen, aufgeregten, hie und da auch glänzenden
Stil die Hand Telmcmus verrät. Die Erfindung und die Charakteristik der
Personen geht aber nirgends über die Routine eines Erzählers hinaus, der,
ohne einen höhern künstlerischen Zweck vor Augen zu haben, nur zur Unter¬
haltung seiner Leser schreibt. Die Geschichte von der Liebschaft, der Ehe, der
Trennung und der schließlichen Wiederversöhnung eines verwöhnten Mutter-
fohnes, der als Gescmgsvirtuose im Winter in Berlin, im Sommer in den
Bädern sein Irrlicht leuchten läßt, und einer soliden Kaufmannstochter aus
Stettin ist nicht einmal spannend im Sinne sensationslüsterner Leser. Aber
sie liest sich leicht und nett, und mit diesem Erfolg begnügen sich viele Schrift¬
steller. Telmann war ehrgeiziger. Es muß ihm aber doch an Selbstkritik ge¬
suhlt haben, sonst Würde er, der in seinen italienischen, besonders in seinen
sizilianischen Novellen dicht an Paul Heyse herangerückt ist, nicht Romane zu
alltäglicher Unterhaltung geschrieben haben.

Dafür sorgt ein ganzes Heer von Schriftstellern und Schriftstellerinnen
w Berlin, die sich, nachdem einmal das Stichwort vom „Berliner Roman"
gefallen war — wohl zuerst von dem schnell vergessenen Paul Lindau —,
ort großer Fingerfertigkeit auf diese neue Romcmgattuug gestürzt haben. Dabei
handelte es sich natürlich nur um eine Veränderung des Stoffgebiets, nicht
UM eine Umwälzung der litterarischen Gattung, die sich die Wortführer und
Bahnbrecher für den „Berliner Roman" von ihrer großartigen Entdeckung ver¬
sprochen hatten. Zuerst kamen die mehr oder weniger witzigen Fabrikanten
und Spekulanten wie Paul Lindau, Hugo Lubliucr und Fritz Mcmthner, die
"lie zusammen keinen Funken dichterischer Gestaltungskraft haben, dann die
Naturalisten, die in dem Kote der vorstädtischen Gassen und Proletarier¬
wohnungen herumwühlten, und zuletzt die federgewandten Damen, die wirklich
"l Berlin ^V. und in Berlin 0. Bescheid wußten öder doch wenigstens so


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[0035] Neue Romane und Novellen Wandlung übertriebnen Rechtsbewnßtseins die letzten Jahre seines Lebens getrübt hat. Wenn man nach dem von seiner Gattin, Hermine von Preuschen, gemalten Bilde urteilen darf, das ihn in seinem Arbeitszimmer darstellt, so muß er bei seinem dichterischen Schaffen allerlei sinnliche Anregungen von außen gebraucht haben: ein mit orientalischer Pracht ausgestattetes Zimmer, ein phantastisches Ruhebett, auf dem er seinen Träumen nachhängen konnte, Dekorationen, wie man sie häufiger bei Schauspielerinnen als bei ernsten Schriftstellern findet. Aus dieser Umgebung kann man sich die bisweilen wie von Fieberwahn diktirten Romane seiner letzten Zeit erklären; aber in diesem Zustand der Ekstase verließ ihn auch die Erinnerung an das Leben, das er auf seinen häufigen Reisen durch Italien, die Schweiz, Süd- und Norddeutschland kennen gelernt hatte. Unter diesem Verhängnis seines Lebens haben besonders seine letzten Romane gelitten, deren Handlung in Norddeutschland spielt. So auch sein letzt erschienener Roman Gottbegnadet (Dresden, Karl Meißner), der eigentlich nur in dem hastigen, aufgeregten, hie und da auch glänzenden Stil die Hand Telmcmus verrät. Die Erfindung und die Charakteristik der Personen geht aber nirgends über die Routine eines Erzählers hinaus, der, ohne einen höhern künstlerischen Zweck vor Augen zu haben, nur zur Unter¬ haltung seiner Leser schreibt. Die Geschichte von der Liebschaft, der Ehe, der Trennung und der schließlichen Wiederversöhnung eines verwöhnten Mutter- fohnes, der als Gescmgsvirtuose im Winter in Berlin, im Sommer in den Bädern sein Irrlicht leuchten läßt, und einer soliden Kaufmannstochter aus Stettin ist nicht einmal spannend im Sinne sensationslüsterner Leser. Aber sie liest sich leicht und nett, und mit diesem Erfolg begnügen sich viele Schrift¬ steller. Telmann war ehrgeiziger. Es muß ihm aber doch an Selbstkritik ge¬ suhlt haben, sonst Würde er, der in seinen italienischen, besonders in seinen sizilianischen Novellen dicht an Paul Heyse herangerückt ist, nicht Romane zu alltäglicher Unterhaltung geschrieben haben. Dafür sorgt ein ganzes Heer von Schriftstellern und Schriftstellerinnen w Berlin, die sich, nachdem einmal das Stichwort vom „Berliner Roman" gefallen war — wohl zuerst von dem schnell vergessenen Paul Lindau —, ort großer Fingerfertigkeit auf diese neue Romcmgattuug gestürzt haben. Dabei handelte es sich natürlich nur um eine Veränderung des Stoffgebiets, nicht UM eine Umwälzung der litterarischen Gattung, die sich die Wortführer und Bahnbrecher für den „Berliner Roman" von ihrer großartigen Entdeckung ver¬ sprochen hatten. Zuerst kamen die mehr oder weniger witzigen Fabrikanten und Spekulanten wie Paul Lindau, Hugo Lubliucr und Fritz Mcmthner, die "lie zusammen keinen Funken dichterischer Gestaltungskraft haben, dann die Naturalisten, die in dem Kote der vorstädtischen Gassen und Proletarier¬ wohnungen herumwühlten, und zuletzt die federgewandten Damen, die wirklich "l Berlin ^V. und in Berlin 0. Bescheid wußten öder doch wenigstens so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/35>, abgerufen am 27.12.2024.