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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Bei jedem nicht bis zur Armseligkeit einseitigen und beschränkten Menschen
kommt es vor, daß man seine spätern Aussprüche durch frühere widerlegen
kann; bei Nietzsche aber ist dies in so hohem Grade der Fall, daß man das
Rüstzeug zu seiner Bekämpfung so ziemlich vollständig in seinen Werken bei¬
sammen findet. Namentlich seine Ansicht über die Kunst hat er gründlich ge¬
ändert. Die ästhetische Lebensauffassung, die er in der Geburt der Tragödie
verkündigt, lief auf die Verherrlichung Richard Wagners hinaus, von dem er
die Wiedergeburt des Dramas in Dentschland und damit die Geburt einer
neuen, höhern Kultur erwartete, und diesem Traume hat er dann noch die
1876 erschienene vierte unzeitgemäße Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth,
gewidmet. Daß er, wie er später bekennt, mehr von der Persönlichkeit Schopen¬
hauers und Wagners überwältigt worden war, als von des ersten Philosophie
und des zweiten Musik, daß er sich aber in beiden getäuscht hat, daß es sein
eigner Geist war, den er in beide hineingelegt, gepriesen, bewundert und wovon
er eine neue, schönere Kultur erwartet hatte, das alles versteht man ganz
gut. Schwerer ist zu verstehen, wie er wirklich jahrelang die Wcignersche
Musik schön finden konnte. Denn er war musikalisch hoch begabt, von Kindheit
an ausübender Musiker und hatte einen ganz gesunden Geschmack. Er urteilt
später genau so über Wagners Kompositionen, wie alle Freunde der klassischen
Musik stets geurteilt haben, und geht zuletzt so weit, zu schreiben: "Ich habe
in den letzten Jahren zwei- oder dreimal den unsinnigen Zweifel in mir gefühlt,
ob Wagner überhaupt musikalische Begabung habe" (X, 418). Nun ist die
Musik die Kunst, die am allerunmittelbarsten wirkt, sodaß man gleich bei den
ersten Takten eines Stückes weiß, ob einem das Gehörte wohl oder wehe thut,
und daher ist es geradezu unbegreiflich, wie Nietzsche jahrelang für eine Musik
schwärmen konnte, von der er später bekennt, daß seine Beine und sein Magen
dagegen protestirten. Von seinen Urteilen über Wagners Person wollen wir
nur zwei anführen: "Wagner ist für einen Deutschen zu unbescheiden; man
denke an Luther, unsre Feldherrn. . . . Man muß ^jedoch^ nicht unbillig sein
und nicht von einem Künstler die Reinheit und Uneigennützigkeit verlangen,
wie sie ein Luther besitzt. Doch leuchtet aus Bach und Beethoven eine reinere
Natur" (X, 398 und 399). "Über die Genies müssen wir umlernen. Ich
wüßte nicht, warum fruchtbare Menschen sich nicht still und anspruchslos be¬
nehmen sollten (Moltke), oder vielmehr -- es ist gegen alle Fruchtbarkeit, seine
Person so in das Getümmel der Meinungen zu werfen und selber voller Be-
gehrungen zu sein, die uns unruhig, ungeduldig machen und die Weihe der
Schwangerschaft nehmen. Ich höre noch immer jedem Takte an, was für
Gebrechen der Musiker hat: sein Mehrbedeutenwollen, sein Abweichen von der
Regel, sein Unterstreichen dessen, was er besser macht als andre, alle Kleinlich¬
keiten sind fortwährend mit produktiv, wenn erst der Genieunsinn in ihm
wütet" (XI, 358). Die Idee, vom Theater aus die Kultur erneuern zu


