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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

mit zunehmendem Alter immer gröber und sinnlicher wird. Nietzsche drückt
das XI, 372 so aus: "Die Moralität der Männer nimmt im Leben ab:
als Kinder sind wir am moralischesten, weil ohne Furcht, von Liebe umgeben
und der Anmaßung fremd. Die Moralität der Frauen, welche*) in ähnlichen
Verhältnissen, wie die Kinder, zeitlebens leben, nimmt deshalb mit den Jahren
eher zu als ab." Gleich Nietzsche verabscheue ich das Mvralgeschwcitz, die
Moralpredigten und das Moralischthun; was man gewöhnlich Moralität nennt,
das mag, habe ich öfters gesagt, manchmal für den Moralischen und manchmal
für andre Leute recht nützlich sein, aber höhern Wert hat es so wenig wie
die vorsichtige und bescheidne Zurückhaltung eines oft getretner und viel ge¬
prügelten Hundes. Gleich Nietzsche erkläre ich ein für alle in gleichem Maße
giltiges Sittengesetz für eine leere Einbildung; wenn alle Welt daran zu
glauben scheint, so ist das eben nur ein aus der Gewohnheit des gedanken¬
losen Nachvlapperns entstandner Schein; in Wirklichkeit glaubt kein Mensch
daran, sondern jedermann denkt mit jenem berühmten Justizminister: ano
auuin lÄoiunt, iclöui, mein sse iclvm. Gleich Nietzsche halte ich an der Ver¬
schiedenheit der Moraltypen fest, und erkenne ich besonders den Unterschied
zwischen Herren- und Sklavenmoral an, nur daß ich diese nicht gleich ihm
mit dem Christentums in Zusammenhang bringe. Gleich ihm ekelt mich alles
Chineseutum an.

Was mich aber am allermeisten überrascht hat, das ist unsre Überein¬
stimmung in der Auffassung der Arbeiterfrage (nicht der sozialen Frage als
einer Frage der Volkswirtschaft; von dieser hatte Nietzsche keinen Begriff).
Von den vielen in Betracht kommenden Stellen will ich nur zwei hersetzen:
"Die Dummheit, im Grunde die Jnstinktentartung, welche hente die Ursache
aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiterfrage giebt. Über
gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinkts. ^Weil Nietzsche
die wirtschaftliche Entwicklung niemals eines Blickes gewürdigt hatte, hielt er
die Wirkungen dieser Entwicklung für Verirrungen des Instinkts der Herrschenden.^
Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen
will, nachdem man eine Frage aus ihm gemacht hat. sJch muß das natürlich
etwas anders ausdrücken: es ist nicht abzusehen, was aus ihm werden soll,
nachdem die wirtschaftlichen Verhältnisse die Sklaverei als Rechtsinstitut be¬
seitigt haben, ohne den ehemaligen Sklaven die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu
verschaffen.^ Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu
fragen, unbescheidner zu fragen. ^Daß es auch Millionen Arbeiter giebt, denen es
nicht gut geht, davon wußte Nietzsche nichts, wenigstens nichts genaueres; richtig
aber ist, daß unter den Arbeitern nnr solche zu Trägern einer Arbeiterbewegung



*) Frau Cosima hatte in einer Schrift Nietzsches einige Stilfehler gerügt, u. n. das; er
das "welcher" meide; daher scheint er zu diesem Relativpronomen, das nach Wustmann keins
sein soll, zurückgekehrt zu sein.
Friedrich Nietzsche

mit zunehmendem Alter immer gröber und sinnlicher wird. Nietzsche drückt
das XI, 372 so aus: „Die Moralität der Männer nimmt im Leben ab:
als Kinder sind wir am moralischesten, weil ohne Furcht, von Liebe umgeben
und der Anmaßung fremd. Die Moralität der Frauen, welche*) in ähnlichen
Verhältnissen, wie die Kinder, zeitlebens leben, nimmt deshalb mit den Jahren
eher zu als ab." Gleich Nietzsche verabscheue ich das Mvralgeschwcitz, die
Moralpredigten und das Moralischthun; was man gewöhnlich Moralität nennt,
das mag, habe ich öfters gesagt, manchmal für den Moralischen und manchmal
für andre Leute recht nützlich sein, aber höhern Wert hat es so wenig wie
die vorsichtige und bescheidne Zurückhaltung eines oft getretner und viel ge¬
prügelten Hundes. Gleich Nietzsche erkläre ich ein für alle in gleichem Maße
giltiges Sittengesetz für eine leere Einbildung; wenn alle Welt daran zu
glauben scheint, so ist das eben nur ein aus der Gewohnheit des gedanken¬
losen Nachvlapperns entstandner Schein; in Wirklichkeit glaubt kein Mensch
daran, sondern jedermann denkt mit jenem berühmten Justizminister: ano
auuin lÄoiunt, iclöui, mein sse iclvm. Gleich Nietzsche halte ich an der Ver¬
schiedenheit der Moraltypen fest, und erkenne ich besonders den Unterschied
zwischen Herren- und Sklavenmoral an, nur daß ich diese nicht gleich ihm
mit dem Christentums in Zusammenhang bringe. Gleich ihm ekelt mich alles
Chineseutum an.

