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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelismus in Rußland

barungen bot, genau dasselbe, was mir von frühester Kindheit an in Eltern¬
haus und Schule täglich war geboten worden. Erkenntnis der Sündhaftigkeit,
Erlösung durch den Tod des Gottessohnes -- dem protestantisch erzognen
Knaben geläufige Vorstellungen waren hier dem reifen Manne neue und
überraschende Erfahrungen, die er an sich selbst gemacht hatte, und deren ent¬
stammende Wirkung er nun ausbleiben sah. Wir verstanden einander nicht,
weil ich in der lutherischen, er in der orthodoxen Kirche aufgewachsen war.

Dem orthodoxen Russentum aller Stände ist das christliche Evangelium
eine neue Entdeckung. Sie wird ihren Weg machen trotz aller Bemühungen
der Kirche, ihren Gang zu hemmen. Und der Evangelismus wird nicht bloß
seine religiöse Wirkung, sondern vornehmlich seinen großen moralischen Einfluß
auf das gesamte Volksleben haben. Dafür liegen zahlreiche Anzeichen vor in
dem plötzlichen Erwachen des sittlichen Bewußtseins überall dort, wo eine
evangelische Bewegung auftaucht.

Eine durchgreifende Reform der Staatskirche darf kaum erwartet werden,
solange als Staat und Kirche so fest mit einander verschmolzen sind, wie es
seit der kirchlichen Usurpation durch Peter I. der Fall ist. Die Macht, die
dem Zarentum aus dieser Verschmelzung zuwächst, ist zu groß, als daß man
sie ohne Zwang würde sahren lassen; es bedürfte zu einer Trennung von
Staat und Kirche eines politischen Zusammenbruchs der Staatsgewalt, dem
dann allerdings die Schwächung auch der kirchlichen Autorität bald folgen würde;
das würde den Raum für die üppige Entwicklung der Sekten freimachen. Nichts
aber könnte der innern Belebung der toten Masse des Volks förderlicher
werden als die Belebung seines religiösen Empfindens, die Befreiung vom
kirchlichen Zwang, die Gewährung der Glaubensfreiheit. In dem Kultur¬
zustande, worin der russische Bauer lebt, und bei dem ihm eignen Charakter
hat das Neue Testament für ihn eine größere Kraft als alle Schulbücher,
mit denen man ihn beglücken wollte. Alexander II. hätte sich wohl entschlossen,
Glaubensfreiheit zu gewähren; er hat aber mit Bedauern erklärt, er dürfe
diesen Schritt nicht wagen. Ob Nikolaus II. ihn wagen wird? Schwerlich
,
L. von der Brügger solange ein Pobedonoszew regiert.




Grenzboten II 189829
Der Lvangelismus in Rußland

barungen bot, genau dasselbe, was mir von frühester Kindheit an in Eltern¬
haus und Schule täglich war geboten worden. Erkenntnis der Sündhaftigkeit,
Erlösung durch den Tod des Gottessohnes — dem protestantisch erzognen
Knaben geläufige Vorstellungen waren hier dem reifen Manne neue und
überraschende Erfahrungen, die er an sich selbst gemacht hatte, und deren ent¬
stammende Wirkung er nun ausbleiben sah. Wir verstanden einander nicht,
weil ich in der lutherischen, er in der orthodoxen Kirche aufgewachsen war.

Dem orthodoxen Russentum aller Stände ist das christliche Evangelium
eine neue Entdeckung. Sie wird ihren Weg machen trotz aller Bemühungen
der Kirche, ihren Gang zu hemmen. Und der Evangelismus wird nicht bloß
seine religiöse Wirkung, sondern vornehmlich seinen großen moralischen Einfluß
auf das gesamte Volksleben haben. Dafür liegen zahlreiche Anzeichen vor in
dem plötzlichen Erwachen des sittlichen Bewußtseins überall dort, wo eine
evangelische Bewegung auftaucht.