Friedrich Nietzsche

Bei jedem nicht bis zur Armseligkeit einseitigen und beschränkten Menschen
kommt es vor, daß man seine spätern Aussprüche durch frühere widerlegen
kann; bei Nietzsche aber ist dies in so hohem Grade der Fall, daß man das
Rüstzeug zu seiner Bekämpfung so ziemlich vollständig in seinen Werken bei¬
sammen findet. Namentlich seine Ansicht über die Kunst hat er gründlich ge¬
ändert. Die ästhetische Lebensauffassung, die er in der Geburt der Tragödie
verkündigt, lief auf die Verherrlichung Richard Wagners hinaus, von dem er
die Wiedergeburt des Dramas in Dentschland und damit die Geburt einer
neuen, höhern Kultur erwartete, und diesem Traume hat er dann noch die
1876 erschienene vierte unzeitgemäße Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth,
gewidmet. Daß er, wie er später bekennt, mehr von der Persönlichkeit Schopen¬
hauers und Wagners überwältigt worden war, als von des ersten Philosophie
und des zweiten Musik, daß er sich aber in beiden getäuscht hat, daß es sein
eigner Geist war, den er in beide hineingelegt, gepriesen, bewundert und wovon
er eine neue, schönere Kultur erwartet hatte, das alles versteht man ganz
gut. Schwerer ist zu verstehen, wie er wirklich jahrelang die Wcignersche
Musik schön finden konnte. Denn er war musikalisch hoch begabt, von Kindheit
an ausübender Musiker und hatte einen ganz gesunden Geschmack. Er urteilt
später genau so über Wagners Kompositionen, wie alle Freunde der klassischen
Musik stets geurteilt haben, und geht zuletzt so weit, zu schreiben: „Ich habe
in den letzten Jahren zwei- oder dreimal den unsinnigen Zweifel in mir gefühlt,
ob Wagner überhaupt musikalische Begabung habe" (X, 418). Nun ist die
Musik die Kunst, die am allerunmittelbarsten wirkt, sodaß man gleich bei den
ersten Takten eines Stückes weiß, ob einem das Gehörte wohl oder wehe thut,
und daher ist es geradezu unbegreiflich, wie Nietzsche jahrelang für eine Musik
schwärmen konnte, von der er später bekennt, daß seine Beine und sein Magen
dagegen protestirten. Von seinen Urteilen über Wagners Person wollen wir
nur zwei anführen: „Wagner ist für einen Deutschen zu unbescheiden; man
denke an Luther, unsre Feldherrn. . . . Man muß ^jedoch^ nicht unbillig sein
und nicht von einem Künstler die Reinheit und Uneigennützigkeit verlangen,
wie sie ein Luther besitzt. Doch leuchtet aus Bach und Beethoven eine reinere
Natur" (X, 398 und 399). „Über die Genies müssen wir umlernen. Ich
wüßte nicht, warum fruchtbare Menschen sich nicht still und anspruchslos be¬
nehmen sollten (Moltke), oder vielmehr — es ist gegen alle Fruchtbarkeit, seine
Person so in das Getümmel der Meinungen zu werfen und selber voller Be-
gehrungen zu sein, die uns unruhig, ungeduldig machen und die Weihe der
Schwangerschaft nehmen. Ich höre noch immer jedem Takte an, was für
Gebrechen der Musiker hat: sein Mehrbedeutenwollen, sein Abweichen von der
Regel, sein Unterstreichen dessen, was er besser macht als andre, alle Kleinlich¬
keiten sind fortwährend mit produktiv, wenn erst der Genieunsinn in ihm
wütet" (XI, 358). Die Idee, vom Theater aus die Kultur erneuern zu


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[0294] Friedrich Nietzsche Bei jedem nicht bis zur Armseligkeit einseitigen und beschränkten Menschen kommt es vor, daß man seine spätern Aussprüche durch frühere widerlegen kann; bei Nietzsche aber ist dies in so hohem Grade der Fall, daß man das Rüstzeug zu seiner Bekämpfung so ziemlich vollständig in seinen Werken bei¬ sammen findet. Namentlich seine Ansicht über die Kunst hat er gründlich ge¬ ändert. Die ästhetische Lebensauffassung, die er in der Geburt der Tragödie verkündigt, lief auf die Verherrlichung Richard Wagners hinaus, von dem er die Wiedergeburt des Dramas in Dentschland und damit die Geburt einer neuen, höhern Kultur erwartete, und diesem Traume hat er dann noch die 1876 erschienene vierte unzeitgemäße Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth, gewidmet. Daß er, wie er später bekennt, mehr von der Persönlichkeit Schopen¬ hauers und Wagners überwältigt worden war, als von des ersten Philosophie und des zweiten Musik, daß er sich aber in beiden getäuscht hat, daß es sein eigner Geist war, den er in beide hineingelegt, gepriesen, bewundert und wovon er eine neue, schönere Kultur erwartet hatte, das alles versteht man ganz gut. Schwerer ist zu verstehen, wie er wirklich jahrelang die Wcignersche Musik schön finden konnte. Denn er war musikalisch hoch begabt, von Kindheit an ausübender Musiker und hatte einen ganz gesunden Geschmack. Er urteilt später genau so über Wagners Kompositionen, wie alle Freunde der klassischen Musik stets geurteilt haben, und geht zuletzt so weit, zu schreiben: „Ich habe in den letzten Jahren zwei- oder dreimal den unsinnigen Zweifel in mir gefühlt, ob Wagner überhaupt musikalische Begabung habe" (X, 418). Nun ist die Musik die Kunst, die am allerunmittelbarsten wirkt, sodaß man gleich bei den ersten Takten eines Stückes weiß, ob einem das Gehörte wohl oder wehe thut, und daher ist es geradezu unbegreiflich, wie Nietzsche jahrelang für eine Musik schwärmen konnte, von der er später bekennt, daß seine Beine und sein Magen dagegen protestirten. Von seinen Urteilen über Wagners Person wollen wir nur zwei anführen: „Wagner ist für einen Deutschen zu unbescheiden; man denke an Luther, unsre Feldherrn. . . . Man muß ^jedoch^ nicht unbillig sein und nicht von einem Künstler die Reinheit und Uneigennützigkeit verlangen, wie sie ein Luther besitzt. Doch leuchtet aus Bach und Beethoven eine reinere Natur" (X, 398 und 399). „Über die Genies müssen wir umlernen. Ich wüßte nicht, warum fruchtbare Menschen sich nicht still und anspruchslos be¬ nehmen sollten (Moltke), oder vielmehr — es ist gegen alle Fruchtbarkeit, seine Person so in das Getümmel der Meinungen zu werfen und selber voller Be- gehrungen zu sein, die uns unruhig, ungeduldig machen und die Weihe der Schwangerschaft nehmen. Ich höre noch immer jedem Takte an, was für Gebrechen der Musiker hat: sein Mehrbedeutenwollen, sein Abweichen von der Regel, sein Unterstreichen dessen, was er besser macht als andre, alle Kleinlich¬ keiten sind fortwährend mit produktiv, wenn erst der Genieunsinn in ihm wütet" (XI, 358). Die Idee, vom Theater aus die Kultur erneuern zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/294>, abgerufen am 23.07.2024.