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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelismus in Rußland

über die volljährigen Orthodoxen, welche bei Sektirern in Dienst treten, dnrch
die Ortsgeistlichkeit eine besondre Kontrolle auszuüben. Da die Stundisten,
welche seit 1894 des Rechts, zu Gebetsversammlungen zusammenzukommen,
beraubt sind, in letzter Zeit begonnen haben, zu diesem Zwecke die benachbarten
lutherischen Kirchen zu besuchen, in denen die Pastoren sür sie russischen
Gottesdienst abhalten, so beschloß der Kongreß, die Regierung durch den
Hi. spröd darum zu bitten, daß es verboten werde, in den Gegenden, wo
Stnndisten leben, lutherische Gottesdienste in russischer Sprache abzuhalten.

"Da nach dem Strafgesetzbuche nur diejenigen Personen zur Verantwortung
gezogen werden können, welche den Raskol und die sektirerischen Lehren
"öffentlich" predigen, so saßte der Kongreß ferner den Beschluß, durch den
Hi. spröd an die mit der Redaktion des neuen Strafgesetzbuchs beschäftigte
Kommission das Ansuchen zu richten, sie möge jenes Wort "öffentlich" aus
dem Gesetze streichen. Dieses Wort gebe nämlich zu der Interpretation Anlaß,
die Predigt jener Lehren sei nur auf öffentlichen Plätzen und Straßen verboten.
Die genannten Beschlüsse wurden einstimmig angenommen.

"Als im Kampfe gegen den Raskol und das Sektirertum nützlich wurden
noch folgende Maßregeln vorgeschlagen: die Petition um die Herausgabe eines
Gesetzes, laut welchem den Raskolniken und Sektirern, die Kinder genommen
werden können, um in besondern Asylen im orthodoxen Glauben erzogen zu
werden. Über diesen Vorschlag ratschlagte der Kongreß einen ganzen Tag,
verwarf ihn aber, da man bei der Gründung der Asyle auf Schwierigkeiten
stoßen würde. Erzbischof Meleti von Rjasan, der eine der Sitzungen besuchte,
empfahl noch eine sehr wichtige und nach seiner Ansicht sehr nützliche Ma߬
regel -- die Konfiskation des Eigentums der Raskolniken und Seltirer."
Soweit die Petersburger Zeitung.

Das ist die "missionirende" Thätigkeit der russischen Kirche unter Pobe-
donvszew.

Die Verhältnisse der russischen Kirche siud, wie ich meine, für uns von
größeren Interesse, als man ihnen gewöhnlich zu widmen geneigt ist. Indem
ich auf den Evangelismus in Rußland hinwies, habe ich die protestantischen
Konfessionen, habe ich die geschlossene lutherische Kirche der Ostseeprovinzen und
Finnlands beiseite gelassen. Es kam nur an auf den Evangelismus nicht im
russischen Staat, sondern innerhalb des russischen Volks. Und hier ist er für
die Zukunft dieses Volkes von einer Bedeutung, die selbst von großen rein
staatlichen Ereignissen nicht leicht aufgewogen werden kann.

Als unter Alexander H. der Nihilismus "ins Volk zu gehen" begann,
meinte er dort gut vorbereiteten Boden zu finden für seine demokratischen
Lehren. Aber das Volk verstand weder Freiheit noch Gleichheit, und nach
der Ermordung des Zaren gestanden sich die Führer des Nihilismus ein, daß
sie dieses Volk falsch beurteilt hatten. Die Autorität des zarischen Staates


Der Lvangelismus in Rußland

über die volljährigen Orthodoxen, welche bei Sektirern in Dienst treten, dnrch
die Ortsgeistlichkeit eine besondre Kontrolle auszuüben. Da die Stundisten,
welche seit 1894 des Rechts, zu Gebetsversammlungen zusammenzukommen,
beraubt sind, in letzter Zeit begonnen haben, zu diesem Zwecke die benachbarten
lutherischen Kirchen zu besuchen, in denen die Pastoren sür sie russischen
Gottesdienst abhalten, so beschloß der Kongreß, die Regierung durch den
Hi. spröd darum zu bitten, daß es verboten werde, in den Gegenden, wo
Stnndisten leben, lutherische Gottesdienste in russischer Sprache abzuhalten.

„Da nach dem Strafgesetzbuche nur diejenigen Personen zur Verantwortung
gezogen werden können, welche den Raskol und die sektirerischen Lehren
»öffentlich« predigen, so saßte der Kongreß ferner den Beschluß, durch den
Hi. spröd an die mit der Redaktion des neuen Strafgesetzbuchs beschäftigte
Kommission das Ansuchen zu richten, sie möge jenes Wort »öffentlich« aus
dem Gesetze streichen. Dieses Wort gebe nämlich zu der Interpretation Anlaß,
die Predigt jener Lehren sei nur auf öffentlichen Plätzen und Straßen verboten.
Die genannten Beschlüsse wurden einstimmig angenommen.

