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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Wie das mit Antisemitismus und Haß gegen die Bibel verschmolzne Urteu-
tonentum scheinen geradezu in ihm zu wurzeln. Freilich bemerkt man bald,
daß der Zeitgeist die gemeinsame Wurzel ist, und daß sich der Zweig, der
Nietzsche heißt, von den übrigen Sprößlingen sehr deutlich unterscheidet; so
z. B. erklärt Nietzsche freilich die Juden wiederholt für das schlechteste Volk,
preist aber zugleich ihre Rassenreinheit, ihr hohes ethisches Pathos, und nicht
das Alte Testament haßt er, sondern die Antisemiten und besonders Eugen
Dühring; bei der Analyse Wagners findet er auf dessen tiefstem Herzensgrunde
zuletzt den Juden und erklärt daraus seineu Antisemitismus (XII, 171).
Rassenverbesserung durch Ausrollen oder Umkommenlassen der Schwachen,
und daß sich die Glücklichen das Elend der Unglücklichen nicht ins Gewissen
schieben lassen dürfen, das sind Losungen unsrer Tage, die Nietzsche ausgegeben
hat. Die Kärrner finden in Nietzsches Steinbrüchen auf ein paar hundert
Jahre hinaus Material, und seine Sentenzen enthalten soviel Lebensweisheit
und Gedankenblitze, daß man sie, ohne sich des orimsn ig-osas rag,Me!it,i8
schuldig zu machen, neben Goethes Prosnsprüche stellen darf.

Am meisten aber setzte es mich in Erstaune", ein wie großes Stück
meiner selbst ich in Nietzsche wieder fand. Nicht etwa, daß ich meine Be¬
gabung der seinen ähnlich funde; es kann mir nicht einfallen, mein bescheidnes
Talent kritischer Reproduktion mit seinem reichen produktiven Genie zu ver¬
gleichen; die Übereinstimmung bezieht sich nur auf einige Ergebnisse des Denkens.
Hier aber werden sie alle, die sowohl Nietzsche als meine Sachen kennen, schon
längst bemerkt haben. Beide wissen wir, daß der Mensch im Grunde ge¬
nommen nichts weiß, daß die sogenannte Natnrerklärnng nichts ist als eine
Beschreibung von Erscheiuungsreihen, und daß die sogenannten unfehlbaren
Wahrheiten der Naturwissenschaft nichts als Hypothesen sind. Ich führe nur
eine von vielen Stellen an. "Erklärung nennen wirs, aber Beschreibung ist
es, was uns vor ältern Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet.
Wir beschreiben besser, wir erklaren ebenso wenig wie alle Frühern" (V, 153).
Die von England nusgegangne mechanische Natnrerklärnng nennt Nietzsche die
englisch-mechanistische Weltvertölpeluug (VII, 221). Beide verehren wir die
alten Griechen und das Alte Testament. Beide sehen wir in der Weltgeschichte
ebenso viel Rückschritt wie Fortschritt, und stellen wir den heutigen Dnrch-
schnittmenschen nnter den Hellenen und unter den Menschen der Renaissance.
Beide finden wir, daß der mittelalterliche Mensch in manchen Beziehungen
nicht gebundner, sondern freier und dabei stärker gewesen ist als der heutige.
Beide sehen wir das Ziel der Menschheit weder im Staate noch in einer zu¬
künftigen Gesellschaftsform, sondern in der Gegenwart jedes Geschlechts. Denen,
die fortschreitende Vergeistigung oder Versittlichung für das Ziel erklären, habe
ich die Wahrnehmung -- wenigstens ist es meine Wahrnehmung -- entgegen¬
gehalten, daß der Mensch im allgemeinen in der Kindheit am geistigsten ist und


Grenzboten II I8W M
Friedrich Nietzsche

Wie das mit Antisemitismus und Haß gegen die Bibel verschmolzne Urteu-
tonentum scheinen geradezu in ihm zu wurzeln. Freilich bemerkt man bald,
daß der Zeitgeist die gemeinsame Wurzel ist, und daß sich der Zweig, der
Nietzsche heißt, von den übrigen Sprößlingen sehr deutlich unterscheidet; so
z. B. erklärt Nietzsche freilich die Juden wiederholt für das schlechteste Volk,
preist aber zugleich ihre Rassenreinheit, ihr hohes ethisches Pathos, und nicht
das Alte Testament haßt er, sondern die Antisemiten und besonders Eugen
Dühring; bei der Analyse Wagners findet er auf dessen tiefstem Herzensgrunde
zuletzt den Juden und erklärt daraus seineu Antisemitismus (XII, 171).
Rassenverbesserung durch Ausrollen oder Umkommenlassen der Schwachen,
und daß sich die Glücklichen das Elend der Unglücklichen nicht ins Gewissen
schieben lassen dürfen, das sind Losungen unsrer Tage, die Nietzsche ausgegeben
hat. Die Kärrner finden in Nietzsches Steinbrüchen auf ein paar hundert
Jahre hinaus Material, und seine Sentenzen enthalten soviel Lebensweisheit
und Gedankenblitze, daß man sie, ohne sich des orimsn ig-osas rag,Me!it,i8
schuldig zu machen, neben Goethes Prosnsprüche stellen darf.

