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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Wollen, erklärt er später für ganz unsinnig. Er verachtet das ganze Theater¬
wesen. Wie ist mir das alles zuwider! ruft er in Beziehung auf die "wilden
Tiere mit Anwandlungen eines sublimirten Zart- und Tiefsinns" in der Nibe-
lungentrilogie, denen er die echten Menschen des Sophokles, z. B. im Philoktet.
gegenüberstellt. Wagner war ihm also auch, abgesehen von seinem Abfall zur
katholischen Mystik im Parsifal, der Nietzsches Abneigung zum Haß steigerte,
in der Seele zuwider. Unbeschreiblicher Ekel, heißt es XI, 401, wenn unsre
Gebildeten von der Notwendigkeit einer idealen Bildung und einer Erneuerung
der Religion phantasiren! Dieses verlogne Gesinde!, das bei Musik und
Schauspiel wieder religiös werden will und sich in den Kopf setzt, sobald es
nur wieder im Herzen zu zittern beginnt, alle Redlichkeit des Kopfes fahren
zu lassen und sich kopfüber in den mystischen Schlamm zu stürzen!" Nicht
bloß von Wagners Musik, von der Kunst überhaupt denkt er je länger desto
geringer. "Das Kunstwerk gehört nicht zur Notdurft, die reine Luft in Kopf
und Charakter gehört zur Notdurft des Lebens" (XI. 361). Während er
früher gelehrt hatte, die Welt sei nur ästhetisch zu rechtfertigen und nur zu
ertragen, wenn man sie in den Schein des Schönen einhülle, die Wissenschaft
decke die Häßlichkeit der Welt auf und stürze in Verzweiflung, gefällt er sich
später darin, den Gelehrten gegen den Künstler herauszustreichen, das Unheil
zu beschreiben, das die Kunst in der Seele des Künstlers wie im Volke an¬
richte, z. V. durch Verweichlichung, und beklagt es, daß er sie früher über¬
schätzt habe. Übrigens enthalten Nietzsches Betrachtungen über die Kunst
manchen wertvollen Beitrag zur Ästhetik; so widerlegt er (VII, 408 und sonst)
die Kantische Ansicht, daß schön sei, was ohne Interesse gefällt. Ohne Interesse
am Menschen, meint er. gebe es kein Schönheitsgefühl. Sehr beachtenswert
ist auch, was er über das Verhältnis des Textes zur Musik sagt.

Mit der Wagnerei dürfte der verrückte Plan einer Erneuerung höherer
Kultur durch das Theater für immer begraben sein. Ich denke sehr hoch
von den sittlichen Wirkungen des Schönheitsgefühls, rechne aber die Wirkungen
der Bühne gar nicht dazu. Dem Theater schreibe ich nur insofern sittliche
Wirkungen zu, als es eine Stätte der Erholung. Erholung aber für die Ge¬
sundheit notwendig ist, die die Grundlage der Sittlichkeit wie überhaupt des
höhern Seelenlebens bildet; die Gesundheit kann dadurch gefördert werden,
daß man einmal tüchtig lacht oder sich durch schöne Musik in eine angenehme
Stimmung versetzen läßt. Die Vorstellung von der Schaubühne als einer
moralischen oder Erziehungsanstalt entstand bei unsern Klassikern in der Zeit,
wo das Christentum aus der Welt der Gebildeten vollständig verschwunden
war. Sie sahen sich nach einem Ersatz um und verfielen, bei ihrer Freund¬
schaft für die Alten natürlich genug, aufs Theater. Sie vergaßen, daß das
Athenische Drama eine Kulthandlung gewesen war. und daß wir Heutigen
weder an den Dionysus noch an irgend einen andern der griechischen Götter


Friedrich Nietzsche

Wollen, erklärt er später für ganz unsinnig. Er verachtet das ganze Theater¬
wesen. Wie ist mir das alles zuwider! ruft er in Beziehung auf die „wilden
Tiere mit Anwandlungen eines sublimirten Zart- und Tiefsinns" in der Nibe-
lungentrilogie, denen er die echten Menschen des Sophokles, z. B. im Philoktet.
gegenüberstellt. Wagner war ihm also auch, abgesehen von seinem Abfall zur
katholischen Mystik im Parsifal, der Nietzsches Abneigung zum Haß steigerte,
in der Seele zuwider. Unbeschreiblicher Ekel, heißt es XI, 401, wenn unsre
Gebildeten von der Notwendigkeit einer idealen Bildung und einer Erneuerung
der Religion phantasiren! Dieses verlogne Gesinde!, das bei Musik und
Schauspiel wieder religiös werden will und sich in den Kopf setzt, sobald es
nur wieder im Herzen zu zittern beginnt, alle Redlichkeit des Kopfes fahren
zu lassen und sich kopfüber in den mystischen Schlamm zu stürzen!" Nicht
bloß von Wagners Musik, von der Kunst überhaupt denkt er je länger desto
geringer. „Das Kunstwerk gehört nicht zur Notdurft, die reine Luft in Kopf
und Charakter gehört zur Notdurft des Lebens" (XI. 361). Während er
früher gelehrt hatte, die Welt sei nur ästhetisch zu rechtfertigen und nur zu
ertragen, wenn man sie in den Schein des Schönen einhülle, die Wissenschaft
decke die Häßlichkeit der Welt auf und stürze in Verzweiflung, gefällt er sich
später darin, den Gelehrten gegen den Künstler herauszustreichen, das Unheil
zu beschreiben, das die Kunst in der Seele des Künstlers wie im Volke an¬
richte, z. V. durch Verweichlichung, und beklagt es, daß er sie früher über¬
schätzt habe. Übrigens enthalten Nietzsches Betrachtungen über die Kunst
manchen wertvollen Beitrag zur Ästhetik; so widerlegt er (VII, 408 und sonst)
die Kantische Ansicht, daß schön sei, was ohne Interesse gefällt. Ohne Interesse
am Menschen, meint er. gebe es kein Schönheitsgefühl. Sehr beachtenswert
ist auch, was er über das Verhältnis des Textes zur Musik sagt.

