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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Leistungen des Sokrates. Gewöhnlich aber spricht er schlecht von ihm. Er
schließt aus seiner Häßlichkeit, daß er gar kein Grieche gewesen sei, und er
nennt ihn plebejisch. Sokrates sei der theoretische Mensch, und alles Theore-
tisiren sei plebejisch. Der vornehme Mensch handle aus Instinkt und könne
niemals genügend über die Gründe seines Handelns Auskunft geben (VII, 121).
"Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um:
was geschieht da eigentlich? Vor allem wird damit ein vornehmer Geschmack
besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte
man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als
schlechte Manieren, sie stellten bloß. Man warnte die Jugend vor ihnen.
Auch mißtraute man allem solchen Präsentiren seiner Gründe. Honette Dinge
tragen, wie honette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist
unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen muß, ist
wenig wert. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte gehört, wo man
nicht "begründet," sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst:
man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. Sokrates war der Hanswurst,
der sich ernst nehmen machte: was geschah da eigentlich? Man wählt die
Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiß, daß man Mi߬
trauen mit ihr erregt, daß sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwischen
als ein Dialektikereffekt: die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird,
beweist das. Sie kann nur Notwehr sein, in den Händen solcher, die keine
andern Waffen mehr haben. Man muß sein Recht zu erzwingen haben, eher
macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren jund sindlj deshalb
Dialektiker; Reinecke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch?"
(VIII, 70). Aus Euripides spricht nun nicht mehr der Gott Dionhsns, sondern
der Dämon Sokrates, und so hat er denn die Tragödie vernichtet. In ihm
hat die Tragödie selbst tragisch geendet, durch Selbstmord (I, 77).

Ich sagte mir, als ich das las, daß man bei solcher Auffassung den Tod
der Tragödie eigentlich mit ihrer Geburt zusammenfallen lassen müsse, denn
nicht erst bei Euripides, sondern schon bei Sophokles wird rüsonnirt, ja auch
schon in den Eumeniden des Äschylus wird darüber gestritten, welches das
größere Verbrechen sei, der Gattenmord oder der Muttermord, und werden die
beiderseitigen Ansichten begründet, und sind auch die Helden des Euripides
ganz, ungöttlich und durchaus den Zuschauern ähnlich, wie Nietzsche richtig
aber tadelnd hervorhebt, so sind doch auch schon die des Sophokles recht
menschlich -- und eben deshalb uns so wert -- und auch die des Äschylus,
obwohl viel einfacher, strenger, erhabner, doch noch als Menschen zu erkennen.
Nachdem ich mir das gesagt hatte, fand ich, daß es auch Nietzsche selbst sagt
(u. a. IX, 40 und 41); nur die ersten Tragödien des Äschylus aus der Zeit,
wo er uoch nicht von Sophokles beeinflußt war, seien echte Tragödien gewesen.
Die soiratische Dialektik habe auch die Seele, die Musik aus dem Drama ver-


Grenzboten II 1898 A!
Friedrich Nietzsche

Leistungen des Sokrates. Gewöhnlich aber spricht er schlecht von ihm. Er
schließt aus seiner Häßlichkeit, daß er gar kein Grieche gewesen sei, und er
nennt ihn plebejisch. Sokrates sei der theoretische Mensch, und alles Theore-
tisiren sei plebejisch. Der vornehme Mensch handle aus Instinkt und könne
niemals genügend über die Gründe seines Handelns Auskunft geben (VII, 121).
„Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um:
was geschieht da eigentlich? Vor allem wird damit ein vornehmer Geschmack
besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte
man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als
schlechte Manieren, sie stellten bloß. Man warnte die Jugend vor ihnen.
Auch mißtraute man allem solchen Präsentiren seiner Gründe. Honette Dinge
tragen, wie honette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist
unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen muß, ist
wenig wert. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte gehört, wo man
nicht »begründet,« sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst:
man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. Sokrates war der Hanswurst,
der sich ernst nehmen machte: was geschah da eigentlich? Man wählt die
Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiß, daß man Mi߬
trauen mit ihr erregt, daß sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwischen
als ein Dialektikereffekt: die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird,
beweist das. Sie kann nur Notwehr sein, in den Händen solcher, die keine
andern Waffen mehr haben. Man muß sein Recht zu erzwingen haben, eher
macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren jund sindlj deshalb
Dialektiker; Reinecke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch?"
(VIII, 70). Aus Euripides spricht nun nicht mehr der Gott Dionhsns, sondern
der Dämon Sokrates, und so hat er denn die Tragödie vernichtet. In ihm
hat die Tragödie selbst tragisch geendet, durch Selbstmord (I, 77).

