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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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General Friedrich von Gagern

ritt er selbst bis zur Brücke, ließ Hecker herbeiholen und wiederholte diesem
gegenüber nachdrücklich sein Verlangen. Hecker lehnte ab und erhielt mit seinem
Nachtrab zehn Minuten Zeit zum Rückzug, der sofort bewerkstelligt wurde.
Militärisch notwendig war das alles nicht, entschiednes Vorrücken der Truppen
hätte die Schar hier ebenso kurzer Hand zersprengt, wie es nach kaum einer
Stunde weiter oben der Fall war.

Die Führer der Aufständischen mochten einsehen, daß ihnen in kurzer Zeit
die Leute auseinanderlaufen würden, wenn es so weiter ginge, und sie be¬
stimmten ihren militärischen Führer Willich, auf der kleinen Hochfläche der
Scheidegg eine Aufstellung zu nehmen- Hier sollte vor allem der Versuch ge¬
macht werden, die Soldaten zum Treubruch zu verleiten, wozu allerdings,
wie die Vorgänge des folgenden Jahres bewiesen haben, unter den Badenern
Neigung vorhanden war. Indessen die hessische Schützenkompagnie, die an der
Spitze marschierte, ließ sich auf dergleichen nicht ein; die vorderste badische
Kompagnie lief freilich bei den ersten Schliffen aus einander, aber doch auch
nicht zu -den Aufstündischen hinüber. Nach Ablauf der zehn Minuten waren
die Truppen in dichter Marschlinie aufgebrochen und kamen bald den letzten
der Heckerschen Schar auf hundertfünfzig Schritte nahe. Als die Scheidegg
in Sicht kam, konnte man erkennen, daß dort Vorkehrungen zum Widerstande
getroffen wurden. Gagern befahl einfach den Weitermarsch und befand sich
dabei hinter dem vordersten Zuge der Vorhut.

Als diese, immer in geschlossener Marschform, die Scheidegg erreichte,
wurde sie mit wildem Geschrei empfangen, aus dem nur einzelne Rufe: "Schießt
nicht, deutsche Brüder! Kommt in unsre Reihen! General vor!" unterschieden
wurden. Auf diesen letzten Ruf aufmerksam gemacht, stieg Gagern vom Pferde
und begab sich vor die äußerste Spitze seiner Truppen dicht an die Aufständischen
heran, wo er von deren Führer Kaiser aus Konstanz nochmals kurz die Nieder-
legung der Waffen verlangte. Die Aufstündischen versuchten, die Soldaten zum
Verrat zu verleiten, auch Kaiser beteiligte sich dabei, andre drängten dicht bis
an die Reihen der Hessen heran, forderten sie zur Übergabe auf und konnten
nur mit Mühe abgehalten werden, zwischen die Glieder selbst einzudringen.
Das Nutzlose seiner Bemühungen einsehend, wandte sich Gagern zurück und
bestieg, mitten auf dem offnen Platze, sein Pferd wieder, zog den Säbel und
sagte: "Nun, in Gottes Namen, vorwärts!" Auf die Bemerkung des Haupt¬
manns Keim: "Herr General, Sie exponiren sich," erwiderte er: "Lieber Freund,
wir gehören auch hierher," und trieb sein Pferd zum Vorwärtsgehen an. Die
Hessen füllten das Gewehr und drangen gegen die noch standhaltenden Auf¬
rührer vor -- da erfolgten die ersten Schüsse aus deren Reihen, namentlich
von den seitwärts im Walde verteilten Büchsenschützen, und besonders die
Offiziere zu Pferde wurden bei der kurzen Entfernung getroffen. Gagern hatte
drei Kugel" erhalten und sank mit dem ebenfalls verwundeten Pferde zusammen.


Grenzboten II 1898 42
General Friedrich von Gagern

ritt er selbst bis zur Brücke, ließ Hecker herbeiholen und wiederholte diesem
gegenüber nachdrücklich sein Verlangen. Hecker lehnte ab und erhielt mit seinem
Nachtrab zehn Minuten Zeit zum Rückzug, der sofort bewerkstelligt wurde.
Militärisch notwendig war das alles nicht, entschiednes Vorrücken der Truppen
hätte die Schar hier ebenso kurzer Hand zersprengt, wie es nach kaum einer
Stunde weiter oben der Fall war.

Die Führer der Aufständischen mochten einsehen, daß ihnen in kurzer Zeit
die Leute auseinanderlaufen würden, wenn es so weiter ginge, und sie be¬
stimmten ihren militärischen Führer Willich, auf der kleinen Hochfläche der
Scheidegg eine Aufstellung zu nehmen- Hier sollte vor allem der Versuch ge¬
macht werden, die Soldaten zum Treubruch zu verleiten, wozu allerdings,
wie die Vorgänge des folgenden Jahres bewiesen haben, unter den Badenern
Neigung vorhanden war. Indessen die hessische Schützenkompagnie, die an der
Spitze marschierte, ließ sich auf dergleichen nicht ein; die vorderste badische
Kompagnie lief freilich bei den ersten Schliffen aus einander, aber doch auch
nicht zu -den Aufstündischen hinüber. Nach Ablauf der zehn Minuten waren
die Truppen in dichter Marschlinie aufgebrochen und kamen bald den letzten
der Heckerschen Schar auf hundertfünfzig Schritte nahe. Als die Scheidegg
in Sicht kam, konnte man erkennen, daß dort Vorkehrungen zum Widerstande
getroffen wurden. Gagern befahl einfach den Weitermarsch und befand sich
dabei hinter dem vordersten Zuge der Vorhut.

