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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvcingelismns in Rußland

streitigen Buchstaben im Namen Jesu und von den zwei Fingern beim Be¬
kreuzen abzulassen. Und wie im Westen Hunderttausende zum Feuertode
schritten für den Glauben an Christus und seine Lehre, so starben im Osten
Hunderttausende, weil sie Gott nicht anders als mit dem Namen Jissus an¬
rufen wollten. Von dem Wesen Christi und von seiner Lehre wußten sie nichts
oder nur sehr wenig; ihr ganzes Bekenntnis lag in dem Namen, im Zeichen;
ihr religiöses Bewußtsein ging nicht hinaus über kirchliche Gebräuche, und
doch war ihr Glaube nicht minder eifrig als der Glaube, mit dem ein Huß
nach Konstanz oder ein Luther nach Worms kam. Nicht das Was, sondern
das Wie des Glaubens macht den Märtyrer, den fanatischen Gegner einer
herrschenden und unduldsamen Kirche, und für den Gläubigen kann der Rock-
knopf auf dem Heiligenbilde, die Zehe des Holzgötzen ebenso heilig sein wie
die erhabenste Wahrheit: das Maß der Heiligkeit dessen, was man glaubt,
trägt jedermann in sich.

Im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche war in der russisch-ortho¬
doxen der Gebrauch der Bibel dein Laien zwar gestattet, aber wie dort die
griechische und die lateinische, so machte hier die altslawische Sprache das Neue
Testament den meisten Laien überhaupt unzugänglich. Es gab wenig Leute,
die das Evangelium lesen konnten, es gab anch nur wenig Exemplare davon
in einigen Klöstern; es gab wenig Russen, deren geistige Entwicklung genügend
gefördert war, um die Neigung nach näherer Kenntnis dessen wachzurufen,
was den eigentlichen Inhalt ausmachte an dem festgefügten Bau, der ihnen
als Kirche überall in unantastbarer Würde erschien. Im Westen wurde die
theologische Forschung dnrch die profane Forschung geweckt und vorwärts ge¬
trieben. In Nußland gab es weder eine profane Wissenschaft, noch eine theo¬
logische Forschung auf dem orthodoxen Kirchenboten. Während in Enropa
nach Luthers Bibelübersetzung auch in andern Ländern Übersetzungen der Hei¬
ligen Schrift schnell ans einander folgten, während dadurch in die Massen
nicht nnr die Kenntnis der dem Evangelium entnommnen kirchlichen Lehrsätze
und Glaubenssatzungen drang, sondern anch der Geist, wie er aus der Schil¬
derung des Lebens Jesu und seiner Jünger mit der Kraft der Ursprünglichkeit
hervorleuchtet; während dadurch die Evangelistrnng der Menge immer weiter
fortschritt, die starre Kirchlichkeit milderte und in ihre Schranken zurückdrängte:
blieb innerhalb der orthodoxen Welt das Evangelium fast gänzlich unbekannt.
Eine Änderung trat erst im Beginn unsers Jahrhunderts ein, als unter
Alexander I. eine aus pietistischen Quellen strömende religiöse Bewegung nicht
bloß den Zaren selbst, sondern einflußreiche Kreise am russischen Hof ergriff.
Der Plan zur Gründung einer Bibelgesellschaft wurde am 6. Dezember 1812
obrigkeitlich bestätigt, die Organisation im Jahre 1814 begonnen und dann
von dem eifrig evangelisch gesinnten Minister und Vertrauten Alexanders, dem
Fürsten Golitzin, die Verbreitung der heiligen Schriften in russischer und


Der Lvcingelismns in Rußland

streitigen Buchstaben im Namen Jesu und von den zwei Fingern beim Be¬
kreuzen abzulassen. Und wie im Westen Hunderttausende zum Feuertode
schritten für den Glauben an Christus und seine Lehre, so starben im Osten
Hunderttausende, weil sie Gott nicht anders als mit dem Namen Jissus an¬
rufen wollten. Von dem Wesen Christi und von seiner Lehre wußten sie nichts
oder nur sehr wenig; ihr ganzes Bekenntnis lag in dem Namen, im Zeichen;
ihr religiöses Bewußtsein ging nicht hinaus über kirchliche Gebräuche, und
doch war ihr Glaube nicht minder eifrig als der Glaube, mit dem ein Huß
nach Konstanz oder ein Luther nach Worms kam. Nicht das Was, sondern
das Wie des Glaubens macht den Märtyrer, den fanatischen Gegner einer
herrschenden und unduldsamen Kirche, und für den Gläubigen kann der Rock-
knopf auf dem Heiligenbilde, die Zehe des Holzgötzen ebenso heilig sein wie
die erhabenste Wahrheit: das Maß der Heiligkeit dessen, was man glaubt,
trägt jedermann in sich.

