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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Kultur und mit den Zielen der Kultur philosophirt, und deshalb ersparten
sie sich, aus irgend einem autochthonen Dünkel die Elemente der Philosophie
und Wissenschaft noch einmal zu erfinden, sondern gingen sofort darauf los,
diese übernommnen Elemente so zu erfülle" zu steigern zu erheben und zu
reinigen, daß sie jetzt erst in einem höhern Sinne und in einer reinern Sphäre
zu Erfindern wurden. Sie erfanden nämlich die typischen Philosophenköpfe,
und die ganze Nachwelt hat nichts wesentliches mehr hinzu erfunden. Jedes
Volk wird beschämt, wenn man auf eine so wunderbar idealisirte Philosophen¬
gesellschaft hinweist, wie die der altgriechischen Meister Thales Anaximander
Heraklit Parmenides Anaxagoras Empedokles Demokrit und Sokrates. Alle
jene Männer sind ganz und aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem
Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Notwendigkeit. Es fehlt für sie
jede Konvention, weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab.
Sie alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Spätern
übertreffen, ihre eigne Form zu finden und diese bis ins Kleinste Und Größte
fortzubilden" (X, 6). Und III, 116 lobt er es, daß die Griechen "allen ihren
Leidenschaften und bösen Naturhäugen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben
und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staats wegen ein¬
richteten: es ist dies das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom Christentum
aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das härteste bekämpft und
verachtet. Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen
vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Ein¬
ordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Kultus zu geben: jn alles,
was im Menschen Macht hat, nannten sie göttlich und schrieben es an die
Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen
Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken
ihn auf bestimmte Kulte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaßregeln
erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen
Abfluß geben zu können." Weit merkwürdiger als seine Begeisterung für die
Griechen ist, daß er ihnen alles erdenkliche Böse nachsagt. Ihr ganzes Wesen
sei uns durchaus fremd. Wir seien viel vornehmer als sie; wie unanständig
sei der Trostspruch des Odysseus: "Ertrag es nur, mein liebes Herz, du hast
schon Hundemäßigeres ertragen." Jn jedem Griechen habe ein kleiner Tyrann
gesteckt (IV, 167 und 191 bis 193). Nicht auf die Erregung von Furcht und
Mitleid Hütten es die Tragödiendichter abgesehen gehabt: "Die Athener gingen
ins Theater, um schöne Reden zu hören, und um schöne Reden war es dein
Sophokles zu thun" (V, 110). "Jn den Griechen schöne Seelen, goldne
Mitten und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe
in der Größe, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern -- vor dieser
"hohen Einfalt," einer niaissrig -Mönianäs zuguderletzt, war ich durch den
Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt,