Was mich aber am allermeisten überrascht hat, das ist unsre Überein¬
stimmung in der Auffassung der Arbeiterfrage (nicht der sozialen Frage als
einer Frage der Volkswirtschaft; von dieser hatte Nietzsche keinen Begriff).
Von den vielen in Betracht kommenden Stellen will ich nur zwei hersetzen:
„Die Dummheit, im Grunde die Jnstinktentartung, welche hente die Ursache
aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiterfrage giebt. Über
gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinkts. ^Weil Nietzsche
die wirtschaftliche Entwicklung niemals eines Blickes gewürdigt hatte, hielt er
die Wirkungen dieser Entwicklung für Verirrungen des Instinkts der Herrschenden.^
Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen
will, nachdem man eine Frage aus ihm gemacht hat. sJch muß das natürlich
etwas anders ausdrücken: es ist nicht abzusehen, was aus ihm werden soll,
nachdem die wirtschaftlichen Verhältnisse die Sklaverei als Rechtsinstitut be¬
seitigt haben, ohne den ehemaligen Sklaven die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu
verschaffen.^ Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu
fragen, unbescheidner zu fragen. ^Daß es auch Millionen Arbeiter giebt, denen es
nicht gut geht, davon wußte Nietzsche nichts, wenigstens nichts genaueres; richtig
aber ist, daß unter den Arbeitern nnr solche zu Trägern einer Arbeiterbewegung



*) Frau Cosima hatte in einer Schrift Nietzsches einige Stilfehler gerügt, u. n. das; er
das „welcher" meide; daher scheint er zu diesem Relativpronomen, das nach Wustmann keins
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[0186] Friedrich Nietzsche mit zunehmendem Alter immer gröber und sinnlicher wird. Nietzsche drückt das XI, 372 so aus: „Die Moralität der Männer nimmt im Leben ab: als Kinder sind wir am moralischesten, weil ohne Furcht, von Liebe umgeben und der Anmaßung fremd. Die Moralität der Frauen, welche*) in ähnlichen Verhältnissen, wie die Kinder, zeitlebens leben, nimmt deshalb mit den Jahren eher zu als ab." Gleich Nietzsche verabscheue ich das Mvralgeschwcitz, die Moralpredigten und das Moralischthun; was man gewöhnlich Moralität nennt, das mag, habe ich öfters gesagt, manchmal für den Moralischen und manchmal für andre Leute recht nützlich sein, aber höhern Wert hat es so wenig wie die vorsichtige und bescheidne Zurückhaltung eines oft getretner und viel ge¬ prügelten Hundes. Gleich Nietzsche erkläre ich ein für alle in gleichem Maße giltiges Sittengesetz für eine leere Einbildung; wenn alle Welt daran zu glauben scheint, so ist das eben nur ein aus der Gewohnheit des gedanken¬ losen Nachvlapperns entstandner Schein; in Wirklichkeit glaubt kein Mensch daran, sondern jedermann denkt mit jenem berühmten Justizminister: ano auuin lÄoiunt, iclöui, mein sse iclvm. Gleich Nietzsche halte ich an der Ver¬ schiedenheit der Moraltypen fest, und erkenne ich besonders den Unterschied zwischen Herren- und Sklavenmoral an, nur daß ich diese nicht gleich ihm mit dem Christentums in Zusammenhang bringe. Gleich ihm ekelt mich alles Chineseutum an. Was mich aber am allermeisten überrascht hat, das ist unsre Überein¬ stimmung in der Auffassung der Arbeiterfrage (nicht der sozialen Frage als einer Frage der Volkswirtschaft; von dieser hatte Nietzsche keinen Begriff). Von den vielen in Betracht kommenden Stellen will ich nur zwei hersetzen: „Die Dummheit, im Grunde die Jnstinktentartung, welche hente die Ursache aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiterfrage giebt. Über gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinkts. ^Weil Nietzsche die wirtschaftliche Entwicklung niemals eines Blickes gewürdigt hatte, hielt er die Wirkungen dieser Entwicklung für Verirrungen des Instinkts der Herrschenden.^ Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem man eine Frage aus ihm gemacht hat. sJch muß das natürlich etwas anders ausdrücken: es ist nicht abzusehen, was aus ihm werden soll, nachdem die wirtschaftlichen Verhältnisse die Sklaverei als Rechtsinstitut be¬ seitigt haben, ohne den ehemaligen Sklaven die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu verschaffen.^ Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. ^Daß es auch Millionen Arbeiter giebt, denen es nicht gut geht, davon wußte Nietzsche nichts, wenigstens nichts genaueres; richtig aber ist, daß unter den Arbeitern nnr solche zu Trägern einer Arbeiterbewegung *) Frau Cosima hatte in einer Schrift Nietzsches einige Stilfehler gerügt, u. n. das; er das „welcher" meide; daher scheint er zu diesem Relativpronomen, das nach Wustmann keins sein soll, zurückgekehrt zu sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/186>, abgerufen am 23.07.2024.