Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Friedrich Nietzsche drängen müssen, denn es würde lächerlich gewesen sein, wenn man Disputa¬ Friedrich Nietzsche drängen müssen, denn es würde lächerlich gewesen sein, wenn man Disputa¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0290" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227926"/> <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/> <p xml:id="ID_779" prev="#ID_778" next="#ID_780"> drängen müssen, denn es würde lächerlich gewesen sein, wenn man Disputa¬<lb/> tionen hätte singen wollen. An dem allen ist ja viel wahres. Man hat es<lb/> lange vor Nietzsche gewußt, daß die Dialektik jeden religiösen, politischen,<lb/> wissenschaftlichen und ästhetischen Glauben auflöst. Ob sie aber auch den<lb/> Staat, die Kirche und die Kunst zerstört, das hängt ganz und gar von dem<lb/> Gesundheitszustande des Volkes ab, das der Träger des Kirchentums, des<lb/> Staates und der Kunst ist. Ein kräftiger Staat kann jedes beliebige Maß<lb/> von Parlaments-, Zeitungs- und Vereinsgeschwätz vertragen, ohne davon eine<lb/> Erschütterung zu erleiden, und wenn ein schwacher Staat zu Grunde geht, so<lb/> geht er nicht am Geschwätz zu Grunde, sondern dieses ist bloß eine Begleit¬<lb/> erscheinung seines allmähliche» Verscheidens. An sich ist die Dialektik eine Er¬<lb/> scheinung, die bei einem gewissen Grade der Kulturentwicklung unvermeidlich<lb/> eintritt. Wie es unmöglich ist, daß die Herren durch alle Zeiten so vornehm<lb/> bleiben können, immer nur zu befehlen, ohne jemals Gründe anzugeben, weil<lb/> in jedem nicht ganz stumpfsinnigen Volke einmal der Zeitpunkt eintritt, wo<lb/> die Dienenden anfangen zu fragen, warum sie gehorchen sollen, so ist es auch<lb/> einem begabten Volk unmöglich, bis ans Ende der Zeiten auf der Stufe seines<lb/> reflexionslosen Glaubens oder Aberglaubens stehen zu bleiben. Zu irgend<lb/> einer Zeit fängt es einmal an, bei allem, was es sieht, nach Gründen zu<lb/> fragen und die Gründe, die ihm bis dahin seine Priester und Medizinmänner<lb/> angegeben haben, zu untersuchen; so entsteht eine Philosophie, die sich all¬<lb/> mählich in Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft spaltet. Wenn nun<lb/> Nietzsche die vorsokratische Philosophie preist, den Sokrates des Verderbs der<lb/> echten Philosophie anklagt, dem Plato in der Philosophie dieselbe Rolle zu¬<lb/> erteilt wie dem Euripides in der tragischen Poesie, so kehrt er, scheint es mir,<lb/> den Sachverhalt um. Gerade die vorsokratische Philosophie war auf dem<lb/> Wege der Untersuchung des Seins und Werdens ungefähr dort angelangt, wo<lb/> unsre heutige steht: bei der Auflösung der Welt entweder in einen wesenlosen<lb/> Schein oder in ein Chaos von Unvernunft, das zur pessimistischen Welt- und<lb/> Willensverneinung einlud, wie sich denn der von Nietzsche so hoch gestellte<lb/> Empedokles in der That in den Krater des Ätna gestürzt haben soll. Indem<lb/> Sokrates alle diese philosophischen Untersuchungen der Natur für wertlos er¬<lb/> klärte, den Blick auf das Menschendasein und seine Verbesserung richten lehrte<lb/> und der Menschenseele durch die Unsterblichkeitslehre ewigen Wert verlieh, hat<lb/> er den durch die Philosophie gefährdeten Seelen der Edelsten seines Volkes<lb/> wieder Mut und Lust zum Leben eingeflößt. Nietzsche muß denn auch selbst<lb/> eingestehen, daß Sokrates den philosophischen Optimismus begründet und neue<lb/> Heiterkeit verbreitet habe, doch das nimmt er ihm nun wieder übel; von seinem<lb/> frühern schopenhauerischen Standpunkte aus freilich mit Recht, aber wenn er<lb/> ihm auch in seiner spätern „tanzlustigen" Stimmung einen Vorwurf daraus<lb/> macht, so kann er das nur sehr künstlich begründen. Endlich ist gar nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0290]