Mit der Wagnerei dürfte der verrückte Plan einer Erneuerung höherer
Kultur durch das Theater für immer begraben sein. Ich denke sehr hoch
von den sittlichen Wirkungen des Schönheitsgefühls, rechne aber die Wirkungen
der Bühne gar nicht dazu. Dem Theater schreibe ich nur insofern sittliche
Wirkungen zu, als es eine Stätte der Erholung. Erholung aber für die Ge¬
sundheit notwendig ist, die die Grundlage der Sittlichkeit wie überhaupt des
höhern Seelenlebens bildet; die Gesundheit kann dadurch gefördert werden,
daß man einmal tüchtig lacht oder sich durch schöne Musik in eine angenehme
Stimmung versetzen läßt. Die Vorstellung von der Schaubühne als einer
moralischen oder Erziehungsanstalt entstand bei unsern Klassikern in der Zeit,
wo das Christentum aus der Welt der Gebildeten vollständig verschwunden
war. Sie sahen sich nach einem Ersatz um und verfielen, bei ihrer Freund¬
schaft für die Alten natürlich genug, aufs Theater. Sie vergaßen, daß das
Athenische Drama eine Kulthandlung gewesen war. und daß wir Heutigen
weder an den Dionysus noch an irgend einen andern der griechischen Götter


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[0295] Friedrich Nietzsche Wollen, erklärt er später für ganz unsinnig. Er verachtet das ganze Theater¬ wesen. Wie ist mir das alles zuwider! ruft er in Beziehung auf die „wilden Tiere mit Anwandlungen eines sublimirten Zart- und Tiefsinns" in der Nibe- lungentrilogie, denen er die echten Menschen des Sophokles, z. B. im Philoktet. gegenüberstellt. Wagner war ihm also auch, abgesehen von seinem Abfall zur katholischen Mystik im Parsifal, der Nietzsches Abneigung zum Haß steigerte, in der Seele zuwider. Unbeschreiblicher Ekel, heißt es XI, 401, wenn unsre Gebildeten von der Notwendigkeit einer idealen Bildung und einer Erneuerung der Religion phantasiren! Dieses verlogne Gesinde!, das bei Musik und Schauspiel wieder religiös werden will und sich in den Kopf setzt, sobald es nur wieder im Herzen zu zittern beginnt, alle Redlichkeit des Kopfes fahren zu lassen und sich kopfüber in den mystischen Schlamm zu stürzen!" Nicht bloß von Wagners Musik, von der Kunst überhaupt denkt er je länger desto geringer. „Das Kunstwerk gehört nicht zur Notdurft, die reine Luft in Kopf und Charakter gehört zur Notdurft des Lebens" (XI. 361). Während er früher gelehrt hatte, die Welt sei nur ästhetisch zu rechtfertigen und nur zu ertragen, wenn man sie in den Schein des Schönen einhülle, die Wissenschaft decke die Häßlichkeit der Welt auf und stürze in Verzweiflung, gefällt er sich später darin, den Gelehrten gegen den Künstler herauszustreichen, das Unheil zu beschreiben, das die Kunst in der Seele des Künstlers wie im Volke an¬ richte, z. V. durch Verweichlichung, und beklagt es, daß er sie früher über¬ schätzt habe. Übrigens enthalten Nietzsches Betrachtungen über die Kunst manchen wertvollen Beitrag zur Ästhetik; so widerlegt er (VII, 408 und sonst) die Kantische Ansicht, daß schön sei, was ohne Interesse gefällt. Ohne Interesse am Menschen, meint er. gebe es kein Schönheitsgefühl. Sehr beachtenswert ist auch, was er über das Verhältnis des Textes zur Musik sagt. Mit der Wagnerei dürfte der verrückte Plan einer Erneuerung höherer Kultur durch das Theater für immer begraben sein. Ich denke sehr hoch von den sittlichen Wirkungen des Schönheitsgefühls, rechne aber die Wirkungen der Bühne gar nicht dazu. Dem Theater schreibe ich nur insofern sittliche Wirkungen zu, als es eine Stätte der Erholung. Erholung aber für die Ge¬ sundheit notwendig ist, die die Grundlage der Sittlichkeit wie überhaupt des höhern Seelenlebens bildet; die Gesundheit kann dadurch gefördert werden, daß man einmal tüchtig lacht oder sich durch schöne Musik in eine angenehme Stimmung versetzen läßt. Die Vorstellung von der Schaubühne als einer moralischen oder Erziehungsanstalt entstand bei unsern Klassikern in der Zeit, wo das Christentum aus der Welt der Gebildeten vollständig verschwunden war. Sie sahen sich nach einem Ersatz um und verfielen, bei ihrer Freund¬ schaft für die Alten natürlich genug, aufs Theater. Sie vergaßen, daß das Athenische Drama eine Kulthandlung gewesen war. und daß wir Heutigen weder an den Dionysus noch an irgend einen andern der griechischen Götter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/295>, abgerufen am 26.08.2024.