Am meisten aber setzte es mich in Erstaune», ein wie großes Stück
meiner selbst ich in Nietzsche wieder fand. Nicht etwa, daß ich meine Be¬
gabung der seinen ähnlich funde; es kann mir nicht einfallen, mein bescheidnes
Talent kritischer Reproduktion mit seinem reichen produktiven Genie zu ver¬
gleichen; die Übereinstimmung bezieht sich nur auf einige Ergebnisse des Denkens.
Hier aber werden sie alle, die sowohl Nietzsche als meine Sachen kennen, schon
längst bemerkt haben. Beide wissen wir, daß der Mensch im Grunde ge¬
nommen nichts weiß, daß die sogenannte Natnrerklärnng nichts ist als eine
Beschreibung von Erscheiuungsreihen, und daß die sogenannten unfehlbaren
Wahrheiten der Naturwissenschaft nichts als Hypothesen sind. Ich führe nur
eine von vielen Stellen an. „Erklärung nennen wirs, aber Beschreibung ist
es, was uns vor ältern Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet.
Wir beschreiben besser, wir erklaren ebenso wenig wie alle Frühern" (V, 153).
Die von England nusgegangne mechanische Natnrerklärnng nennt Nietzsche die
englisch-mechanistische Weltvertölpeluug (VII, 221). Beide verehren wir die
alten Griechen und das Alte Testament. Beide sehen wir in der Weltgeschichte
ebenso viel Rückschritt wie Fortschritt, und stellen wir den heutigen Dnrch-
schnittmenschen nnter den Hellenen und unter den Menschen der Renaissance.
Beide finden wir, daß der mittelalterliche Mensch in manchen Beziehungen
nicht gebundner, sondern freier und dabei stärker gewesen ist als der heutige.
Beide sehen wir das Ziel der Menschheit weder im Staate noch in einer zu¬
künftigen Gesellschaftsform, sondern in der Gegenwart jedes Geschlechts. Denen,
die fortschreitende Vergeistigung oder Versittlichung für das Ziel erklären, habe
ich die Wahrnehmung — wenigstens ist es meine Wahrnehmung — entgegen¬
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[0185] Friedrich Nietzsche Wie das mit Antisemitismus und Haß gegen die Bibel verschmolzne Urteu- tonentum scheinen geradezu in ihm zu wurzeln. Freilich bemerkt man bald, daß der Zeitgeist die gemeinsame Wurzel ist, und daß sich der Zweig, der Nietzsche heißt, von den übrigen Sprößlingen sehr deutlich unterscheidet; so z. B. erklärt Nietzsche freilich die Juden wiederholt für das schlechteste Volk, preist aber zugleich ihre Rassenreinheit, ihr hohes ethisches Pathos, und nicht das Alte Testament haßt er, sondern die Antisemiten und besonders Eugen Dühring; bei der Analyse Wagners findet er auf dessen tiefstem Herzensgrunde zuletzt den Juden und erklärt daraus seineu Antisemitismus (XII, 171). Rassenverbesserung durch Ausrollen oder Umkommenlassen der Schwachen, und daß sich die Glücklichen das Elend der Unglücklichen nicht ins Gewissen schieben lassen dürfen, das sind Losungen unsrer Tage, die Nietzsche ausgegeben hat. Die Kärrner finden in Nietzsches Steinbrüchen auf ein paar hundert Jahre hinaus Material, und seine Sentenzen enthalten soviel Lebensweisheit und Gedankenblitze, daß man sie, ohne sich des orimsn ig-osas rag,Me!it,i8 schuldig zu machen, neben Goethes Prosnsprüche stellen darf. Am meisten aber setzte es mich in Erstaune», ein wie großes Stück meiner selbst ich in Nietzsche wieder fand. Nicht etwa, daß ich meine Be¬ gabung der seinen ähnlich funde; es kann mir nicht einfallen, mein bescheidnes Talent kritischer Reproduktion mit seinem reichen produktiven Genie zu ver¬ gleichen; die Übereinstimmung bezieht sich nur auf einige Ergebnisse des Denkens. Hier aber werden sie alle, die sowohl Nietzsche als meine Sachen kennen, schon längst bemerkt haben. Beide wissen wir, daß der Mensch im Grunde ge¬ nommen nichts weiß, daß die sogenannte Natnrerklärnng nichts ist als eine Beschreibung von Erscheiuungsreihen, und daß die sogenannten unfehlbaren Wahrheiten der Naturwissenschaft nichts als Hypothesen sind. Ich führe nur eine von vielen Stellen an. „Erklärung nennen wirs, aber Beschreibung ist es, was uns vor ältern Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser, wir erklaren ebenso wenig wie alle Frühern" (V, 153). Die von England nusgegangne mechanische Natnrerklärnng nennt Nietzsche die englisch-mechanistische Weltvertölpeluug (VII, 221). Beide verehren wir die alten Griechen und das Alte Testament. Beide sehen wir in der Weltgeschichte ebenso viel Rückschritt wie Fortschritt, und stellen wir den heutigen Dnrch- schnittmenschen nnter den Hellenen und unter den Menschen der Renaissance. Beide finden wir, daß der mittelalterliche Mensch in manchen Beziehungen nicht gebundner, sondern freier und dabei stärker gewesen ist als der heutige. Beide sehen wir das Ziel der Menschheit weder im Staate noch in einer zu¬ künftigen Gesellschaftsform, sondern in der Gegenwart jedes Geschlechts. Denen, die fortschreitende Vergeistigung oder Versittlichung für das Ziel erklären, habe ich die Wahrnehmung — wenigstens ist es meine Wahrnehmung — entgegen¬ gehalten, daß der Mensch im allgemeinen in der Kindheit am geistigsten ist und Grenzboten II I8W M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/185>, abgerufen am 27.12.2024.