Im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche war in der russisch-ortho¬
doxen der Gebrauch der Bibel dein Laien zwar gestattet, aber wie dort die
griechische und die lateinische, so machte hier die altslawische Sprache das Neue
Testament den meisten Laien überhaupt unzugänglich. Es gab wenig Leute,
die das Evangelium lesen konnten, es gab anch nur wenig Exemplare davon
in einigen Klöstern; es gab wenig Russen, deren geistige Entwicklung genügend
gefördert war, um die Neigung nach näherer Kenntnis dessen wachzurufen,
was den eigentlichen Inhalt ausmachte an dem festgefügten Bau, der ihnen
als Kirche überall in unantastbarer Würde erschien. Im Westen wurde die
theologische Forschung dnrch die profane Forschung geweckt und vorwärts ge¬
trieben. In Nußland gab es weder eine profane Wissenschaft, noch eine theo¬
logische Forschung auf dem orthodoxen Kirchenboten. Während in Enropa
nach Luthers Bibelübersetzung auch in andern Ländern Übersetzungen der Hei¬
ligen Schrift schnell ans einander folgten, während dadurch in die Massen
nicht nnr die Kenntnis der dem Evangelium entnommnen kirchlichen Lehrsätze
und Glaubenssatzungen drang, sondern anch der Geist, wie er aus der Schil¬
derung des Lebens Jesu und seiner Jünger mit der Kraft der Ursprünglichkeit
hervorleuchtet; während dadurch die Evangelistrnng der Menge immer weiter
fortschritt, die starre Kirchlichkeit milderte und in ihre Schranken zurückdrängte:
blieb innerhalb der orthodoxen Welt das Evangelium fast gänzlich unbekannt.
Eine Änderung trat erst im Beginn unsers Jahrhunderts ein, als unter
Alexander I. eine aus pietistischen Quellen strömende religiöse Bewegung nicht
bloß den Zaren selbst, sondern einflußreiche Kreise am russischen Hof ergriff.
Der Plan zur Gründung einer Bibelgesellschaft wurde am 6. Dezember 1812
obrigkeitlich bestätigt, die Organisation im Jahre 1814 begonnen und dann
von dem eifrig evangelisch gesinnten Minister und Vertrauten Alexanders, dem
Fürsten Golitzin, die Verbreitung der heiligen Schriften in russischer und


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[0221] Der Lvcingelismns in Rußland streitigen Buchstaben im Namen Jesu und von den zwei Fingern beim Be¬ kreuzen abzulassen. Und wie im Westen Hunderttausende zum Feuertode schritten für den Glauben an Christus und seine Lehre, so starben im Osten Hunderttausende, weil sie Gott nicht anders als mit dem Namen Jissus an¬ rufen wollten. Von dem Wesen Christi und von seiner Lehre wußten sie nichts oder nur sehr wenig; ihr ganzes Bekenntnis lag in dem Namen, im Zeichen; ihr religiöses Bewußtsein ging nicht hinaus über kirchliche Gebräuche, und doch war ihr Glaube nicht minder eifrig als der Glaube, mit dem ein Huß nach Konstanz oder ein Luther nach Worms kam. Nicht das Was, sondern das Wie des Glaubens macht den Märtyrer, den fanatischen Gegner einer herrschenden und unduldsamen Kirche, und für den Gläubigen kann der Rock- knopf auf dem Heiligenbilde, die Zehe des Holzgötzen ebenso heilig sein wie die erhabenste Wahrheit: das Maß der Heiligkeit dessen, was man glaubt, trägt jedermann in sich. Im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche war in der russisch-ortho¬ doxen der Gebrauch der Bibel dein Laien zwar gestattet, aber wie dort die griechische und die lateinische, so machte hier die altslawische Sprache das Neue Testament den meisten Laien überhaupt unzugänglich. Es gab wenig Leute, die das Evangelium lesen konnten, es gab anch nur wenig Exemplare davon in einigen Klöstern; es gab wenig Russen, deren geistige Entwicklung genügend gefördert war, um die Neigung nach näherer Kenntnis dessen wachzurufen, was den eigentlichen Inhalt ausmachte an dem festgefügten Bau, der ihnen als Kirche überall in unantastbarer Würde erschien. Im Westen wurde die theologische Forschung dnrch die profane Forschung geweckt und vorwärts ge¬ trieben. In Nußland gab es weder eine profane Wissenschaft, noch eine theo¬ logische Forschung auf dem orthodoxen Kirchenboten. Während in Enropa nach Luthers Bibelübersetzung auch in andern Ländern Übersetzungen der Hei¬ ligen Schrift schnell ans einander folgten, während dadurch in die Massen nicht nnr die Kenntnis der dem Evangelium entnommnen kirchlichen Lehrsätze und Glaubenssatzungen drang, sondern anch der Geist, wie er aus der Schil¬ derung des Lebens Jesu und seiner Jünger mit der Kraft der Ursprünglichkeit hervorleuchtet; während dadurch die Evangelistrnng der Menge immer weiter fortschritt, die starre Kirchlichkeit milderte und in ihre Schranken zurückdrängte: blieb innerhalb der orthodoxen Welt das Evangelium fast gänzlich unbekannt. Eine Änderung trat erst im Beginn unsers Jahrhunderts ein, als unter Alexander I. eine aus pietistischen Quellen strömende religiöse Bewegung nicht bloß den Zaren selbst, sondern einflußreiche Kreise am russischen Hof ergriff. Der Plan zur Gründung einer Bibelgesellschaft wurde am 6. Dezember 1812 obrigkeitlich bestätigt, die Organisation im Jahre 1814 begonnen und dann von dem eifrig evangelisch gesinnten Minister und Vertrauten Alexanders, dem Fürsten Golitzin, die Verbreitung der heiligen Schriften in russischer und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/221>, abgerufen am 23.07.2024.