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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Die Flucht vom Lande

diesen Bauerngemeinden zahlreiche weitere Arbeitslustige aus den Kreise" der
Familienangehörigen kleiner und mittlerer Wirte träten, die keinen Anstand nähmen,
in fremden Dienst zu treten.

Man sieht, mit der Kolonisation allein ist nicht geholfen, es kommt darauf
an, wie kvlonisirt wird. An eine schablonenhafte Übertragung der Grnndeigentums-
verfassuug ans dem Westen nach dem Osten ist natürlich nicht zu denken. Nicht
nnr der Boden, sondern die Gesamtkultur von Land und Volk macht meiner An¬
sicht nach eine weitgehende Erhaltung des Großgrundbesitzes und des Gro߬
betriebs in den östlichen Grenzprovinzeu für hundert Jahre erwünscht. Aber wenn
wir deutsche Landarbeiter im Osten erhalten wollen, die mehr wert siud als
Polen, so ist zweierlei aus dem Westen herüberzuholen, einmal, und zwar sofort,
die Möglichkeit für den Arbeiter, zum selbständigen, von einem Brodherrn völlig
unabhängigen Grundeigentümer zu werden, und zweitens, so bald als möglich, sich
als berechtigtes Mitglied der Heimatsgcmeiude zu fühlen. Die Begründung und
Besiedlung von thatsächlich oder rechtlich geschlossenen Zwerggütern hilft nichts.
Wie soll der Arbeiter durch sie zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit gelangen?
In der That zielt die agrarische Kolonisation leider vielfach geradezu darauf ab,
dies zu verhüten. Die erste Rücksicht ist für sie, die Arbeiter zu fesseln, sodaß sie
dauernd unselbständig und unabhängig, womöglich auf ein einziges größeres Gut
als Arbeitsgelegenheit angewiesen bleiben. Ohne Beweglichkeit des Grundeigentums
läßt sich gerade heute, wo es gilt, eine ucich freier Bewegung verlangende Bevölke¬
rungsklasse an die Heimat zu fesseln und an die größte Freiheit gewöhnte Kolonisten
heran zu ziehe", nichts erreichen. Gelingt es aber, in hinreichender Anzahl Ge¬
meinden zu schaffen mit der Möglichkeit für den Arbeiter, als Grundeigentümer
klein anzufangen und sich allmählich zur vollen Selbständigkeit zu vergrößern, so
werden diese Wirte die Söhne niemals, die Töchter nur zum Teil in der eignen
Wirtschaft lohnend verwenden können, und mit der Zeit werden die Anwärter für
den Gesindedienst und die freie Arbeit zunehmen. Pnchtäcker können dabei helfen,
nur hat das Ansetze" von Zwergpächtern durch Großgrundbesitzer, wenn der Zwang
zur Arbeit dabei der Zweck ist, für die Frage, um die es sich hier handelt, gar
keinen Wert. Eine Schablone giebt es überhaupt nicht, nur müssen die zur Durch¬
führung der Kolonisation Berufnen das Ziel, die Landbevölkerung mit Aussicht auf
Selbständigkeit auszustatten, keiner Nebenrücksicht opfern, sie müssen mit einem Worte
ehrlich zu Werke gehen.

Die großen Schwierigkeiten, die der Seßhaftigkeit einer tüchtigen deutsche"
Laudarbeiterschaft durch die ostelbische Gemeiudeverfnssuug in den Weg gelegt werden,
find nicht zu verkenne". Ich meine aber, daß sich in Gegenden, wo die Kolo¬
nisation selbst wirksam durchgeführt ist, der Boden für zeitgemäße Reformen schon
ergeben wird. Unterbleiben dürfen sie nicht, aber sie sind nicht zur Voraussetzung
des Beginns der Laudreform zu machen. Mit der Schablonenhaften Beseitigung
der Gutsbezirke den Anfang machen zu "vollen, hieße das Pferd beim Schwänze
aufzäumen.

Aber der wichtigste Teil der Reform sollte -- wenn Preußen noch Preußen
ist -- unverzüglich von allen königlichen Beamten im Osten begonnen werden, die
rücksichtslose, dienstliche und außerdienstliche Einwirkung auf die Arbeitgeber zur
Herbeiführung einer andern Auffassung des Verhältnisses vorn deutschen Herrn
zum deutscheu Knecht. Selbst das Wohlwollen hat auf diesem Gebiete im Osten
Formen beibehalten, die hente der Arbeiterschaft die Heimat verleiden müssen.
Die landwirtschaftlichen Arbeitgeber sind darin hinter deu industriellen zurück-


Die Flucht vom Lande

diesen Bauerngemeinden zahlreiche weitere Arbeitslustige aus den Kreise» der
Familienangehörigen kleiner und mittlerer Wirte träten, die keinen Anstand nähmen,
in fremden Dienst zu treten.