„Als im Kampfe gegen den Raskol und das Sektirertum nützlich wurden
noch folgende Maßregeln vorgeschlagen: die Petition um die Herausgabe eines
Gesetzes, laut welchem den Raskolniken und Sektirern, die Kinder genommen
werden können, um in besondern Asylen im orthodoxen Glauben erzogen zu
werden. Über diesen Vorschlag ratschlagte der Kongreß einen ganzen Tag,
verwarf ihn aber, da man bei der Gründung der Asyle auf Schwierigkeiten
stoßen würde. Erzbischof Meleti von Rjasan, der eine der Sitzungen besuchte,
empfahl noch eine sehr wichtige und nach seiner Ansicht sehr nützliche Ma߬
regel — die Konfiskation des Eigentums der Raskolniken und Seltirer."
Soweit die Petersburger Zeitung.

Das ist die „missionirende" Thätigkeit der russischen Kirche unter Pobe-
donvszew.

Die Verhältnisse der russischen Kirche siud, wie ich meine, für uns von
größeren Interesse, als man ihnen gewöhnlich zu widmen geneigt ist. Indem
ich auf den Evangelismus in Rußland hinwies, habe ich die protestantischen
Konfessionen, habe ich die geschlossene lutherische Kirche der Ostseeprovinzen und
Finnlands beiseite gelassen. Es kam nur an auf den Evangelismus nicht im
russischen Staat, sondern innerhalb des russischen Volks. Und hier ist er für
die Zukunft dieses Volkes von einer Bedeutung, die selbst von großen rein
staatlichen Ereignissen nicht leicht aufgewogen werden kann.

Als unter Alexander H. der Nihilismus „ins Volk zu gehen" begann,
meinte er dort gut vorbereiteten Boden zu finden für seine demokratischen
Lehren. Aber das Volk verstand weder Freiheit noch Gleichheit, und nach
der Ermordung des Zaren gestanden sich die Führer des Nihilismus ein, daß
sie dieses Volk falsch beurteilt hatten. Die Autorität des zarischen Staates


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[0231] Der Lvangelismus in Rußland über die volljährigen Orthodoxen, welche bei Sektirern in Dienst treten, dnrch die Ortsgeistlichkeit eine besondre Kontrolle auszuüben. Da die Stundisten, welche seit 1894 des Rechts, zu Gebetsversammlungen zusammenzukommen, beraubt sind, in letzter Zeit begonnen haben, zu diesem Zwecke die benachbarten lutherischen Kirchen zu besuchen, in denen die Pastoren sür sie russischen Gottesdienst abhalten, so beschloß der Kongreß, die Regierung durch den Hi. spröd darum zu bitten, daß es verboten werde, in den Gegenden, wo Stnndisten leben, lutherische Gottesdienste in russischer Sprache abzuhalten. „Da nach dem Strafgesetzbuche nur diejenigen Personen zur Verantwortung gezogen werden können, welche den Raskol und die sektirerischen Lehren »öffentlich« predigen, so saßte der Kongreß ferner den Beschluß, durch den Hi. spröd an die mit der Redaktion des neuen Strafgesetzbuchs beschäftigte Kommission das Ansuchen zu richten, sie möge jenes Wort »öffentlich« aus dem Gesetze streichen. Dieses Wort gebe nämlich zu der Interpretation Anlaß, die Predigt jener Lehren sei nur auf öffentlichen Plätzen und Straßen verboten. Die genannten Beschlüsse wurden einstimmig angenommen. „Als im Kampfe gegen den Raskol und das Sektirertum nützlich wurden noch folgende Maßregeln vorgeschlagen: die Petition um die Herausgabe eines Gesetzes, laut welchem den Raskolniken und Sektirern, die Kinder genommen werden können, um in besondern Asylen im orthodoxen Glauben erzogen zu werden. Über diesen Vorschlag ratschlagte der Kongreß einen ganzen Tag, verwarf ihn aber, da man bei der Gründung der Asyle auf Schwierigkeiten stoßen würde. Erzbischof Meleti von Rjasan, der eine der Sitzungen besuchte, empfahl noch eine sehr wichtige und nach seiner Ansicht sehr nützliche Ma߬ regel — die Konfiskation des Eigentums der Raskolniken und Seltirer." Soweit die Petersburger Zeitung. Das ist die „missionirende" Thätigkeit der russischen Kirche unter Pobe- donvszew. Die Verhältnisse der russischen Kirche siud, wie ich meine, für uns von größeren Interesse, als man ihnen gewöhnlich zu widmen geneigt ist. Indem ich auf den Evangelismus in Rußland hinwies, habe ich die protestantischen Konfessionen, habe ich die geschlossene lutherische Kirche der Ostseeprovinzen und Finnlands beiseite gelassen. Es kam nur an auf den Evangelismus nicht im russischen Staat, sondern innerhalb des russischen Volks. Und hier ist er für die Zukunft dieses Volkes von einer Bedeutung, die selbst von großen rein staatlichen Ereignissen nicht leicht aufgewogen werden kann. Als unter Alexander H. der Nihilismus „ins Volk zu gehen" begann, meinte er dort gut vorbereiteten Boden zu finden für seine demokratischen Lehren. Aber das Volk verstand weder Freiheit noch Gleichheit, und nach der Ermordung des Zaren gestanden sich die Führer des Nihilismus ein, daß sie dieses Volk falsch beurteilt hatten. Die Autorität des zarischen Staates

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/231>, abgerufen am 23.07.2024.