Als diese, immer in geschlossener Marschform, die Scheidegg erreichte,
wurde sie mit wildem Geschrei empfangen, aus dem nur einzelne Rufe: „Schießt
nicht, deutsche Brüder! Kommt in unsre Reihen! General vor!" unterschieden
wurden. Auf diesen letzten Ruf aufmerksam gemacht, stieg Gagern vom Pferde
und begab sich vor die äußerste Spitze seiner Truppen dicht an die Aufständischen
heran, wo er von deren Führer Kaiser aus Konstanz nochmals kurz die Nieder-
legung der Waffen verlangte. Die Aufstündischen versuchten, die Soldaten zum
Verrat zu verleiten, auch Kaiser beteiligte sich dabei, andre drängten dicht bis
an die Reihen der Hessen heran, forderten sie zur Übergabe auf und konnten
nur mit Mühe abgehalten werden, zwischen die Glieder selbst einzudringen.
Das Nutzlose seiner Bemühungen einsehend, wandte sich Gagern zurück und
bestieg, mitten auf dem offnen Platze, sein Pferd wieder, zog den Säbel und
sagte: „Nun, in Gottes Namen, vorwärts!" Auf die Bemerkung des Haupt¬
manns Keim: „Herr General, Sie exponiren sich," erwiderte er: „Lieber Freund,
wir gehören auch hierher," und trieb sein Pferd zum Vorwärtsgehen an. Die
Hessen füllten das Gewehr und drangen gegen die noch standhaltenden Auf¬
rührer vor — da erfolgten die ersten Schüsse aus deren Reihen, namentlich
von den seitwärts im Walde verteilten Büchsenschützen, und besonders die
Offiziere zu Pferde wurden bei der kurzen Entfernung getroffen. Gagern hatte
drei Kugel« erhalten und sank mit dem ebenfalls verwundeten Pferde zusammen.


Grenzboten II 1898 42
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[0337] General Friedrich von Gagern ritt er selbst bis zur Brücke, ließ Hecker herbeiholen und wiederholte diesem gegenüber nachdrücklich sein Verlangen. Hecker lehnte ab und erhielt mit seinem Nachtrab zehn Minuten Zeit zum Rückzug, der sofort bewerkstelligt wurde. Militärisch notwendig war das alles nicht, entschiednes Vorrücken der Truppen hätte die Schar hier ebenso kurzer Hand zersprengt, wie es nach kaum einer Stunde weiter oben der Fall war. Die Führer der Aufständischen mochten einsehen, daß ihnen in kurzer Zeit die Leute auseinanderlaufen würden, wenn es so weiter ginge, und sie be¬ stimmten ihren militärischen Führer Willich, auf der kleinen Hochfläche der Scheidegg eine Aufstellung zu nehmen- Hier sollte vor allem der Versuch ge¬ macht werden, die Soldaten zum Treubruch zu verleiten, wozu allerdings, wie die Vorgänge des folgenden Jahres bewiesen haben, unter den Badenern Neigung vorhanden war. Indessen die hessische Schützenkompagnie, die an der Spitze marschierte, ließ sich auf dergleichen nicht ein; die vorderste badische Kompagnie lief freilich bei den ersten Schliffen aus einander, aber doch auch nicht zu -den Aufstündischen hinüber. Nach Ablauf der zehn Minuten waren die Truppen in dichter Marschlinie aufgebrochen und kamen bald den letzten der Heckerschen Schar auf hundertfünfzig Schritte nahe. Als die Scheidegg in Sicht kam, konnte man erkennen, daß dort Vorkehrungen zum Widerstande getroffen wurden. Gagern befahl einfach den Weitermarsch und befand sich dabei hinter dem vordersten Zuge der Vorhut. Als diese, immer in geschlossener Marschform, die Scheidegg erreichte, wurde sie mit wildem Geschrei empfangen, aus dem nur einzelne Rufe: „Schießt nicht, deutsche Brüder! Kommt in unsre Reihen! General vor!" unterschieden wurden. Auf diesen letzten Ruf aufmerksam gemacht, stieg Gagern vom Pferde und begab sich vor die äußerste Spitze seiner Truppen dicht an die Aufständischen heran, wo er von deren Führer Kaiser aus Konstanz nochmals kurz die Nieder- legung der Waffen verlangte. Die Aufstündischen versuchten, die Soldaten zum Verrat zu verleiten, auch Kaiser beteiligte sich dabei, andre drängten dicht bis an die Reihen der Hessen heran, forderten sie zur Übergabe auf und konnten nur mit Mühe abgehalten werden, zwischen die Glieder selbst einzudringen. Das Nutzlose seiner Bemühungen einsehend, wandte sich Gagern zurück und bestieg, mitten auf dem offnen Platze, sein Pferd wieder, zog den Säbel und sagte: „Nun, in Gottes Namen, vorwärts!" Auf die Bemerkung des Haupt¬ manns Keim: „Herr General, Sie exponiren sich," erwiderte er: „Lieber Freund, wir gehören auch hierher," und trieb sein Pferd zum Vorwärtsgehen an. Die Hessen füllten das Gewehr und drangen gegen die noch standhaltenden Auf¬ rührer vor — da erfolgten die ersten Schüsse aus deren Reihen, namentlich von den seitwärts im Walde verteilten Büchsenschützen, und besonders die Offiziere zu Pferde wurden bei der kurzen Entfernung getroffen. Gagern hatte drei Kugel« erhalten und sank mit dem ebenfalls verwundeten Pferde zusammen. Grenzboten II 1898 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/337>, abgerufen am 23.07.2024.