Man sieht, mit der Kolonisation allein ist nicht geholfen, es kommt darauf
an, wie kvlonisirt wird. An eine schablonenhafte Übertragung der Grnndeigentums-
verfassuug ans dem Westen nach dem Osten ist natürlich nicht zu denken. Nicht
nnr der Boden, sondern die Gesamtkultur von Land und Volk macht meiner An¬
sicht nach eine weitgehende Erhaltung des Großgrundbesitzes und des Gro߬
betriebs in den östlichen Grenzprovinzeu für hundert Jahre erwünscht. Aber wenn
wir deutsche Landarbeiter im Osten erhalten wollen, die mehr wert siud als
Polen, so ist zweierlei aus dem Westen herüberzuholen, einmal, und zwar sofort,
die Möglichkeit für den Arbeiter, zum selbständigen, von einem Brodherrn völlig
unabhängigen Grundeigentümer zu werden, und zweitens, so bald als möglich, sich
als berechtigtes Mitglied der Heimatsgcmeiude zu fühlen. Die Begründung und
Besiedlung von thatsächlich oder rechtlich geschlossenen Zwerggütern hilft nichts.
Wie soll der Arbeiter durch sie zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit gelangen?
In der That zielt die agrarische Kolonisation leider vielfach geradezu darauf ab,
dies zu verhüten. Die erste Rücksicht ist für sie, die Arbeiter zu fesseln, sodaß sie
dauernd unselbständig und unabhängig, womöglich auf ein einziges größeres Gut
als Arbeitsgelegenheit angewiesen bleiben. Ohne Beweglichkeit des Grundeigentums
läßt sich gerade heute, wo es gilt, eine ucich freier Bewegung verlangende Bevölke¬
rungsklasse an die Heimat zu fesseln und an die größte Freiheit gewöhnte Kolonisten
heran zu ziehe», nichts erreichen. Gelingt es aber, in hinreichender Anzahl Ge¬
meinden zu schaffen mit der Möglichkeit für den Arbeiter, als Grundeigentümer
klein anzufangen und sich allmählich zur vollen Selbständigkeit zu vergrößern, so
werden diese Wirte die Söhne niemals, die Töchter nur zum Teil in der eignen
Wirtschaft lohnend verwenden können, und mit der Zeit werden die Anwärter für
den Gesindedienst und die freie Arbeit zunehmen. Pnchtäcker können dabei helfen,
nur hat das Ansetze» von Zwergpächtern durch Großgrundbesitzer, wenn der Zwang
zur Arbeit dabei der Zweck ist, für die Frage, um die es sich hier handelt, gar
keinen Wert. Eine Schablone giebt es überhaupt nicht, nur müssen die zur Durch¬
führung der Kolonisation Berufnen das Ziel, die Landbevölkerung mit Aussicht auf
Selbständigkeit auszustatten, keiner Nebenrücksicht opfern, sie müssen mit einem Worte
ehrlich zu Werke gehen.

Die großen Schwierigkeiten, die der Seßhaftigkeit einer tüchtigen deutsche»
Laudarbeiterschaft durch die ostelbische Gemeiudeverfnssuug in den Weg gelegt werden,
find nicht zu verkenne«. Ich meine aber, daß sich in Gegenden, wo die Kolo¬
nisation selbst wirksam durchgeführt ist, der Boden für zeitgemäße Reformen schon
ergeben wird. Unterbleiben dürfen sie nicht, aber sie sind nicht zur Voraussetzung
des Beginns der Laudreform zu machen. Mit der Schablonenhaften Beseitigung
der Gutsbezirke den Anfang machen zu »vollen, hieße das Pferd beim Schwänze
aufzäumen.

