Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Friedrich Nietzsche Werden können, denen es verhältnismäßig gut geht, und daß das Streben der Ar¬ Friedrich Nietzsche Werden können, denen es verhältnismäßig gut geht, und daß das Streben der Ar¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0187" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227823"/> <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/> <p xml:id="ID_504" prev="#ID_503" next="#ID_505"> Werden können, denen es verhältnismäßig gut geht, und daß das Streben der Ar¬<lb/> beiter nach Verbesserung ihrer Lage so wenig eine innere Schranke kennt wie das<lb/> der Geschäftsleute nach Vermehrung ihres Reichtums, nachdem die äußere Schranke<lb/> der Standesunterschiede, die übrigens sür den Gebundnen nicht bloß eine<lb/> Schranke, sondern auch einen Schutz bedeutete, gefallen ist.^ Er hat zuletzt die große<lb/> Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, daß hier sich eine be¬<lb/> scheidne und selbstgenugsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande<lb/> herausbilde; und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Not¬<lb/> wendigkeit gewesen. Was hat man gethan? Alles, um auch die Voraussetzung<lb/> dazu im Keime zu vernichten; man hat die Instinkte, vermöge deren ein Ar¬<lb/> beiter als Stand möglich, fich selber möglich wird, durch die unverantwort¬<lb/> lichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter<lb/> militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Koalitivnsrecht, das politische Stimm¬<lb/> recht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits<lb/> als Notstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht) empfindet? Aber was will<lb/> man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muß man auch die Mittel<lb/> wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herren<lb/> erzieht" (VIII, 153). „Solche Phantome, wie die Würde des Menschen, die<lb/> Würde der Arbeit, sind die dürftigen Erzeugnisse des sich vor sich selbst ver¬<lb/> steckenden Sklaventums. Unselige Zeit, in der der Sklave solche Begriffe<lb/> braucht, in der er zum Nachdenken über sich und über sich hinaus aufgereizt<lb/> wird! Unselige Verführer, die den Unschuldstand des Sklaven durch die Frucht<lb/> vom Baume der Erkenntnis vernichtet haben! Jetzt muß dieser sich mit solchen<lb/> durchsichtigen Lügen von einem Tage zum andern Hinhalten, wie sie in der<lb/> angeblichen Gleichberechtigung aller oder in den sogenannten Grundrechten des<lb/> Menschen, des Menschen als solchen, oder in der Würde der Arbeit für jeden<lb/> tiefer Blickenden erkennbar sind. Er darf ja nicht begreifen, auf welcher Stufe<lb/> und in welcher Höhe erst ungefähr von Würde gesprochen werden kann" (IX, 96).<lb/> Das des Menschen Unwürdige in mancher Maschinenarbeit, in der Erniedrigung<lb/> des Arbeiters zum bloßen Produktionsmittel erkennt Nietzsche klar und fühlt<lb/> er tief. Er verachtet solche Arbeiter, die es selbst erkannt haben und dennoch<lb/> ertragen, etwa nur nach einer Milderung ihres Loses verlangen. Er meint,<lb/> wenn die heutigen Arbeiter, darin gelehrige Schüler' ihrer bürgerlichen Lehrer,<lb/> an die philosophische Armut, die in Lumpen stolz ist, nicht mehr glauben, von<lb/> jener Freiheit, die in der Bedürfnislosigkeit besteht, nichts wissen mögen, die<lb/> freiwillige idyllische Armut, Berufs- und Ehelosigkeit jwenn idyllische Armut<lb/> uur außerhalb des Klosters bei uns noch möglich wäre!j verlachen, dann<lb/> sollte ein jeder bei sich denken: „lieber auswandern, in wilden und frischen<lb/> Gegenden der Welt Herr zu werden.suchen und vor allem Herr über mich<lb/> selber; dem Abenteuer und dem Kriege nicht aus dem Wege gehen, und<lb/> sür die schlimmsten Zufälle den Tod in Bereitschaft halten: nur nicht länger</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0187]
Friedrich Nietzsche
Werden können, denen es verhältnismäßig gut geht, und daß das Streben der Ar¬
beiter nach Verbesserung ihrer Lage so wenig eine innere Schranke kennt wie das
der Geschäftsleute nach Vermehrung ihres Reichtums, nachdem die äußere Schranke
der Standesunterschiede, die übrigens sür den Gebundnen nicht bloß eine
Schranke, sondern auch einen Schutz bedeutete, gefallen ist.^ Er hat zuletzt die große
Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, daß hier sich eine be¬
scheidne und selbstgenugsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande
herausbilde; und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Not¬
wendigkeit gewesen. Was hat man gethan? Alles, um auch die Voraussetzung
dazu im Keime zu vernichten; man hat die Instinkte, vermöge deren ein Ar¬
beiter als Stand möglich, fich selber möglich wird, durch die unverantwort¬
lichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter
militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Koalitivnsrecht, das politische Stimm¬
recht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits
als Notstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht) empfindet? Aber was will
man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muß man auch die Mittel
wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herren
erzieht" (VIII, 153). „Solche Phantome, wie die Würde des Menschen, die
Würde der Arbeit, sind die dürftigen Erzeugnisse des sich vor sich selbst ver¬
steckenden Sklaventums. Unselige Zeit, in der der Sklave solche Begriffe
braucht, in der er zum Nachdenken über sich und über sich hinaus aufgereizt
wird! Unselige Verführer, die den Unschuldstand des Sklaven durch die Frucht
vom Baume der Erkenntnis vernichtet haben! Jetzt muß dieser sich mit solchen
durchsichtigen Lügen von einem Tage zum andern Hinhalten, wie sie in der
angeblichen Gleichberechtigung aller oder in den sogenannten Grundrechten des
Menschen, des Menschen als solchen, oder in der Würde der Arbeit für jeden
tiefer Blickenden erkennbar sind. Er darf ja nicht begreifen, auf welcher Stufe
und in welcher Höhe erst ungefähr von Würde gesprochen werden kann" (IX, 96).
Das des Menschen Unwürdige in mancher Maschinenarbeit, in der Erniedrigung
des Arbeiters zum bloßen Produktionsmittel erkennt Nietzsche klar und fühlt
er tief. Er verachtet solche Arbeiter, die es selbst erkannt haben und dennoch
ertragen, etwa nur nach einer Milderung ihres Loses verlangen. Er meint,
wenn die heutigen Arbeiter, darin gelehrige Schüler' ihrer bürgerlichen Lehrer,
an die philosophische Armut, die in Lumpen stolz ist, nicht mehr glauben, von
jener Freiheit, die in der Bedürfnislosigkeit besteht, nichts wissen mögen, die
freiwillige idyllische Armut, Berufs- und Ehelosigkeit jwenn idyllische Armut
uur außerhalb des Klosters bei uns noch möglich wäre!j verlachen, dann
sollte ein jeder bei sich denken: „lieber auswandern, in wilden und frischen
Gegenden der Welt Herr zu werden.suchen und vor allem Herr über mich
selber; dem Abenteuer und dem Kriege nicht aus dem Wege gehen, und
sür die schlimmsten Zufälle den Tod in Bereitschaft halten: nur nicht länger
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |