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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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General Friedrich von Gagern

Nun feuerten aber auch die Hessen und trieben die bereits schwankenden Haufen
der Gegner mit Kolben und Bajonett in die vollständigste Flucht. Es ging
dabei auf dem kleinen Platz etwas bunt durch einander, die letzten, aus dem
Walde Vertriebnen Schützen mußten sogar ihren Weg über die Scheidegg nehmen,
um auf die Rückzugslinie ihres Hanpttrupps zu gelaugen. Die hessische
Kompagnie hatte mit einem Verlust von neun Verwundeten die Entscheidung
bewirkt, die nächste badische Kompagnie war im ersten Schrecken auseinander¬
gelaufen; bevor sie wieder gesammelt worden war, und die noch weiter zurück
befindlichen Badener und Hessen auf der Scheidegg eintrafen, war alles vor¬
über, und die Hessen bereits um den gefallnen General bemüht.

Hinterher ist von aufständischer Seite sehr viel Ruhmrediges über dieses
"Gefecht" verbreitet worden; man kennt ja die "Heldengeschichte" jener Tage.
Es verlohnt sich nicht, diese Ungereimtheiten und Widersprüche wieder zu er¬
wähnen. Nur der nachträglichen Behauptung Kaisers, daß Gagern die Auf¬
rührer auf der Scheidegg "Gesindel" genannt, und der Erfindung Mvglings,
der General habe selbst eine Pistole abgefeuert, wollen wir hier entgegentreten.
Jener Ausdruck lag der seinen Denkuugs- und Ausdrucksweise Friedrichs
von Gagern vollkommen fern, und Pistolen hatte er gar nicht zur Verfügung.
All diese erfundnen Einzelheiten sollten bloß den weitverbreiteten Eindruck ab¬
schwächen, der den Tod des Generals als berechneten, feigen Meuchelmord
kennzeichnete. Auch diese Auffassung ist falsch. Gagern fiel, weil er sich,
wahrscheinlich aus Mangel an Vertrauen auf die Festigkeit seiner Truppen,
zu sehr aussetzte, er fiel, weil er das angebliche "Gesindel" zu sehr schonte,
denn diese Haufen wären bei den ersten Schüssen auseinaudergestoben, wie
es dieser Tag und die darauf folgende Woche hinreichend dargethan hat. Daß
sich die Konstanzer Schützen bei dem Haß und der Verblendung jener Zeit
eingebildet haben mögen, eine Großthat sür Freiheit und Vaterland zu begehen,
als sie den "Aristokraten" auf sechzig Schritte Entfernung vom Pferde knallten,
ist leider kaum zu bestreiten. Sie hatten ja keine Ahnung davon, daß sie den
Mann niederstreckten, in dessen klarem Geiste das Gebilde der Zukunft, das
Wir heute unser Vaterland nennen, in deutlichen Linien vorgezeichnet stand.

Als Hauptmann Keim mit seiner Kompagnie die Scheidegg gesäubert
hatte, und Leutnant Becker sich links nach dem Walde wandte, wo noch
Schützen hinter den Bäumen Stand hielten, rief letzterer dem Hauptmaim zu:
"Herr Hauptmann, unser General ist tot!" Keim eilte hin, sah Gagern unter
dem toten Pferde liegen und bemerkte, daß er noch lebte. Er rief: "Meine
Herren und ein paar Schützen, rasch hierher, er lebt noch!" Inzwischen hatte
Leutnant Becker eine schwarzrotgoldne Fahne aufgehoben, die ein Flüchtiger
weggeworfen, begab sich aber ans den Ruf des Hauptmanns zu ihm und half
ihm mit drei Schützen den General unter dem Pferde hervorzuziehen. Mittler¬
meile wurden die letzten Freischärler unter Mitwirkung der durch den Wald


General Friedrich von Gagern

Nun feuerten aber auch die Hessen und trieben die bereits schwankenden Haufen
der Gegner mit Kolben und Bajonett in die vollständigste Flucht. Es ging
dabei auf dem kleinen Platz etwas bunt durch einander, die letzten, aus dem
Walde Vertriebnen Schützen mußten sogar ihren Weg über die Scheidegg nehmen,
um auf die Rückzugslinie ihres Hanpttrupps zu gelaugen. Die hessische
Kompagnie hatte mit einem Verlust von neun Verwundeten die Entscheidung
bewirkt, die nächste badische Kompagnie war im ersten Schrecken auseinander¬
gelaufen; bevor sie wieder gesammelt worden war, und die noch weiter zurück
befindlichen Badener und Hessen auf der Scheidegg eintrafen, war alles vor¬
über, und die Hessen bereits um den gefallnen General bemüht.

Hinterher ist von aufständischer Seite sehr viel Ruhmrediges über dieses
„Gefecht" verbreitet worden; man kennt ja die „Heldengeschichte" jener Tage.
Es verlohnt sich nicht, diese Ungereimtheiten und Widersprüche wieder zu er¬
wähnen. Nur der nachträglichen Behauptung Kaisers, daß Gagern die Auf¬
rührer auf der Scheidegg „Gesindel" genannt, und der Erfindung Mvglings,
der General habe selbst eine Pistole abgefeuert, wollen wir hier entgegentreten.
Jener Ausdruck lag der seinen Denkuugs- und Ausdrucksweise Friedrichs
von Gagern vollkommen fern, und Pistolen hatte er gar nicht zur Verfügung.
All diese erfundnen Einzelheiten sollten bloß den weitverbreiteten Eindruck ab¬
schwächen, der den Tod des Generals als berechneten, feigen Meuchelmord
kennzeichnete. Auch diese Auffassung ist falsch. Gagern fiel, weil er sich,
wahrscheinlich aus Mangel an Vertrauen auf die Festigkeit seiner Truppen,
zu sehr aussetzte, er fiel, weil er das angebliche „Gesindel" zu sehr schonte,
denn diese Haufen wären bei den ersten Schüssen auseinaudergestoben, wie
es dieser Tag und die darauf folgende Woche hinreichend dargethan hat. Daß
sich die Konstanzer Schützen bei dem Haß und der Verblendung jener Zeit
eingebildet haben mögen, eine Großthat sür Freiheit und Vaterland zu begehen,
als sie den „Aristokraten" auf sechzig Schritte Entfernung vom Pferde knallten,
ist leider kaum zu bestreiten. Sie hatten ja keine Ahnung davon, daß sie den
Mann niederstreckten, in dessen klarem Geiste das Gebilde der Zukunft, das
Wir heute unser Vaterland nennen, in deutlichen Linien vorgezeichnet stand.

Als Hauptmann Keim mit seiner Kompagnie die Scheidegg gesäubert
hatte, und Leutnant Becker sich links nach dem Walde wandte, wo noch
Schützen hinter den Bäumen Stand hielten, rief letzterer dem Hauptmaim zu:
„Herr Hauptmann, unser General ist tot!" Keim eilte hin, sah Gagern unter
dem toten Pferde liegen und bemerkte, daß er noch lebte. Er rief: „Meine
Herren und ein paar Schützen, rasch hierher, er lebt noch!" Inzwischen hatte
Leutnant Becker eine schwarzrotgoldne Fahne aufgehoben, die ein Flüchtiger
weggeworfen, begab sich aber ans den Ruf des Hauptmanns zu ihm und half
ihm mit drei Schützen den General unter dem Pferde hervorzuziehen. Mittler¬
meile wurden die letzten Freischärler unter Mitwirkung der durch den Wald


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[0338] General Friedrich von Gagern Nun feuerten aber auch die Hessen und trieben die bereits schwankenden Haufen der Gegner mit Kolben und Bajonett in die vollständigste Flucht. Es ging dabei auf dem kleinen Platz etwas bunt durch einander, die letzten, aus dem Walde Vertriebnen Schützen mußten sogar ihren Weg über die Scheidegg nehmen, um auf die Rückzugslinie ihres Hanpttrupps zu gelaugen. Die hessische Kompagnie hatte mit einem Verlust von neun Verwundeten die Entscheidung bewirkt, die nächste badische Kompagnie war im ersten Schrecken auseinander¬ gelaufen; bevor sie wieder gesammelt worden war, und die noch weiter zurück befindlichen Badener und Hessen auf der Scheidegg eintrafen, war alles vor¬ über, und die Hessen bereits um den gefallnen General bemüht. Hinterher ist von aufständischer Seite sehr viel Ruhmrediges über dieses „Gefecht" verbreitet worden; man kennt ja die „Heldengeschichte" jener Tage. Es verlohnt sich nicht, diese Ungereimtheiten und Widersprüche wieder zu er¬ wähnen. Nur der nachträglichen Behauptung Kaisers, daß Gagern die Auf¬ rührer auf der Scheidegg „Gesindel" genannt, und der Erfindung Mvglings, der General habe selbst eine Pistole abgefeuert, wollen wir hier entgegentreten. Jener Ausdruck lag der seinen Denkuugs- und Ausdrucksweise Friedrichs von Gagern vollkommen fern, und Pistolen hatte er gar nicht zur Verfügung. All diese erfundnen Einzelheiten sollten bloß den weitverbreiteten Eindruck ab¬ schwächen, der den Tod des Generals als berechneten, feigen Meuchelmord kennzeichnete. Auch diese Auffassung ist falsch. Gagern fiel, weil er sich, wahrscheinlich aus Mangel an Vertrauen auf die Festigkeit seiner Truppen, zu sehr aussetzte, er fiel, weil er das angebliche „Gesindel" zu sehr schonte, denn diese Haufen wären bei den ersten Schüssen auseinaudergestoben, wie es dieser Tag und die darauf folgende Woche hinreichend dargethan hat. Daß sich die Konstanzer Schützen bei dem Haß und der Verblendung jener Zeit eingebildet haben mögen, eine Großthat sür Freiheit und Vaterland zu begehen, als sie den „Aristokraten" auf sechzig Schritte Entfernung vom Pferde knallten, ist leider kaum zu bestreiten. Sie hatten ja keine Ahnung davon, daß sie den Mann niederstreckten, in dessen klarem Geiste das Gebilde der Zukunft, das Wir heute unser Vaterland nennen, in deutlichen Linien vorgezeichnet stand. Als Hauptmann Keim mit seiner Kompagnie die Scheidegg gesäubert hatte, und Leutnant Becker sich links nach dem Walde wandte, wo noch Schützen hinter den Bäumen Stand hielten, rief letzterer dem Hauptmaim zu: „Herr Hauptmann, unser General ist tot!" Keim eilte hin, sah Gagern unter dem toten Pferde liegen und bemerkte, daß er noch lebte. Er rief: „Meine Herren und ein paar Schützen, rasch hierher, er lebt noch!" Inzwischen hatte Leutnant Becker eine schwarzrotgoldne Fahne aufgehoben, die ein Flüchtiger weggeworfen, begab sich aber ans den Ruf des Hauptmanns zu ihm und half ihm mit drei Schützen den General unter dem Pferde hervorzuziehen. Mittler¬ meile wurden die letzten Freischärler unter Mitwirkung der durch den Wald

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/338>, abgerufen am 23.07.2024.