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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Evangelismus in Rußland

sitzt dem russischen Bauer,? -- d. h. neun Zehnteln der Bevölkerung -- noch
zu tief im Leibe, und sein Gesichtskreis ist noch von Schulung zu wenig er¬
weitert, um zu begreifen, daß man in der Welt ohne einen Zaren leben oder
sich auf gleiche Stufe mit einem Wirklichen Staatsrat erheben könne. Kein
Volk in Enropa mag politisch so bequem, so leicht zu regieren sein als das
rassische; keines hat vielleicht so das Dulden gelernt, und keinem ist die Pietät
für herkömmliche Gewalt so angeboren wie dem russischen. Aber neben dieser
Pietät ist es erfüllt von der ?ist>g,s des Gemüts, worin der religiöse Sinn
seine besten Wurzeln hat. Trotz des toten Formalismus seiner Kirche -- oder
vielleicht infolge davon -- hat sich bei ihm diese instinktive Frömmigkeit in
hohem Maße erhalten, und je weniger Wissen und Reflexion das Volt zu
eignen Meinungen über öffentliche Dinge hinleiten, umso größer ist die Wirkung
des religiösen Empfindens und der religiösen Vorstellungen auf sein reiches,
bewegliches und tiefes Gemüt, auf seine schnelle und klare Anffasfungskraft.
Wer in Nußland an eine große Zukunft und an ein freies Volksleben glaubt,
hofft auf eine Erhebung durch den Bauern, fühlt in ihm die nationale Kraft
und das nationale Heiligtum; und mit Recht, insoweit als die guten Kräfte
des Nusfentums dort im Dorf, nicht in der sogenannten Intelligenz, den obern
Schichten beschlossen sind. Dieser Bauer nun, der, wenn er überhaupt lesen
kann, nie eine Zeitung, höchst selten ein Buch liest, wird mächtig gepackt von
der einfältig-verständlichen Frömmigkeit, die ihm aus dem Evangelium ent¬
gegenströmt. Dulden -- das versteht er! Lieben, wohlthun -- das ist nach
seinem Sinn! Gott fürchten -- das steckt in ihm wie die Zarenfurcht. Und
den Priester, den Popen hat er niemals hoch geachtet, sondern ihn oft mi߬
handelt; abergläubisch speit er aus, wo er ihm in der Straße begegnet. Und
endlich: die bei alledem demokratische Natur des Russen spürt bald die Brüder¬
lichkeit in den Lehren des Evangeliums heraus.

Daß beim Bauern die Neuheit der evangelischen Erzählungen und Lehren
nicht ohne Einfluß auf das von ihnen erweckte Interesse ist, wird verständlich,
wenn man erwägt, daß die orthodoxe Kirche im allgemeinen die Predigt nicht
übt, und daß der Bauer bis vor kurzem, auch wenn er lesen konnte, doch
die Bibel nicht las, weil sie eben nicht zu haben war. Überraschender
-- wenigstens für Leute, die eine protestantische Erziehung genossen haben --
ist es, zu bemerken, wie auch auf die höchstgebildeten Kreise der orthodoxen
Kirche die Schriften des Neuen Testaments mit der Kraft gänzlich unbekannter,
neuer Offenbarungen wirken. Ich selbst habe in stundenlangen Gesprächen
mit Paschkow mit steigender Verwunderung wahrgenommen, wie dieser von
reinstem Feuer für die Heilslehren des Evangeliums erfüllte Mann stets durch-
drungen war von der Annahme, daß nur meine Unkenntnis dieser Heilslehren
daran schuld Ware, wenn diese Lehren in mir nicht ein gleiches Feuer zu
entzünden vermocht hatten. Und doch war das, was er mir als neue Offen-


Der Evangelismus in Rußland

sitzt dem russischen Bauer,? — d. h. neun Zehnteln der Bevölkerung — noch
zu tief im Leibe, und sein Gesichtskreis ist noch von Schulung zu wenig er¬
weitert, um zu begreifen, daß man in der Welt ohne einen Zaren leben oder
sich auf gleiche Stufe mit einem Wirklichen Staatsrat erheben könne. Kein
Volk in Enropa mag politisch so bequem, so leicht zu regieren sein als das
rassische; keines hat vielleicht so das Dulden gelernt, und keinem ist die Pietät
für herkömmliche Gewalt so angeboren wie dem russischen. Aber neben dieser
Pietät ist es erfüllt von der ?ist>g,s des Gemüts, worin der religiöse Sinn
seine besten Wurzeln hat. Trotz des toten Formalismus seiner Kirche — oder
vielleicht infolge davon — hat sich bei ihm diese instinktive Frömmigkeit in
hohem Maße erhalten, und je weniger Wissen und Reflexion das Volt zu
eignen Meinungen über öffentliche Dinge hinleiten, umso größer ist die Wirkung
des religiösen Empfindens und der religiösen Vorstellungen auf sein reiches,
bewegliches und tiefes Gemüt, auf seine schnelle und klare Anffasfungskraft.
Wer in Nußland an eine große Zukunft und an ein freies Volksleben glaubt,
hofft auf eine Erhebung durch den Bauern, fühlt in ihm die nationale Kraft
und das nationale Heiligtum; und mit Recht, insoweit als die guten Kräfte
des Nusfentums dort im Dorf, nicht in der sogenannten Intelligenz, den obern
Schichten beschlossen sind. Dieser Bauer nun, der, wenn er überhaupt lesen
kann, nie eine Zeitung, höchst selten ein Buch liest, wird mächtig gepackt von
der einfältig-verständlichen Frömmigkeit, die ihm aus dem Evangelium ent¬
gegenströmt. Dulden — das versteht er! Lieben, wohlthun — das ist nach
seinem Sinn! Gott fürchten — das steckt in ihm wie die Zarenfurcht. Und
den Priester, den Popen hat er niemals hoch geachtet, sondern ihn oft mi߬
handelt; abergläubisch speit er aus, wo er ihm in der Straße begegnet. Und
endlich: die bei alledem demokratische Natur des Russen spürt bald die Brüder¬
lichkeit in den Lehren des Evangeliums heraus.

Daß beim Bauern die Neuheit der evangelischen Erzählungen und Lehren
nicht ohne Einfluß auf das von ihnen erweckte Interesse ist, wird verständlich,
wenn man erwägt, daß die orthodoxe Kirche im allgemeinen die Predigt nicht
übt, und daß der Bauer bis vor kurzem, auch wenn er lesen konnte, doch
die Bibel nicht las, weil sie eben nicht zu haben war. Überraschender
— wenigstens für Leute, die eine protestantische Erziehung genossen haben —
ist es, zu bemerken, wie auch auf die höchstgebildeten Kreise der orthodoxen
Kirche die Schriften des Neuen Testaments mit der Kraft gänzlich unbekannter,
neuer Offenbarungen wirken. Ich selbst habe in stundenlangen Gesprächen
mit Paschkow mit steigender Verwunderung wahrgenommen, wie dieser von
reinstem Feuer für die Heilslehren des Evangeliums erfüllte Mann stets durch-
drungen war von der Annahme, daß nur meine Unkenntnis dieser Heilslehren
daran schuld Ware, wenn diese Lehren in mir nicht ein gleiches Feuer zu
entzünden vermocht hatten. Und doch war das, was er mir als neue Offen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/232>, abgerufen am 27.12.2024.