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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

darein des Bildnergeistes und der den Orgiasmus bändigenden Sitte und Be¬
sonnenheit zu uemien. Was den, Dionysus anlangt, so ist seine Stellung zur
Tragödie schon durch deren Namen gegeben, denn sie hat ihn ja von dem
Bock, der diesem Gott geschlachtet wurde, vielleicht auch von den bockfüßigen
Satyrn, seinen Begleitern. Übrigens hat Nietzsche später gestanden, daß ihm
diese historische Begründung der Bezeichnung dessen, was er mit dem Worte
dionysisch meinte, eigentlich Nebensache sei. Der dritten Auflage, die 1886
erschien, hat er unter dem Titel: Versuch einer Selbstkritik, ein Vorwort
vorausgeschickt, worin er die Schrift "ein unmögliches Buch" schilt. "Ich
heiße es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwütig und bilderwirrig.
gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo,
ohne Willen zur logischen Sauberkeit" usw. (alles Fehler, nebenbei gesagt, an
denen mir der Zarathustra in weit höherm Grade zu leiden scheint als dieses
Erstlingswerk). Gilt findet er in dem Buche den Geist, der es beseelt. Wenn
nämlich auch der darin ausgesprochne Gedanke, daß sich das Dasein der Welt
nur als ästhetisches Phänomen rechtfertigen lasse, falsch sei, so habe doch dieser
rein ästhetischen Weltbetrachtung eine löbliche Empfindung zu Grunde gelegen:
der Haß gegen das Christentum und gegen dessen auch von Schopenhauer ver¬
tretene moralische Weltbetrachtung, die auf Verneinung des irdischen Daseins
hinauslaufe. "Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem frag¬
würdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens,
und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens,
eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und
Mensch der Worte durfte ich sie, nicht ohne einige Freiheit -- denn wer wüßte
den rechten Namen des Antichrist? -- auf den Namen eines griechischen Gottes:
ich hieß sie die dionysische." Er bedauert dann, daß er damals noch nicht
den Mut oder die Unbescheidenheit gehabt habe, sich für seine eignen An¬
schauungen auch eine eigne Sprache zu erlauben, daß er mühselig mit Schopen¬
hauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Wertschätzungen auszu¬
drücken gesucht habe, "die dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie
ihrem Geschmack, von Grund aus entgegen gingen!"

Wir lassen diesen Erguß, mit dem er, wie mir scheint, sein früheres,
jüngeres Ich ein wenig verleumdet, auf sich beruhen und wenden uns den
beiden Gedankenreihen zu, die von der "Geburt der Tragödie" ausgehen und
alle Werke Nietzsches durchziehen, den Betrachtungen über das Wesen des
Griechentums und über die Kunst. Nietzsche klagt den Sokrates an als den
Zerstörer des alten Griechengeistcs, des einfachen, seiner selbst gewissen, vor¬
nehmen Geistes der ältern Zeit. Wie er denn gewöhnt ist, jeden Gegenstand
von allen Seiten zu beschauen, daher die entgegengesetztesten Eigenschaften daran
zu entdecken und die Gegensätze in den übertriebensten Ausdrücken hervorzu¬
heben, so preist er ja auch gelegentlich die außerordentlichen Gaben und


Friedrich Nietzsche

darein des Bildnergeistes und der den Orgiasmus bändigenden Sitte und Be¬
sonnenheit zu uemien. Was den, Dionysus anlangt, so ist seine Stellung zur
Tragödie schon durch deren Namen gegeben, denn sie hat ihn ja von dem
Bock, der diesem Gott geschlachtet wurde, vielleicht auch von den bockfüßigen
Satyrn, seinen Begleitern. Übrigens hat Nietzsche später gestanden, daß ihm
diese historische Begründung der Bezeichnung dessen, was er mit dem Worte
dionysisch meinte, eigentlich Nebensache sei. Der dritten Auflage, die 1886
erschien, hat er unter dem Titel: Versuch einer Selbstkritik, ein Vorwort
vorausgeschickt, worin er die Schrift „ein unmögliches Buch" schilt. „Ich
heiße es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwütig und bilderwirrig.
gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo,
ohne Willen zur logischen Sauberkeit" usw. (alles Fehler, nebenbei gesagt, an
denen mir der Zarathustra in weit höherm Grade zu leiden scheint als dieses
Erstlingswerk). Gilt findet er in dem Buche den Geist, der es beseelt. Wenn
nämlich auch der darin ausgesprochne Gedanke, daß sich das Dasein der Welt
nur als ästhetisches Phänomen rechtfertigen lasse, falsch sei, so habe doch dieser
rein ästhetischen Weltbetrachtung eine löbliche Empfindung zu Grunde gelegen:
der Haß gegen das Christentum und gegen dessen auch von Schopenhauer ver¬
tretene moralische Weltbetrachtung, die auf Verneinung des irdischen Daseins
hinauslaufe. „Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem frag¬
würdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens,
und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens,
eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und
Mensch der Worte durfte ich sie, nicht ohne einige Freiheit — denn wer wüßte
den rechten Namen des Antichrist? — auf den Namen eines griechischen Gottes:
ich hieß sie die dionysische." Er bedauert dann, daß er damals noch nicht
den Mut oder die Unbescheidenheit gehabt habe, sich für seine eignen An¬
schauungen auch eine eigne Sprache zu erlauben, daß er mühselig mit Schopen¬
hauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Wertschätzungen auszu¬
drücken gesucht habe, „die dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie
ihrem Geschmack, von Grund aus entgegen gingen!"