Aber der wichtigste Teil der Reform sollte — wenn Preußen noch Preußen
ist — unverzüglich von allen königlichen Beamten im Osten begonnen werden, die
rücksichtslose, dienstliche und außerdienstliche Einwirkung auf die Arbeitgeber zur
Herbeiführung einer andern Auffassung des Verhältnisses vorn deutschen Herrn
zum deutscheu Knecht. Selbst das Wohlwollen hat auf diesem Gebiete im Osten
Formen beibehalten, die hente der Arbeiterschaft die Heimat verleiden müssen.
Die landwirtschaftlichen Arbeitgeber sind darin hinter deu industriellen zurück-


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[0355] Die Flucht vom Lande diesen Bauerngemeinden zahlreiche weitere Arbeitslustige aus den Kreise» der Familienangehörigen kleiner und mittlerer Wirte träten, die keinen Anstand nähmen, in fremden Dienst zu treten. Man sieht, mit der Kolonisation allein ist nicht geholfen, es kommt darauf an, wie kvlonisirt wird. An eine schablonenhafte Übertragung der Grnndeigentums- verfassuug ans dem Westen nach dem Osten ist natürlich nicht zu denken. Nicht nnr der Boden, sondern die Gesamtkultur von Land und Volk macht meiner An¬ sicht nach eine weitgehende Erhaltung des Großgrundbesitzes und des Gro߬ betriebs in den östlichen Grenzprovinzeu für hundert Jahre erwünscht. Aber wenn wir deutsche Landarbeiter im Osten erhalten wollen, die mehr wert siud als Polen, so ist zweierlei aus dem Westen herüberzuholen, einmal, und zwar sofort, die Möglichkeit für den Arbeiter, zum selbständigen, von einem Brodherrn völlig unabhängigen Grundeigentümer zu werden, und zweitens, so bald als möglich, sich als berechtigtes Mitglied der Heimatsgcmeiude zu fühlen. Die Begründung und Besiedlung von thatsächlich oder rechtlich geschlossenen Zwerggütern hilft nichts. Wie soll der Arbeiter durch sie zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit gelangen? In der That zielt die agrarische Kolonisation leider vielfach geradezu darauf ab, dies zu verhüten. Die erste Rücksicht ist für sie, die Arbeiter zu fesseln, sodaß sie dauernd unselbständig und unabhängig, womöglich auf ein einziges größeres Gut als Arbeitsgelegenheit angewiesen bleiben. Ohne Beweglichkeit des Grundeigentums läßt sich gerade heute, wo es gilt, eine ucich freier Bewegung verlangende Bevölke¬ rungsklasse an die Heimat zu fesseln und an die größte Freiheit gewöhnte Kolonisten heran zu ziehe», nichts erreichen. Gelingt es aber, in hinreichender Anzahl Ge¬ meinden zu schaffen mit der Möglichkeit für den Arbeiter, als Grundeigentümer klein anzufangen und sich allmählich zur vollen Selbständigkeit zu vergrößern, so werden diese Wirte die Söhne niemals, die Töchter nur zum Teil in der eignen Wirtschaft lohnend verwenden können, und mit der Zeit werden die Anwärter für den Gesindedienst und die freie Arbeit zunehmen. Pnchtäcker können dabei helfen, nur hat das Ansetze» von Zwergpächtern durch Großgrundbesitzer, wenn der Zwang zur Arbeit dabei der Zweck ist, für die Frage, um die es sich hier handelt, gar keinen Wert. Eine Schablone giebt es überhaupt nicht, nur müssen die zur Durch¬ führung der Kolonisation Berufnen das Ziel, die Landbevölkerung mit Aussicht auf Selbständigkeit auszustatten, keiner Nebenrücksicht opfern, sie müssen mit einem Worte ehrlich zu Werke gehen. Die großen Schwierigkeiten, die der Seßhaftigkeit einer tüchtigen deutsche» Laudarbeiterschaft durch die ostelbische Gemeiudeverfnssuug in den Weg gelegt werden, find nicht zu verkenne«. Ich meine aber, daß sich in Gegenden, wo die Kolo¬ nisation selbst wirksam durchgeführt ist, der Boden für zeitgemäße Reformen schon ergeben wird. Unterbleiben dürfen sie nicht, aber sie sind nicht zur Voraussetzung des Beginns der Laudreform zu machen. Mit der Schablonenhaften Beseitigung der Gutsbezirke den Anfang machen zu »vollen, hieße das Pferd beim Schwänze aufzäumen. Aber der wichtigste Teil der Reform sollte — wenn Preußen noch Preußen ist — unverzüglich von allen königlichen Beamten im Osten begonnen werden, die rücksichtslose, dienstliche und außerdienstliche Einwirkung auf die Arbeitgeber zur Herbeiführung einer andern Auffassung des Verhältnisses vorn deutschen Herrn zum deutscheu Knecht. Selbst das Wohlwollen hat auf diesem Gebiete im Osten Formen beibehalten, die hente der Arbeiterschaft die Heimat verleiden müssen. Die landwirtschaftlichen Arbeitgeber sind darin hinter deu industriellen zurück-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/355>, abgerufen am 27.12.2024.