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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Alphonse Daudet

die immer nur gute Gedanken in mir erweckt hat. Um uns wandelten die
Sterne weiter auf ihrer stillen Bahn, folgsam wie eine große Herde, und denn
war es mir, als ob einer dieser Sterne, der schönste und glänzendste, seinen
Weg verloren habe und zu mir gekommen sei, sich an meine Schulter zu
lehnen und zu schlafen." Damit schließt dieses kleine Meisterstück.

Die naturalistischen Kritiker haben Daudet wegen dieses lyrisch-roman¬
tischen Zugs den Vorwurf gemacht, daß er die menschliche Natur falsche M
lui xrZtÄnt ass graess se ass vsrtus iingAmg-iros. Ja, was hätte Wohl Zola
oder Maupassant aus dieser Nachtszene auf dem einsamen Berge gemacht! Daudet
behält immer etwas von dem empfindsamen Wesen des unscheinbaren, schüch¬
ternen, liebenswürdigen Daniel Eyssette in I>s?seit elwss, dessen Lebensgeschichte
seine eigne Jugendgeschichte ist. Als der kleine Dingsda seine Heimat verlassen
muß, geht er noch einmal in den Garten und spricht mit den Bäumen, den
alten Genossen seiner Träume: "Nun ist es aus, wir werden uns nicht mehr
wiedersehen. Im Garten stand ein Granatbaum, dessen schöne rote Blüten sich
vor den Strahlen der Sonne aufthaten. Ich sagte schluchzend zu ihm: Gieb
mir eine von deinen Blüten. Er gab sie mir. Ich legte sie mir ans Herz
zur Erinnerung an ihn."

Das ist ein wenig sentimental, rührselig, es wird in Daudets Geschichten
überhaupt viel geweint, aber gerade dieser Zug von Sentimentalität, den alle
realistischen und naturalistischen Schriftsteller als eine romantische Schwäche,
als eine Albernheit verabscheuen, giebt den Daudetschen Romanen ihren eigen¬
tümlichen Reiz. Und Jules Lemattre hat nicht so unrecht, wenn er in seinen
00mes!nxc"rg.in8 (II, 279) sagt: "Die Seele dieses lieben kleinen Dingsda, der
keine glückliche Kindheit gehabt hat, und der so freundliche und zärtliche Träume
träumt, schwebt leicht auch über den wirklichen Romanen Daudets, dringt hier
und da tiefer ein, bringt eine gewisse Erregung in die Geschlossenheit der Ge¬
mälde und fügt zu der genauen Beobachtung eine solche Menge seltner und
feiner Einzelheiten, daß sie, ohne jedes andre Kunstmittel, die Wirklichkeit in
dichterische Phantasie verwandelt." Die Vorschrift, das Ich aus dem Spiele
zu lassen und ganz unpersönliche Schilderungen zu geben (nsutralitä adsolus
as l'autour), erkannte Daudet niemals an. Wo er seine persönliche Sym¬
pathie zu diesen oder jenen Gestalten zeigen will, da thut er es. Als der
Pensionatsvorsteher Moronval in dem Roman ^ok die verkommne Gesell¬
schaft von Philosophen und Künstlern zu sich eingeladen hat, und diese sich
einfindet, da heißt es: "Auf ihre abgeschabte Erscheinung war soviel Elend
geschrieben, daß man trotzdem etwas Rührung empfand vor dem fieberhaften
Glanz dieser von Illusionen trunkner Augen, vor diesen verwüsteten Gesichtern,
auf denen alle besiegten Träume, alle erstorbnen Hoffnungen eingetragen waren."
Ähnliche Beispiele sind in allen Romanen zu finden.

(Schluß folgt)


Alphonse Daudet

die immer nur gute Gedanken in mir erweckt hat. Um uns wandelten die
Sterne weiter auf ihrer stillen Bahn, folgsam wie eine große Herde, und denn
war es mir, als ob einer dieser Sterne, der schönste und glänzendste, seinen
Weg verloren habe und zu mir gekommen sei, sich an meine Schulter zu
lehnen und zu schlafen." Damit schließt dieses kleine Meisterstück.

Die naturalistischen Kritiker haben Daudet wegen dieses lyrisch-roman¬
tischen Zugs den Vorwurf gemacht, daß er die menschliche Natur falsche M
lui xrZtÄnt ass graess se ass vsrtus iingAmg-iros. Ja, was hätte Wohl Zola
oder Maupassant aus dieser Nachtszene auf dem einsamen Berge gemacht! Daudet
behält immer etwas von dem empfindsamen Wesen des unscheinbaren, schüch¬
ternen, liebenswürdigen Daniel Eyssette in I>s?seit elwss, dessen Lebensgeschichte
seine eigne Jugendgeschichte ist. Als der kleine Dingsda seine Heimat verlassen
muß, geht er noch einmal in den Garten und spricht mit den Bäumen, den
alten Genossen seiner Träume: „Nun ist es aus, wir werden uns nicht mehr
wiedersehen. Im Garten stand ein Granatbaum, dessen schöne rote Blüten sich
vor den Strahlen der Sonne aufthaten. Ich sagte schluchzend zu ihm: Gieb
mir eine von deinen Blüten. Er gab sie mir. Ich legte sie mir ans Herz
zur Erinnerung an ihn."