Wir lassen diesen Erguß, mit dem er, wie mir scheint, sein früheres,
jüngeres Ich ein wenig verleumdet, auf sich beruhen und wenden uns den
beiden Gedankenreihen zu, die von der „Geburt der Tragödie" ausgehen und
alle Werke Nietzsches durchziehen, den Betrachtungen über das Wesen des
Griechentums und über die Kunst. Nietzsche klagt den Sokrates an als den
Zerstörer des alten Griechengeistcs, des einfachen, seiner selbst gewissen, vor¬
nehmen Geistes der ältern Zeit. Wie er denn gewöhnt ist, jeden Gegenstand
von allen Seiten zu beschauen, daher die entgegengesetztesten Eigenschaften daran
zu entdecken und die Gegensätze in den übertriebensten Ausdrücken hervorzu¬
heben, so preist er ja auch gelegentlich die außerordentlichen Gaben und


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[0288] Friedrich Nietzsche darein des Bildnergeistes und der den Orgiasmus bändigenden Sitte und Be¬ sonnenheit zu uemien. Was den, Dionysus anlangt, so ist seine Stellung zur Tragödie schon durch deren Namen gegeben, denn sie hat ihn ja von dem Bock, der diesem Gott geschlachtet wurde, vielleicht auch von den bockfüßigen Satyrn, seinen Begleitern. Übrigens hat Nietzsche später gestanden, daß ihm diese historische Begründung der Bezeichnung dessen, was er mit dem Worte dionysisch meinte, eigentlich Nebensache sei. Der dritten Auflage, die 1886 erschien, hat er unter dem Titel: Versuch einer Selbstkritik, ein Vorwort vorausgeschickt, worin er die Schrift „ein unmögliches Buch" schilt. „Ich heiße es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwütig und bilderwirrig. gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit" usw. (alles Fehler, nebenbei gesagt, an denen mir der Zarathustra in weit höherm Grade zu leiden scheint als dieses Erstlingswerk). Gilt findet er in dem Buche den Geist, der es beseelt. Wenn nämlich auch der darin ausgesprochne Gedanke, daß sich das Dasein der Welt nur als ästhetisches Phänomen rechtfertigen lasse, falsch sei, so habe doch dieser rein ästhetischen Weltbetrachtung eine löbliche Empfindung zu Grunde gelegen: der Haß gegen das Christentum und gegen dessen auch von Schopenhauer ver¬ tretene moralische Weltbetrachtung, die auf Verneinung des irdischen Daseins hinauslaufe. „Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem frag¬ würdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte durfte ich sie, nicht ohne einige Freiheit — denn wer wüßte den rechten Namen des Antichrist? — auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hieß sie die dionysische." Er bedauert dann, daß er damals noch nicht den Mut oder die Unbescheidenheit gehabt habe, sich für seine eignen An¬ schauungen auch eine eigne Sprache zu erlauben, daß er mühselig mit Schopen¬ hauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Wertschätzungen auszu¬ drücken gesucht habe, „die dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmack, von Grund aus entgegen gingen!" Wir lassen diesen Erguß, mit dem er, wie mir scheint, sein früheres, jüngeres Ich ein wenig verleumdet, auf sich beruhen und wenden uns den beiden Gedankenreihen zu, die von der „Geburt der Tragödie" ausgehen und alle Werke Nietzsches durchziehen, den Betrachtungen über das Wesen des Griechentums und über die Kunst. Nietzsche klagt den Sokrates an als den Zerstörer des alten Griechengeistcs, des einfachen, seiner selbst gewissen, vor¬ nehmen Geistes der ältern Zeit. Wie er denn gewöhnt ist, jeden Gegenstand von allen Seiten zu beschauen, daher die entgegengesetztesten Eigenschaften daran zu entdecken und die Gegensätze in den übertriebensten Ausdrücken hervorzu¬ heben, so preist er ja auch gelegentlich die außerordentlichen Gaben und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/288>, abgerufen am 23.07.2024.