Eine durchgreifende Reform der Staatskirche darf kaum erwartet werden,
solange als Staat und Kirche so fest mit einander verschmolzen sind, wie es
seit der kirchlichen Usurpation durch Peter I. der Fall ist. Die Macht, die
dem Zarentum aus dieser Verschmelzung zuwächst, ist zu groß, als daß man
sie ohne Zwang würde sahren lassen; es bedürfte zu einer Trennung von
Staat und Kirche eines politischen Zusammenbruchs der Staatsgewalt, dem
dann allerdings die Schwächung auch der kirchlichen Autorität bald folgen würde;
das würde den Raum für die üppige Entwicklung der Sekten freimachen. Nichts
aber könnte der innern Belebung der toten Masse des Volks förderlicher
werden als die Belebung seines religiösen Empfindens, die Befreiung vom
kirchlichen Zwang, die Gewährung der Glaubensfreiheit. In dem Kultur¬
zustande, worin der russische Bauer lebt, und bei dem ihm eignen Charakter
hat das Neue Testament für ihn eine größere Kraft als alle Schulbücher,
mit denen man ihn beglücken wollte. Alexander II. hätte sich wohl entschlossen,
Glaubensfreiheit zu gewähren; er hat aber mit Bedauern erklärt, er dürfe
diesen Schritt nicht wagen. Ob Nikolaus II. ihn wagen wird? Schwerlich
,
L. von der Brügger solange ein Pobedonoszew regiert.




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[0233] Der Lvangelismus in Rußland barungen bot, genau dasselbe, was mir von frühester Kindheit an in Eltern¬ haus und Schule täglich war geboten worden. Erkenntnis der Sündhaftigkeit, Erlösung durch den Tod des Gottessohnes — dem protestantisch erzognen Knaben geläufige Vorstellungen waren hier dem reifen Manne neue und überraschende Erfahrungen, die er an sich selbst gemacht hatte, und deren ent¬ stammende Wirkung er nun ausbleiben sah. Wir verstanden einander nicht, weil ich in der lutherischen, er in der orthodoxen Kirche aufgewachsen war. Dem orthodoxen Russentum aller Stände ist das christliche Evangelium eine neue Entdeckung. Sie wird ihren Weg machen trotz aller Bemühungen der Kirche, ihren Gang zu hemmen. Und der Evangelismus wird nicht bloß seine religiöse Wirkung, sondern vornehmlich seinen großen moralischen Einfluß auf das gesamte Volksleben haben. Dafür liegen zahlreiche Anzeichen vor in dem plötzlichen Erwachen des sittlichen Bewußtseins überall dort, wo eine evangelische Bewegung auftaucht. Eine durchgreifende Reform der Staatskirche darf kaum erwartet werden, solange als Staat und Kirche so fest mit einander verschmolzen sind, wie es seit der kirchlichen Usurpation durch Peter I. der Fall ist. Die Macht, die dem Zarentum aus dieser Verschmelzung zuwächst, ist zu groß, als daß man sie ohne Zwang würde sahren lassen; es bedürfte zu einer Trennung von Staat und Kirche eines politischen Zusammenbruchs der Staatsgewalt, dem dann allerdings die Schwächung auch der kirchlichen Autorität bald folgen würde; das würde den Raum für die üppige Entwicklung der Sekten freimachen. Nichts aber könnte der innern Belebung der toten Masse des Volks förderlicher werden als die Belebung seines religiösen Empfindens, die Befreiung vom kirchlichen Zwang, die Gewährung der Glaubensfreiheit. In dem Kultur¬ zustande, worin der russische Bauer lebt, und bei dem ihm eignen Charakter hat das Neue Testament für ihn eine größere Kraft als alle Schulbücher, mit denen man ihn beglücken wollte. Alexander II. hätte sich wohl entschlossen, Glaubensfreiheit zu gewähren; er hat aber mit Bedauern erklärt, er dürfe diesen Schritt nicht wagen. Ob Nikolaus II. ihn wagen wird? Schwerlich , L. von der Brügger solange ein Pobedonoszew regiert. Grenzboten II 189829

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/233>, abgerufen am 23.07.2024.