Friedrich Nietzsche

Kultur und mit den Zielen der Kultur philosophirt, und deshalb ersparten
sie sich, aus irgend einem autochthonen Dünkel die Elemente der Philosophie
und Wissenschaft noch einmal zu erfinden, sondern gingen sofort darauf los,
diese übernommnen Elemente so zu erfülle« zu steigern zu erheben und zu
reinigen, daß sie jetzt erst in einem höhern Sinne und in einer reinern Sphäre
zu Erfindern wurden. Sie erfanden nämlich die typischen Philosophenköpfe,
und die ganze Nachwelt hat nichts wesentliches mehr hinzu erfunden. Jedes
Volk wird beschämt, wenn man auf eine so wunderbar idealisirte Philosophen¬
gesellschaft hinweist, wie die der altgriechischen Meister Thales Anaximander
Heraklit Parmenides Anaxagoras Empedokles Demokrit und Sokrates. Alle
jene Männer sind ganz und aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem
Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Notwendigkeit. Es fehlt für sie
jede Konvention, weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab.
Sie alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Spätern
übertreffen, ihre eigne Form zu finden und diese bis ins Kleinste Und Größte
fortzubilden" (X, 6). Und III, 116 lobt er es, daß die Griechen „allen ihren
Leidenschaften und bösen Naturhäugen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben
und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staats wegen ein¬
richteten: es ist dies das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom Christentum
aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das härteste bekämpft und
verachtet. Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen
vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Ein¬
ordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Kultus zu geben: jn alles,
was im Menschen Macht hat, nannten sie göttlich und schrieben es an die
Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen
Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken
ihn auf bestimmte Kulte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaßregeln
erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen
Abfluß geben zu können." Weit merkwürdiger als seine Begeisterung für die
Griechen ist, daß er ihnen alles erdenkliche Böse nachsagt. Ihr ganzes Wesen
sei uns durchaus fremd. Wir seien viel vornehmer als sie; wie unanständig
sei der Trostspruch des Odysseus: „Ertrag es nur, mein liebes Herz, du hast
schon Hundemäßigeres ertragen." Jn jedem Griechen habe ein kleiner Tyrann
gesteckt (IV, 167 und 191 bis 193). Nicht auf die Erregung von Furcht und
Mitleid Hütten es die Tragödiendichter abgesehen gehabt: „Die Athener gingen
ins Theater, um schöne Reden zu hören, und um schöne Reden war es dein
Sophokles zu thun" (V, 110). „Jn den Griechen schöne Seelen, goldne
Mitten und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe
in der Größe, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern — vor dieser
»hohen Einfalt,« einer niaissrig -Mönianäs zuguderletzt, war ich durch den
Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt,


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[0292] Friedrich Nietzsche Kultur und mit den Zielen der Kultur philosophirt, und deshalb ersparten sie sich, aus irgend einem autochthonen Dünkel die Elemente der Philosophie und Wissenschaft noch einmal zu erfinden, sondern gingen sofort darauf los, diese übernommnen Elemente so zu erfülle« zu steigern zu erheben und zu reinigen, daß sie jetzt erst in einem höhern Sinne und in einer reinern Sphäre zu Erfindern wurden. Sie erfanden nämlich die typischen Philosophenköpfe, und die ganze Nachwelt hat nichts wesentliches mehr hinzu erfunden. Jedes Volk wird beschämt, wenn man auf eine so wunderbar idealisirte Philosophen¬ gesellschaft hinweist, wie die der altgriechischen Meister Thales Anaximander Heraklit Parmenides Anaxagoras Empedokles Demokrit und Sokrates. Alle jene Männer sind ganz und aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Notwendigkeit. Es fehlt für sie jede Konvention, weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab. Sie alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Spätern übertreffen, ihre eigne Form zu finden und diese bis ins Kleinste Und Größte fortzubilden" (X, 6). Und III, 116 lobt er es, daß die Griechen „allen ihren Leidenschaften und bösen Naturhäugen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staats wegen ein¬ richteten: es ist dies das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom Christentum aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das härteste bekämpft und verachtet. Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Ein¬ ordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Kultus zu geben: jn alles, was im Menschen Macht hat, nannten sie göttlich und schrieben es an die Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken ihn auf bestimmte Kulte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaßregeln erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen Abfluß geben zu können." Weit merkwürdiger als seine Begeisterung für die Griechen ist, daß er ihnen alles erdenkliche Böse nachsagt. Ihr ganzes Wesen sei uns durchaus fremd. Wir seien viel vornehmer als sie; wie unanständig sei der Trostspruch des Odysseus: „Ertrag es nur, mein liebes Herz, du hast schon Hundemäßigeres ertragen." Jn jedem Griechen habe ein kleiner Tyrann gesteckt (IV, 167 und 191 bis 193). Nicht auf die Erregung von Furcht und Mitleid Hütten es die Tragödiendichter abgesehen gehabt: „Die Athener gingen ins Theater, um schöne Reden zu hören, und um schöne Reden war es dein Sophokles zu thun" (V, 110). „Jn den Griechen schöne Seelen, goldne Mitten und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Größe, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern — vor dieser »hohen Einfalt,« einer niaissrig -Mönianäs zuguderletzt, war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/292>, abgerufen am 23.07.2024.