Das ist ein wenig sentimental, rührselig, es wird in Daudets Geschichten
überhaupt viel geweint, aber gerade dieser Zug von Sentimentalität, den alle
realistischen und naturalistischen Schriftsteller als eine romantische Schwäche,
als eine Albernheit verabscheuen, giebt den Daudetschen Romanen ihren eigen¬
tümlichen Reiz. Und Jules Lemattre hat nicht so unrecht, wenn er in seinen
00mes!nxc»rg.in8 (II, 279) sagt: „Die Seele dieses lieben kleinen Dingsda, der
keine glückliche Kindheit gehabt hat, und der so freundliche und zärtliche Träume
träumt, schwebt leicht auch über den wirklichen Romanen Daudets, dringt hier
und da tiefer ein, bringt eine gewisse Erregung in die Geschlossenheit der Ge¬
mälde und fügt zu der genauen Beobachtung eine solche Menge seltner und
feiner Einzelheiten, daß sie, ohne jedes andre Kunstmittel, die Wirklichkeit in
dichterische Phantasie verwandelt." Die Vorschrift, das Ich aus dem Spiele
zu lassen und ganz unpersönliche Schilderungen zu geben (nsutralitä adsolus
as l'autour), erkannte Daudet niemals an. Wo er seine persönliche Sym¬
pathie zu diesen oder jenen Gestalten zeigen will, da thut er es. Als der
Pensionatsvorsteher Moronval in dem Roman ^ok die verkommne Gesell¬
schaft von Philosophen und Künstlern zu sich eingeladen hat, und diese sich
einfindet, da heißt es: „Auf ihre abgeschabte Erscheinung war soviel Elend
geschrieben, daß man trotzdem etwas Rührung empfand vor dem fieberhaften
Glanz dieser von Illusionen trunkner Augen, vor diesen verwüsteten Gesichtern,
auf denen alle besiegten Träume, alle erstorbnen Hoffnungen eingetragen waren."
Ähnliche Beispiele sind in allen Romanen zu finden.

(Schluß folgt)


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[0148] Alphonse Daudet die immer nur gute Gedanken in mir erweckt hat. Um uns wandelten die Sterne weiter auf ihrer stillen Bahn, folgsam wie eine große Herde, und denn war es mir, als ob einer dieser Sterne, der schönste und glänzendste, seinen Weg verloren habe und zu mir gekommen sei, sich an meine Schulter zu lehnen und zu schlafen." Damit schließt dieses kleine Meisterstück. Die naturalistischen Kritiker haben Daudet wegen dieses lyrisch-roman¬ tischen Zugs den Vorwurf gemacht, daß er die menschliche Natur falsche M lui xrZtÄnt ass graess se ass vsrtus iingAmg-iros. Ja, was hätte Wohl Zola oder Maupassant aus dieser Nachtszene auf dem einsamen Berge gemacht! Daudet behält immer etwas von dem empfindsamen Wesen des unscheinbaren, schüch¬ ternen, liebenswürdigen Daniel Eyssette in I>s?seit elwss, dessen Lebensgeschichte seine eigne Jugendgeschichte ist. Als der kleine Dingsda seine Heimat verlassen muß, geht er noch einmal in den Garten und spricht mit den Bäumen, den alten Genossen seiner Träume: „Nun ist es aus, wir werden uns nicht mehr wiedersehen. Im Garten stand ein Granatbaum, dessen schöne rote Blüten sich vor den Strahlen der Sonne aufthaten. Ich sagte schluchzend zu ihm: Gieb mir eine von deinen Blüten. Er gab sie mir. Ich legte sie mir ans Herz zur Erinnerung an ihn." Das ist ein wenig sentimental, rührselig, es wird in Daudets Geschichten überhaupt viel geweint, aber gerade dieser Zug von Sentimentalität, den alle realistischen und naturalistischen Schriftsteller als eine romantische Schwäche, als eine Albernheit verabscheuen, giebt den Daudetschen Romanen ihren eigen¬ tümlichen Reiz. Und Jules Lemattre hat nicht so unrecht, wenn er in seinen 00mes!nxc»rg.in8 (II, 279) sagt: „Die Seele dieses lieben kleinen Dingsda, der keine glückliche Kindheit gehabt hat, und der so freundliche und zärtliche Träume träumt, schwebt leicht auch über den wirklichen Romanen Daudets, dringt hier und da tiefer ein, bringt eine gewisse Erregung in die Geschlossenheit der Ge¬ mälde und fügt zu der genauen Beobachtung eine solche Menge seltner und feiner Einzelheiten, daß sie, ohne jedes andre Kunstmittel, die Wirklichkeit in dichterische Phantasie verwandelt." Die Vorschrift, das Ich aus dem Spiele zu lassen und ganz unpersönliche Schilderungen zu geben (nsutralitä adsolus as l'autour), erkannte Daudet niemals an. Wo er seine persönliche Sym¬ pathie zu diesen oder jenen Gestalten zeigen will, da thut er es. Als der Pensionatsvorsteher Moronval in dem Roman ^ok die verkommne Gesell¬ schaft von Philosophen und Künstlern zu sich eingeladen hat, und diese sich einfindet, da heißt es: „Auf ihre abgeschabte Erscheinung war soviel Elend geschrieben, daß man trotzdem etwas Rührung empfand vor dem fieberhaften Glanz dieser von Illusionen trunkner Augen, vor diesen verwüsteten Gesichtern, auf denen alle besiegten Träume, alle erstorbnen Hoffnungen eingetragen waren." Ähnliche Beispiele sind in allen Romanen zu finden. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/148>, abgerufen am 27.12.2024.