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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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der Unterschied zwischen dem unehelichen Sohn einer thüringischen Bäuerin
und der verarmten Tochter eines Grafen, die sich zur Sicherung ihres Lebens¬
unterhalts selbst mit Energie des Kunsthandwerks befleißigt hat, leicht aus¬
geglichen, ohne daß einer dem andern seine Familiengcheimnisse abfragt.

Auch hier liegt die Stärke der künstlerischen Darstellung nicht in der
etwas breit ausgesponnenen Schilderung der mannigfachen Schwankungen in
den äußern Schicksalen und den innern Wandlungen des Liebespaares, sondern
in der liebevollen und doch nicht aufdringlichen Kleinmalerei, die uns die ein¬
samen, während des Winters tief im Schnee vergrabnen Dörfer des Thüringer
Waldes, ihre genügsamen Menschen, ihre harte Arbeit, ihre Mühsale, unter
denen der angeborne Kunsttrieb noch immer nicht erstarrt ist, und dann wieder
das reichere, aber im Grunde doch enge und engherzige Kunst- und Gesell¬
schaftsleben in der größten thüringischen Residenz vorführen. Man möchte
nicht gern an die Wahrheit dieser" Schilderungen glauben -- aber von Jahr
zu Jahr mehren sich die Anzeichen, die auch den begeistertsten Verehrer der
in Ilm-Athen bewahrten litterarischen und künstlerischen Herrlichkeiten, soweit
es sich um ihr Nachwirken in unsrer Zeit handelt, stutzig machen müssen.

Der im Januar vorigen Jahres in Rom verstorbne Konrad Telmann
hat, obwohl er sein Leben nur auf dreiundvierzig Jahre gebracht und während
dieser Zeit fast stets mit schwerem Siechtum zu kämpfen gehabt hat, eine selbst
in unserm Zeitalter der litterarischen Produktion mit Dampf noch wahrhaft
unheimliche Thätigkeit entfaltet. Er hat von 1875 bis 1897 über achtzig
Bände Gedichte, Novellen, Skizzen und Romane veröffentlicht, und bei seinem
Tode wurde erzählt, daß sich noch in seinein Nachlaß einige unveröffentlichte
Manuskripte vorgefunden Hütten. Damals haben auch nachsichtige Freunde
dieses Übermaß von schriftstellerischen Schaffen aus seinem krankhaften Zu¬
stande erklärt. Den Tod vor Augen, hätte er sich gedrängt gefühlt, vor dem
Scheiden von dieser Erde noch alles herunterznschreiben, was er auf dem
Herzen hatte, was ihn bewegte, um der durch leibliche oder geistige Knecht¬
schaft leidenden Menschheit aufzuhelfen. Er hat auch wirklich durch seine von
wahrhaftem Mitgefühl erfüllten Schilderungen aus dem Leben der Landbevölke¬
rung in Sizilien, in Oberitalien und in Südtirol vielen die Augen über soziale
und geistige Schäden geöffnet, und namentlich war es sein Verdienst, durch
seinen Roman "Unter den Dolomiten" nach dem Einschlafen des Kulturkampfs
in Deutschland wieder die allgemeine Aufmerksamkeit auf die verderbliche
Pfafsenwirtschaft in den Ländern gelenkt zu haben, die dem Sommertvuristen
als ein Abglanz paradiesischer Herrlichkeit, dem denkenden Eingebornen als
die Hölle auf Erden erscheinen. Aber die Tendenzdichtung wiegt in dem litte¬
rarischen Nachlaß eines Dichters, den man nach seinem Tode streng auf seinen
wirklichen Gehalt prüft, ebenso leicht wie die in gewisse Romane eingestochene
Kritik an bekannten Menschen unsrer Zeit, mit der sich Telmann in einer An-


der Unterschied zwischen dem unehelichen Sohn einer thüringischen Bäuerin
und der verarmten Tochter eines Grafen, die sich zur Sicherung ihres Lebens¬
unterhalts selbst mit Energie des Kunsthandwerks befleißigt hat, leicht aus¬
geglichen, ohne daß einer dem andern seine Familiengcheimnisse abfragt.

Auch hier liegt die Stärke der künstlerischen Darstellung nicht in der
etwas breit ausgesponnenen Schilderung der mannigfachen Schwankungen in
den äußern Schicksalen und den innern Wandlungen des Liebespaares, sondern
in der liebevollen und doch nicht aufdringlichen Kleinmalerei, die uns die ein¬
samen, während des Winters tief im Schnee vergrabnen Dörfer des Thüringer
Waldes, ihre genügsamen Menschen, ihre harte Arbeit, ihre Mühsale, unter
denen der angeborne Kunsttrieb noch immer nicht erstarrt ist, und dann wieder
das reichere, aber im Grunde doch enge und engherzige Kunst- und Gesell¬
schaftsleben in der größten thüringischen Residenz vorführen. Man möchte
nicht gern an die Wahrheit dieser" Schilderungen glauben — aber von Jahr
zu Jahr mehren sich die Anzeichen, die auch den begeistertsten Verehrer der
in Ilm-Athen bewahrten litterarischen und künstlerischen Herrlichkeiten, soweit
es sich um ihr Nachwirken in unsrer Zeit handelt, stutzig machen müssen.

Der im Januar vorigen Jahres in Rom verstorbne Konrad Telmann
hat, obwohl er sein Leben nur auf dreiundvierzig Jahre gebracht und während
dieser Zeit fast stets mit schwerem Siechtum zu kämpfen gehabt hat, eine selbst
in unserm Zeitalter der litterarischen Produktion mit Dampf noch wahrhaft
unheimliche Thätigkeit entfaltet. Er hat von 1875 bis 1897 über achtzig
Bände Gedichte, Novellen, Skizzen und Romane veröffentlicht, und bei seinem
Tode wurde erzählt, daß sich noch in seinein Nachlaß einige unveröffentlichte
Manuskripte vorgefunden Hütten. Damals haben auch nachsichtige Freunde
dieses Übermaß von schriftstellerischen Schaffen aus seinem krankhaften Zu¬
stande erklärt. Den Tod vor Augen, hätte er sich gedrängt gefühlt, vor dem
Scheiden von dieser Erde noch alles herunterznschreiben, was er auf dem
Herzen hatte, was ihn bewegte, um der durch leibliche oder geistige Knecht¬
schaft leidenden Menschheit aufzuhelfen. Er hat auch wirklich durch seine von
wahrhaftem Mitgefühl erfüllten Schilderungen aus dem Leben der Landbevölke¬
rung in Sizilien, in Oberitalien und in Südtirol vielen die Augen über soziale
und geistige Schäden geöffnet, und namentlich war es sein Verdienst, durch
seinen Roman „Unter den Dolomiten" nach dem Einschlafen des Kulturkampfs
in Deutschland wieder die allgemeine Aufmerksamkeit auf die verderbliche
Pfafsenwirtschaft in den Ländern gelenkt zu haben, die dem Sommertvuristen
als ein Abglanz paradiesischer Herrlichkeit, dem denkenden Eingebornen als
die Hölle auf Erden erscheinen. Aber die Tendenzdichtung wiegt in dem litte¬
rarischen Nachlaß eines Dichters, den man nach seinem Tode streng auf seinen
wirklichen Gehalt prüft, ebenso leicht wie die in gewisse Romane eingestochene
Kritik an bekannten Menschen unsrer Zeit, mit der sich Telmann in einer An-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/34>, abgerufen am 23.07.2024.