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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

einzusehen, wie sich die Tragödie anders hätte entwickeln sollen, als von
Äschylus durch Sophokles zu Euripides. Das ewige Austoben dionysischer
Räusche in Dithyramben eines Satyrchors hätte doch nur eintönige Varia¬
tionen einer Lyrik von zweifelhaftem Werte ergeben, und wie sollte der apolli¬
nische Gestaltnngstrieb eingreifen, wenn es ihm verwehrt wurde, Menschen¬
gestalten auf die Bühne zu bringen, wie sie wirklich sind, samt ihren Tugenden
und Untugenden, einschließlich der Dialektik? Ähnliches hat Ritschl in einem
Briefe eingewandt. Er könne das natürliche Abblühen einer Epoche oder Er¬
scheinung niemals mit dem Worte Selbstmord bezeichnen. "Sie können, schreibt
er, dem "Alexandriner"") und Gelehrten unmöglich zumuten, daß er die Er¬
kenntnis verurteile und nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende
und befreiende Kraft erblicke. Die Welt ist jedem ein andres: und da wir so
wenig, wie die in Blätter und Blüten sich individualisirende Pflanze in ihre
Wurzel zurückkehren kann, unsre "Individuation" überwinden können, so wird
sich in der großen Lebensökonomie auch jedes Volk seinen Anlagen und seiner
besondern Misston gemäß ausleben müssen" (B. II, 66).

Noch stärker als bei der Person des Sokrates gehen Nietzsches Urteile in
Beziehung auf die Griechen im allgemeinen ins Entgegengesetzte. Daß eine
von dionysischen Rausch und apollinischen Schönheitsgefühl erfüllte Seele in
die Griechen verliebt sein muß, versteht sich von selbst. Es braucht deshalb
nicht weitläufig angeführt zu werden, was Nietzsche an ihnen rühmt. Nur
zwei Stellen wollen wir hervorheben, die ein nicht ganz alltägliches Lob ent¬
halten. "Wer an Stelle der griechischen Philosophie sich lieber mit ägyptischer
oder persischer abgiebt, weil jene vielleicht "originaler" und jedenfalls älter
sind, der verfährt ebenso unbesonnen, wie diejenigen, welche sich über die
griechische so herrliche und tiefsinnige Mythologie nicht eher beruhigen können,
als bis sie dieselbe auf physikalische Trivialitäten, auf Sonne Blitz Wetter
und Nebel als auf ihre Uranfänge zurückgeführt haben."*) Der Weg zu den
Anfängen führt überall zu der Barbarei; und wer sich mit den Griechen
abgiebt, soll sich immer vorhalten, daß der ungebcindigte Wissenstrieb an sich
zu allen Zeiten ebenso barbarisirt als der Wissenshaß, und daß die Griechen
durch die Rücksicht auf das Leben, durch ein ideales Lebensbedürfnis ihren
an sich unersättlichen Wissenstrieb gebändigt haben -- weil sie das, was sie
lernten, sogleich leben wollten. Die Griechen haben auch als Menschen der




') Nietzsche nannte unsre heutige Kultur alerandnnisch, womit er freilich recht hatte,
IV, 294 führt er übrigens selbst einen merkwürdigen Grund dafür an, warum die
Griechen in den Naturerscheinungen so leicht Götter gesehen hätten. Farbenblind, hätten sie
kein Blau und kein Grün wahrgenommen. Dieses feien aber die zwei Farben, die die Natur
entmenschlichten; indem sie statt jener beiden Farben nur Braun und Gelblich sahen, über¬
wogen für sie die Farben der Menschenhand auch in der Natur, sodost diese "in dein Farben¬
äther der Menschheit schwamm,"
Friedrich Nietzsche

einzusehen, wie sich die Tragödie anders hätte entwickeln sollen, als von
Äschylus durch Sophokles zu Euripides. Das ewige Austoben dionysischer
Räusche in Dithyramben eines Satyrchors hätte doch nur eintönige Varia¬
tionen einer Lyrik von zweifelhaftem Werte ergeben, und wie sollte der apolli¬
nische Gestaltnngstrieb eingreifen, wenn es ihm verwehrt wurde, Menschen¬
gestalten auf die Bühne zu bringen, wie sie wirklich sind, samt ihren Tugenden
und Untugenden, einschließlich der Dialektik? Ähnliches hat Ritschl in einem
Briefe eingewandt. Er könne das natürliche Abblühen einer Epoche oder Er¬
scheinung niemals mit dem Worte Selbstmord bezeichnen. „Sie können, schreibt
er, dem »Alexandriner«") und Gelehrten unmöglich zumuten, daß er die Er¬
kenntnis verurteile und nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende
und befreiende Kraft erblicke. Die Welt ist jedem ein andres: und da wir so
wenig, wie die in Blätter und Blüten sich individualisirende Pflanze in ihre
Wurzel zurückkehren kann, unsre »Individuation« überwinden können, so wird
sich in der großen Lebensökonomie auch jedes Volk seinen Anlagen und seiner
besondern Misston gemäß ausleben müssen" (B. II, 66).

Noch stärker als bei der Person des Sokrates gehen Nietzsches Urteile in
Beziehung auf die Griechen im allgemeinen ins Entgegengesetzte. Daß eine
von dionysischen Rausch und apollinischen Schönheitsgefühl erfüllte Seele in
die Griechen verliebt sein muß, versteht sich von selbst. Es braucht deshalb
nicht weitläufig angeführt zu werden, was Nietzsche an ihnen rühmt. Nur
zwei Stellen wollen wir hervorheben, die ein nicht ganz alltägliches Lob ent¬
halten. „Wer an Stelle der griechischen Philosophie sich lieber mit ägyptischer
oder persischer abgiebt, weil jene vielleicht »originaler« und jedenfalls älter
sind, der verfährt ebenso unbesonnen, wie diejenigen, welche sich über die
griechische so herrliche und tiefsinnige Mythologie nicht eher beruhigen können,
als bis sie dieselbe auf physikalische Trivialitäten, auf Sonne Blitz Wetter
und Nebel als auf ihre Uranfänge zurückgeführt haben."*) Der Weg zu den
Anfängen führt überall zu der Barbarei; und wer sich mit den Griechen
abgiebt, soll sich immer vorhalten, daß der ungebcindigte Wissenstrieb an sich
zu allen Zeiten ebenso barbarisirt als der Wissenshaß, und daß die Griechen
durch die Rücksicht auf das Leben, durch ein ideales Lebensbedürfnis ihren
an sich unersättlichen Wissenstrieb gebändigt haben — weil sie das, was sie
lernten, sogleich leben wollten. Die Griechen haben auch als Menschen der




') Nietzsche nannte unsre heutige Kultur alerandnnisch, womit er freilich recht hatte,
IV, 294 führt er übrigens selbst einen merkwürdigen Grund dafür an, warum die
Griechen in den Naturerscheinungen so leicht Götter gesehen hätten. Farbenblind, hätten sie
kein Blau und kein Grün wahrgenommen. Dieses feien aber die zwei Farben, die die Natur
entmenschlichten; indem sie statt jener beiden Farben nur Braun und Gelblich sahen, über¬
wogen für sie die Farben der Menschenhand auch in der Natur, sodost diese „in dein Farben¬
äther der Menschheit schwamm,"
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/291>, abgerufen am 23.07.2024.