Friedrich Nietzsche
drängen müssen, denn es würde lächerlich gewesen sein, wenn man Disputa¬
tionen hätte singen wollen. An dem allen ist ja viel wahres. Man hat es
lange vor Nietzsche gewußt, daß die Dialektik jeden religiösen, politischen,
wissenschaftlichen und ästhetischen Glauben auflöst. Ob sie aber auch den
Staat, die Kirche und die Kunst zerstört, das hängt ganz und gar von dem
Gesundheitszustande des Volkes ab, das der Träger des Kirchentums, des
Staates und der Kunst ist. Ein kräftiger Staat kann jedes beliebige Maß
von Parlaments-, Zeitungs- und Vereinsgeschwätz vertragen, ohne davon eine
Erschütterung zu erleiden, und wenn ein schwacher Staat zu Grunde geht, so
geht er nicht am Geschwätz zu Grunde, sondern dieses ist bloß eine Begleit¬
erscheinung seines allmähliche» Verscheidens. An sich ist die Dialektik eine Er¬
scheinung, die bei einem gewissen Grade der Kulturentwicklung unvermeidlich
eintritt. Wie es unmöglich ist, daß die Herren durch alle Zeiten so vornehm
bleiben können, immer nur zu befehlen, ohne jemals Gründe anzugeben, weil
in jedem nicht ganz stumpfsinnigen Volke einmal der Zeitpunkt eintritt, wo
die Dienenden anfangen zu fragen, warum sie gehorchen sollen, so ist es auch
einem begabten Volk unmöglich, bis ans Ende der Zeiten auf der Stufe seines
reflexionslosen Glaubens oder Aberglaubens stehen zu bleiben. Zu irgend
einer Zeit fängt es einmal an, bei allem, was es sieht, nach Gründen zu
fragen und die Gründe, die ihm bis dahin seine Priester und Medizinmänner
angegeben haben, zu untersuchen; so entsteht eine Philosophie, die sich all¬
mählich in Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft spaltet. Wenn nun
Nietzsche die vorsokratische Philosophie preist, den Sokrates des Verderbs der
echten Philosophie anklagt, dem Plato in der Philosophie dieselbe Rolle zu¬
erteilt wie dem Euripides in der tragischen Poesie, so kehrt er, scheint es mir,
den Sachverhalt um. Gerade die vorsokratische Philosophie war auf dem
Wege der Untersuchung des Seins und Werdens ungefähr dort angelangt, wo
unsre heutige steht: bei der Auflösung der Welt entweder in einen wesenlosen
Schein oder in ein Chaos von Unvernunft, das zur pessimistischen Welt- und
Willensverneinung einlud, wie sich denn der von Nietzsche so hoch gestellte
Empedokles in der That in den Krater des Ätna gestürzt haben soll. Indem
Sokrates alle diese philosophischen Untersuchungen der Natur für wertlos er¬
klärte, den Blick auf das Menschendasein und seine Verbesserung richten lehrte
und der Menschenseele durch die Unsterblichkeitslehre ewigen Wert verlieh, hat
er den durch die Philosophie gefährdeten Seelen der Edelsten seines Volkes
wieder Mut und Lust zum Leben eingeflößt. Nietzsche muß denn auch selbst
eingestehen, daß Sokrates den philosophischen Optimismus begründet und neue
Heiterkeit verbreitet habe, doch das nimmt er ihm nun wieder übel; von seinem
frühern schopenhauerischen Standpunkte aus freilich mit Recht, aber wenn er
ihm auch in seiner spätern „tanzlustigen" Stimmung einen Vorwurf daraus
macht, so kann er das nur sehr künstlich begründen. Endlich ist gar nicht
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