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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelismus in Rußland

oder Formen, wie sie die protestantische Reformation in einem großen Teil
der römisch-katholischen Welt durchsetzte. Dem entsprechend war auch die
Stellung verschieden, die jede der beiden Kirchen fortan zu denen einnahm, die
sich von ihnen losgelöst hatten: die russische orthodoxe Kirche nannte die Per¬
sonen, die ihre Rückkehr zu alten Formen nicht mitmachen wollten, Schisma¬
tiker; der römische Katholizismus verdammte selbständige Geister, die neue
Formen und neuen Inhalt in die christliche Kirche einzuführen wagten. Dort
kam die Reform von oben, hier von unten, dort durch die Kirche, hier durch
das Volk.

Aber auch abgesehen von dem Ausgangspunkt waren die Reformen in
West und Ost durchaus von einander verschieden. In beiden griff man freilich
zurück auf Meinungen und Zustände früherer Perioden; während jedoch die
Reformation im Westen vor allem die Kirche zu evcingelisireu, auf das Neue
Testament zu stellen strebte und auf diesem Wege dazu gelangte, sich von
Westrom loszureißen, handelte es sich bei der Reform Nikons um unwesent¬
liche rituelle Äußerlichkeiten früherer Zeit; dort wollte man Gott anbeten im
Geist und in der Wahrheit; hier wollte man einigen schadhaft gewordnen Auf¬
putz wieder herstellen. So war im Grunde der eine Vorgang eine evange¬
lisch-kirchliche Revolution, der andre nicht einmal eine Kirchenreform, allenfalls
eine Korrektur des Rituals, und diesem gewaltigen Unterschiede entsprach die
Größe der Wirkung, die die Reformen auf jeder Seite hatten. Im Westen
wurde nicht bloß das kirchliche und religiöse Leben erneuert, sondern es wurden
auch gewaltige bisher durch die Kirche gebundne Kräfte geistiger und sittlicher
Natur entfesselt zu schaffender Arbeit. Im Osten erwachte nur die passive Wider¬
standskraft, die bei den alten Formen verharren wollte. Im Westen führte der
kritische Geist, der die Kirche läuterte, zugleich weite und tiefe Schichten der
Volksmasse zu selbständigem Denken und Unternehmen auf allen andern Ge¬
bieten des Kulturlebens. Im Osten konnte in einem wenn auch erbitterten
Kampf um einen Buchstaben im Namen Jesu oder um die Fingerlage beim
Zeichen des Kreuzes von freier Kritik in kirchlichen Dingen nicht die Rede
sein. Dort machte der Geist frei, hier tötete der Buchstabe; dort wurde pro-
testirt gegen geistliche und geistige Knechtung, hier kämpfte man um ein paar
Steine, die man für Brot genommen hatte; dort suchte mau die Wahrheit im
Evangelium Christi, hier in einigen unsichern Meinungen alter Kirchenväter.

Allein so geringfügig auch der Gegenstand des Kampfes war, so hielten
doch Millionen orthodoxer Russen ihn für bedeutend genug, sich der Forde¬
rung der Kirche zu widersetzen und die Verfolgungen geduldig zu ertragen, die
seitdem stets, und zu Zeiten mit großer Härte, von der mit der Kirche ver-
schmolznen staatlichen Macht über die Unfügsamen verhängt wurden. Selbst
die schrecklichsten Leibesstrafen und Martern konnten die Anhänger der alten
Ritualformeu, die man Altgläubige nennt, nicht dazu bewegen, von jenem


Der Lvangelismus in Rußland

oder Formen, wie sie die protestantische Reformation in einem großen Teil
der römisch-katholischen Welt durchsetzte. Dem entsprechend war auch die
Stellung verschieden, die jede der beiden Kirchen fortan zu denen einnahm, die
sich von ihnen losgelöst hatten: die russische orthodoxe Kirche nannte die Per¬
sonen, die ihre Rückkehr zu alten Formen nicht mitmachen wollten, Schisma¬
tiker; der römische Katholizismus verdammte selbständige Geister, die neue
Formen und neuen Inhalt in die christliche Kirche einzuführen wagten. Dort
kam die Reform von oben, hier von unten, dort durch die Kirche, hier durch
das Volk.