Ich sagte mir, als ich das las, daß man bei solcher Auffassung den Tod
der Tragödie eigentlich mit ihrer Geburt zusammenfallen lassen müsse, denn
nicht erst bei Euripides, sondern schon bei Sophokles wird rüsonnirt, ja auch
schon in den Eumeniden des Äschylus wird darüber gestritten, welches das
größere Verbrechen sei, der Gattenmord oder der Muttermord, und werden die
beiderseitigen Ansichten begründet, und sind auch die Helden des Euripides
ganz, ungöttlich und durchaus den Zuschauern ähnlich, wie Nietzsche richtig
aber tadelnd hervorhebt, so sind doch auch schon die des Sophokles recht
menschlich — und eben deshalb uns so wert — und auch die des Äschylus,
obwohl viel einfacher, strenger, erhabner, doch noch als Menschen zu erkennen.
Nachdem ich mir das gesagt hatte, fand ich, daß es auch Nietzsche selbst sagt
(u. a. IX, 40 und 41); nur die ersten Tragödien des Äschylus aus der Zeit,
wo er uoch nicht von Sophokles beeinflußt war, seien echte Tragödien gewesen.
Die soiratische Dialektik habe auch die Seele, die Musik aus dem Drama ver-


Grenzboten II 1898 A!
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[0289] Friedrich Nietzsche Leistungen des Sokrates. Gewöhnlich aber spricht er schlecht von ihm. Er schließt aus seiner Häßlichkeit, daß er gar kein Grieche gewesen sei, und er nennt ihn plebejisch. Sokrates sei der theoretische Mensch, und alles Theore- tisiren sei plebejisch. Der vornehme Mensch handle aus Instinkt und könne niemals genügend über die Gründe seines Handelns Auskunft geben (VII, 121). „Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor allem wird damit ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloß. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch mißtraute man allem solchen Präsentiren seiner Gründe. Honette Dinge tragen, wie honette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen muß, ist wenig wert. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte gehört, wo man nicht »begründet,« sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst: man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. Sokrates war der Hanswurst, der sich ernst nehmen machte: was geschah da eigentlich? Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiß, daß man Mi߬ trauen mit ihr erregt, daß sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektikereffekt: die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann nur Notwehr sein, in den Händen solcher, die keine andern Waffen mehr haben. Man muß sein Recht zu erzwingen haben, eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren jund sindlj deshalb Dialektiker; Reinecke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch?" (VIII, 70). Aus Euripides spricht nun nicht mehr der Gott Dionhsns, sondern der Dämon Sokrates, und so hat er denn die Tragödie vernichtet. In ihm hat die Tragödie selbst tragisch geendet, durch Selbstmord (I, 77). Ich sagte mir, als ich das las, daß man bei solcher Auffassung den Tod der Tragödie eigentlich mit ihrer Geburt zusammenfallen lassen müsse, denn nicht erst bei Euripides, sondern schon bei Sophokles wird rüsonnirt, ja auch schon in den Eumeniden des Äschylus wird darüber gestritten, welches das größere Verbrechen sei, der Gattenmord oder der Muttermord, und werden die beiderseitigen Ansichten begründet, und sind auch die Helden des Euripides ganz, ungöttlich und durchaus den Zuschauern ähnlich, wie Nietzsche richtig aber tadelnd hervorhebt, so sind doch auch schon die des Sophokles recht menschlich — und eben deshalb uns so wert — und auch die des Äschylus, obwohl viel einfacher, strenger, erhabner, doch noch als Menschen zu erkennen. Nachdem ich mir das gesagt hatte, fand ich, daß es auch Nietzsche selbst sagt (u. a. IX, 40 und 41); nur die ersten Tragödien des Äschylus aus der Zeit, wo er uoch nicht von Sophokles beeinflußt war, seien echte Tragödien gewesen. Die soiratische Dialektik habe auch die Seele, die Musik aus dem Drama ver- Grenzboten II 1898 A!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/289>, abgerufen am 28.12.2024.