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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelismus in Rußland

andern einheimischen Sprachen gefördert. Aber mit der liberalen Periode
Alexanders endete auch der Zwang, der die herrschende Kirche von dem offnen
Kampf gegen Golitzin und seine Genossen zurückgehalten hatte. Gvlitzin wurde
durch die Ränke kirchlicher Würdenträger gestürzt, und nach dem Regierungs¬
antritt Nikolaus I., am 12. April 1826. wurde die Bibelgesellschaft aufgelöst.
Inzwischen waren 876000 Bibeln und Teile davon gedruckt, und eine große
Menge dieser Schriften im Volke verbreitet worden. Wenige Jahre später er¬
hielten die Evangelischen durch die Bemühungen des von herrnhutischen Geist
beherrschten Ministers Fürsten Lieven die Erlaubnis, Bibelgesellschaften ihrer
Konfession zu errichten. Aber unter dem starren Absolutismus Nikolaus I.,
unter dem Mangel an Schulbildung und an Verkehr in dem Lande der end¬
losen Entfernungen und schlechten Straßen, endlich unter dem Druck des
Bureaukratismus und der Leibeigenschaft konnte sich eine Wirkung jener ersten
Versuche, den Massen die Bibel näher zu bringen, schwer geltend machen.
Erst die liberale Negierung Alexanders II., die Aufhebung der Leibeigenschaft
im Jahre 1861, die Öffnung des Landes durch Eisenbahnen ermöglichten auch
den freien Vertrieb der heiligen Schriften unter dem Volke.

Es war zu Ende der fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre, daß in
Petersburg drei Männer zusammentraten, um die im Jahre 1826 aufgelöste
russische Bibelgesellschaft wieder ins Leben zu rufen. Es waren ein orthodoxer
Russe, Astafjew, ein protestantischer Pole, Graf Zaremba, und ein katholischer
Pole, Dcmilv. Sie reichten, wie es die Ordnung vorschreibt, eine Petition beim
Metropoliten von Petersburg ein, wurden aber von ihm abgewiesen. Aus
welchen Gründen? Nun, aus den folgenden. Als die Herren persönlich bei
dem Metropoliten ihre Sache vertraten, hielt dieser ihnen vor, welches Unheil
daraus entstehen könnte: "Wie, sagte er, Sie wollen die Bibel beim Volte ver¬
breiten? Aber haben Sie auch bedacht, was Sie thu"? Da kauu ja die
Bibel in die Hände von Halunken gelangen oder in gemeine Kneipen! Be¬
denken Sie doch!" -- "Das gerade wollen wir, daß es zu den Halunken und
in die Kneipen gelange," antwortete man. "Wie? Erbarmen Sie sich, die
Bibel in der Kneipe, das wäre ja eine Entweihung, eine Gotteslästerung!
Nein, unmöglich, das erlaube ich nicht." Sie mußten abziehen. Aber sie
wandten sich nun an den damaligen Oberprokureur des Synods, spätern
Minister, Grafen Tolstoi, der dann vom Zaren die Erlaubnis erwirkte. Seit
1863 begannen sie mit dem Ankauf und Verkauf von Bibeln, Psaltern, Neuen
Testamenten. Es ward ihnen schwer, welche aufzutreiben, sie mußten hier
und da auf Trödelmärkten und in Kramläden russische Bibeln aufstöbern und
oft mit fünf und sechs Rubeln bezahlen, und wenn sie an den Kellerfenstern
des Synods in der Straße der Garde zu Pferde vorübergingen, so konnten
sie tief unten die Ballen von Bibeln modern sehen, die dort seit der Auflösung
der ersten Bibelgesellschaft lagen. Aber die Sache fand Teilnahme, und im


Der Lvangelismus in Rußland

andern einheimischen Sprachen gefördert. Aber mit der liberalen Periode
Alexanders endete auch der Zwang, der die herrschende Kirche von dem offnen
Kampf gegen Golitzin und seine Genossen zurückgehalten hatte. Gvlitzin wurde
durch die Ränke kirchlicher Würdenträger gestürzt, und nach dem Regierungs¬
antritt Nikolaus I., am 12. April 1826. wurde die Bibelgesellschaft aufgelöst.
Inzwischen waren 876000 Bibeln und Teile davon gedruckt, und eine große
Menge dieser Schriften im Volke verbreitet worden. Wenige Jahre später er¬
hielten die Evangelischen durch die Bemühungen des von herrnhutischen Geist
beherrschten Ministers Fürsten Lieven die Erlaubnis, Bibelgesellschaften ihrer
Konfession zu errichten. Aber unter dem starren Absolutismus Nikolaus I.,
unter dem Mangel an Schulbildung und an Verkehr in dem Lande der end¬
losen Entfernungen und schlechten Straßen, endlich unter dem Druck des
Bureaukratismus und der Leibeigenschaft konnte sich eine Wirkung jener ersten
Versuche, den Massen die Bibel näher zu bringen, schwer geltend machen.
Erst die liberale Negierung Alexanders II., die Aufhebung der Leibeigenschaft
im Jahre 1861, die Öffnung des Landes durch Eisenbahnen ermöglichten auch
den freien Vertrieb der heiligen Schriften unter dem Volke.