Aber auch abgesehen von dem Ausgangspunkt waren die Reformen in
West und Ost durchaus von einander verschieden. In beiden griff man freilich
zurück auf Meinungen und Zustände früherer Perioden; während jedoch die
Reformation im Westen vor allem die Kirche zu evcingelisireu, auf das Neue
Testament zu stellen strebte und auf diesem Wege dazu gelangte, sich von
Westrom loszureißen, handelte es sich bei der Reform Nikons um unwesent¬
liche rituelle Äußerlichkeiten früherer Zeit; dort wollte man Gott anbeten im
Geist und in der Wahrheit; hier wollte man einigen schadhaft gewordnen Auf¬
putz wieder herstellen. So war im Grunde der eine Vorgang eine evange¬
lisch-kirchliche Revolution, der andre nicht einmal eine Kirchenreform, allenfalls
eine Korrektur des Rituals, und diesem gewaltigen Unterschiede entsprach die
Größe der Wirkung, die die Reformen auf jeder Seite hatten. Im Westen
wurde nicht bloß das kirchliche und religiöse Leben erneuert, sondern es wurden
auch gewaltige bisher durch die Kirche gebundne Kräfte geistiger und sittlicher
Natur entfesselt zu schaffender Arbeit. Im Osten erwachte nur die passive Wider¬
standskraft, die bei den alten Formen verharren wollte. Im Westen führte der
kritische Geist, der die Kirche läuterte, zugleich weite und tiefe Schichten der
Volksmasse zu selbständigem Denken und Unternehmen auf allen andern Ge¬
bieten des Kulturlebens. Im Osten konnte in einem wenn auch erbitterten
Kampf um einen Buchstaben im Namen Jesu oder um die Fingerlage beim
Zeichen des Kreuzes von freier Kritik in kirchlichen Dingen nicht die Rede
sein. Dort machte der Geist frei, hier tötete der Buchstabe; dort wurde pro-
testirt gegen geistliche und geistige Knechtung, hier kämpfte man um ein paar
Steine, die man für Brot genommen hatte; dort suchte mau die Wahrheit im
Evangelium Christi, hier in einigen unsichern Meinungen alter Kirchenväter.

Allein so geringfügig auch der Gegenstand des Kampfes war, so hielten
doch Millionen orthodoxer Russen ihn für bedeutend genug, sich der Forde¬
rung der Kirche zu widersetzen und die Verfolgungen geduldig zu ertragen, die
seitdem stets, und zu Zeiten mit großer Härte, von der mit der Kirche ver-
schmolznen staatlichen Macht über die Unfügsamen verhängt wurden. Selbst
die schrecklichsten Leibesstrafen und Martern konnten die Anhänger der alten
Ritualformeu, die man Altgläubige nennt, nicht dazu bewegen, von jenem


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[0220] Der Lvangelismus in Rußland oder Formen, wie sie die protestantische Reformation in einem großen Teil der römisch-katholischen Welt durchsetzte. Dem entsprechend war auch die Stellung verschieden, die jede der beiden Kirchen fortan zu denen einnahm, die sich von ihnen losgelöst hatten: die russische orthodoxe Kirche nannte die Per¬ sonen, die ihre Rückkehr zu alten Formen nicht mitmachen wollten, Schisma¬ tiker; der römische Katholizismus verdammte selbständige Geister, die neue Formen und neuen Inhalt in die christliche Kirche einzuführen wagten. Dort kam die Reform von oben, hier von unten, dort durch die Kirche, hier durch das Volk. Aber auch abgesehen von dem Ausgangspunkt waren die Reformen in West und Ost durchaus von einander verschieden. In beiden griff man freilich zurück auf Meinungen und Zustände früherer Perioden; während jedoch die Reformation im Westen vor allem die Kirche zu evcingelisireu, auf das Neue Testament zu stellen strebte und auf diesem Wege dazu gelangte, sich von Westrom loszureißen, handelte es sich bei der Reform Nikons um unwesent¬ liche rituelle Äußerlichkeiten früherer Zeit; dort wollte man Gott anbeten im Geist und in der Wahrheit; hier wollte man einigen schadhaft gewordnen Auf¬ putz wieder herstellen. So war im Grunde der eine Vorgang eine evange¬ lisch-kirchliche Revolution, der andre nicht einmal eine Kirchenreform, allenfalls eine Korrektur des Rituals, und diesem gewaltigen Unterschiede entsprach die Größe der Wirkung, die die Reformen auf jeder Seite hatten. Im Westen wurde nicht bloß das kirchliche und religiöse Leben erneuert, sondern es wurden auch gewaltige bisher durch die Kirche gebundne Kräfte geistiger und sittlicher Natur entfesselt zu schaffender Arbeit. Im Osten erwachte nur die passive Wider¬ standskraft, die bei den alten Formen verharren wollte. Im Westen führte der kritische Geist, der die Kirche läuterte, zugleich weite und tiefe Schichten der Volksmasse zu selbständigem Denken und Unternehmen auf allen andern Ge¬ bieten des Kulturlebens. Im Osten konnte in einem wenn auch erbitterten Kampf um einen Buchstaben im Namen Jesu oder um die Fingerlage beim Zeichen des Kreuzes von freier Kritik in kirchlichen Dingen nicht die Rede sein. Dort machte der Geist frei, hier tötete der Buchstabe; dort wurde pro- testirt gegen geistliche und geistige Knechtung, hier kämpfte man um ein paar Steine, die man für Brot genommen hatte; dort suchte mau die Wahrheit im Evangelium Christi, hier in einigen unsichern Meinungen alter Kirchenväter. Allein so geringfügig auch der Gegenstand des Kampfes war, so hielten doch Millionen orthodoxer Russen ihn für bedeutend genug, sich der Forde¬ rung der Kirche zu widersetzen und die Verfolgungen geduldig zu ertragen, die seitdem stets, und zu Zeiten mit großer Härte, von der mit der Kirche ver- schmolznen staatlichen Macht über die Unfügsamen verhängt wurden. Selbst die schrecklichsten Leibesstrafen und Martern konnten die Anhänger der alten Ritualformeu, die man Altgläubige nennt, nicht dazu bewegen, von jenem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/220>, abgerufen am 27.12.2024.