Es war zu Ende der fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre, daß in
Petersburg drei Männer zusammentraten, um die im Jahre 1826 aufgelöste
russische Bibelgesellschaft wieder ins Leben zu rufen. Es waren ein orthodoxer
Russe, Astafjew, ein protestantischer Pole, Graf Zaremba, und ein katholischer
Pole, Dcmilv. Sie reichten, wie es die Ordnung vorschreibt, eine Petition beim
Metropoliten von Petersburg ein, wurden aber von ihm abgewiesen. Aus
welchen Gründen? Nun, aus den folgenden. Als die Herren persönlich bei
dem Metropoliten ihre Sache vertraten, hielt dieser ihnen vor, welches Unheil
daraus entstehen könnte: „Wie, sagte er, Sie wollen die Bibel beim Volte ver¬
breiten? Aber haben Sie auch bedacht, was Sie thu»? Da kauu ja die
Bibel in die Hände von Halunken gelangen oder in gemeine Kneipen! Be¬
denken Sie doch!" — „Das gerade wollen wir, daß es zu den Halunken und
in die Kneipen gelange," antwortete man. „Wie? Erbarmen Sie sich, die
Bibel in der Kneipe, das wäre ja eine Entweihung, eine Gotteslästerung!
Nein, unmöglich, das erlaube ich nicht." Sie mußten abziehen. Aber sie
wandten sich nun an den damaligen Oberprokureur des Synods, spätern
Minister, Grafen Tolstoi, der dann vom Zaren die Erlaubnis erwirkte. Seit
1863 begannen sie mit dem Ankauf und Verkauf von Bibeln, Psaltern, Neuen
Testamenten. Es ward ihnen schwer, welche aufzutreiben, sie mußten hier
und da auf Trödelmärkten und in Kramläden russische Bibeln aufstöbern und
oft mit fünf und sechs Rubeln bezahlen, und wenn sie an den Kellerfenstern
des Synods in der Straße der Garde zu Pferde vorübergingen, so konnten
sie tief unten die Ballen von Bibeln modern sehen, die dort seit der Auflösung
der ersten Bibelgesellschaft lagen. Aber die Sache fand Teilnahme, und im


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[0222] Der Lvangelismus in Rußland andern einheimischen Sprachen gefördert. Aber mit der liberalen Periode Alexanders endete auch der Zwang, der die herrschende Kirche von dem offnen Kampf gegen Golitzin und seine Genossen zurückgehalten hatte. Gvlitzin wurde durch die Ränke kirchlicher Würdenträger gestürzt, und nach dem Regierungs¬ antritt Nikolaus I., am 12. April 1826. wurde die Bibelgesellschaft aufgelöst. Inzwischen waren 876000 Bibeln und Teile davon gedruckt, und eine große Menge dieser Schriften im Volke verbreitet worden. Wenige Jahre später er¬ hielten die Evangelischen durch die Bemühungen des von herrnhutischen Geist beherrschten Ministers Fürsten Lieven die Erlaubnis, Bibelgesellschaften ihrer Konfession zu errichten. Aber unter dem starren Absolutismus Nikolaus I., unter dem Mangel an Schulbildung und an Verkehr in dem Lande der end¬ losen Entfernungen und schlechten Straßen, endlich unter dem Druck des Bureaukratismus und der Leibeigenschaft konnte sich eine Wirkung jener ersten Versuche, den Massen die Bibel näher zu bringen, schwer geltend machen. Erst die liberale Negierung Alexanders II., die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861, die Öffnung des Landes durch Eisenbahnen ermöglichten auch den freien Vertrieb der heiligen Schriften unter dem Volke. Es war zu Ende der fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre, daß in Petersburg drei Männer zusammentraten, um die im Jahre 1826 aufgelöste russische Bibelgesellschaft wieder ins Leben zu rufen. Es waren ein orthodoxer Russe, Astafjew, ein protestantischer Pole, Graf Zaremba, und ein katholischer Pole, Dcmilv. Sie reichten, wie es die Ordnung vorschreibt, eine Petition beim Metropoliten von Petersburg ein, wurden aber von ihm abgewiesen. Aus welchen Gründen? Nun, aus den folgenden. Als die Herren persönlich bei dem Metropoliten ihre Sache vertraten, hielt dieser ihnen vor, welches Unheil daraus entstehen könnte: „Wie, sagte er, Sie wollen die Bibel beim Volte ver¬ breiten? Aber haben Sie auch bedacht, was Sie thu»? Da kauu ja die Bibel in die Hände von Halunken gelangen oder in gemeine Kneipen! Be¬ denken Sie doch!" — „Das gerade wollen wir, daß es zu den Halunken und in die Kneipen gelange," antwortete man. „Wie? Erbarmen Sie sich, die Bibel in der Kneipe, das wäre ja eine Entweihung, eine Gotteslästerung! Nein, unmöglich, das erlaube ich nicht." Sie mußten abziehen. Aber sie wandten sich nun an den damaligen Oberprokureur des Synods, spätern Minister, Grafen Tolstoi, der dann vom Zaren die Erlaubnis erwirkte. Seit 1863 begannen sie mit dem Ankauf und Verkauf von Bibeln, Psaltern, Neuen Testamenten. Es ward ihnen schwer, welche aufzutreiben, sie mußten hier und da auf Trödelmärkten und in Kramläden russische Bibeln aufstöbern und oft mit fünf und sechs Rubeln bezahlen, und wenn sie an den Kellerfenstern des Synods in der Straße der Garde zu Pferde vorübergingen, so konnten sie tief unten die Ballen von Bibeln modern sehen, die dort seit der Auflösung der ersten Bibelgesellschaft lagen. Aber die Sache fand Teilnahme, und im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/222>, abgerufen am 23.07.2024.