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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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er, als er seinen Roman Vromont jours ot L.islsr fiir^ schrieb. Er sah die
ganze Fabrik vor sich liegen, beschrieb die aus- und eingehenden Fabrikmädchen
genau, wie er sie sah, beobachtete den alten Besitzer, der eins der jungen
Mädchen zu seiner Frau gemacht hatte, den jungen Kompagnon, der dieselbe
Sidonie, diese leichtfertige, infame Pariser Pflanze schon früher geliebt hatte --
und der Kern der Geschichte war da. Aber wie er diese Geschichte aufbaut,
dramatisch steigert, psychologisch vertieft, wie er den Leser fesselt und in die
größte Spannung versetzt, in seiner Seele alle Empfindungen von Furcht und
Mitleid, von Beifall und Entrüstung wachruft, das hat Daudet nicht von
der kalten beschreibenden Experimentalmethode der Naturalisten gelernt, das ist
sein eignes Werk, das ist das Geheimnis seiner Kunst, das ist die Arbeit
seiner Phantasie und seines Herzens.

Damit kommen wir zu den charakteristischen Merkmalen, die diesen Schrift¬
steller vor allen andern auszeichnen, und in denen er in dem vollständigsten
Gegensatz zu Zola und seiner Schule steht. Drei besondre Züge sind uns
an Daudets litterarischem Bilde immer wieder aufgefallen, so oft wir seine
Werke in die Hand nahmen: seine absichtlich verhüllte, aber doch immer wieder
in allen Werken leise hervortönende lyrisch-romantische Stimmung, sein starkes
Heimatgefühl, das ihn auch im verwirrenden Treiben der Großstadt immer
wieder nach dem Lande seiner Kindheit, nach der Provence zurückführt, und
endlich ein Zug, der bei französischen Schriftstellern selten zu finden ist, der
menschen- und welterlösende Humor, der Humor, der uns Deutschen als die
köstlichste Blüte aller Dichtung erscheint. Ein Kritiker nennt Daudet 1s Ms
"IiÄstv 6s N08 romMoiers, und in der That müssen wir sagen, daß sich Daudet
vou allen widerwärtigen Szenen ferngehalten hat. Er wußte, daß zum
Schmutzmaler, zum artists 6v oräurs, nicht viel mehr gehört als eine gute
Portion von Schamlosigkeit, und daß es unwürdig ist, seine Kunst nach den
rohen Instinkten der Masse zu richten. Daher bleibt ihm selbst bei den ver¬
fänglichsten Stoffen etwas von der keuschen Poesie, die seine ^inourousos, seine
Phantasien, wie die Geschichten vom Rotkäppchen und von den Friedhofs¬
nachtigallen, und seine I^etres 6s mein Norilin auszeichnen. Wie echt roman¬
tisch ist die kleine Geschichte I^Sö Mönch von dem jungen provenzalischen
Schäfer, der auf seinem einsamen Bergland von der schönen Stephanette träumt,
der Tochter seiner Herrin! Wie einfach und doch wie poetisch erzählt der
Schüfer ihr Zusammentreffen: "Also hier lebst du, mein armer Schäfer? O,
wie mußt du dich langweilen, immer so allein zu sein! Was machst dn denn?
An was denkst du deun?" -- "Ach, ich hätte so gern geantwortet: An Euch,
meine Herrin, und es wäre keine Lüge gewesen; aber meine Verwirrung war
so groß, daß ich nicht ein einziges Wort hervorbringen konnte." Stephanette
ist gezwungen, die Nacht ans dem Berge zu bleiben. Sie wird müde und
schläft, an seine Schulter gelehnt, ein. "Und ich, ich sah auf die schlum¬
mernde, und das Herz pochte mir, aber mich hütete die Nacht, die klare Nacht,


er, als er seinen Roman Vromont jours ot L.islsr fiir^ schrieb. Er sah die
ganze Fabrik vor sich liegen, beschrieb die aus- und eingehenden Fabrikmädchen
genau, wie er sie sah, beobachtete den alten Besitzer, der eins der jungen
Mädchen zu seiner Frau gemacht hatte, den jungen Kompagnon, der dieselbe
Sidonie, diese leichtfertige, infame Pariser Pflanze schon früher geliebt hatte —
und der Kern der Geschichte war da. Aber wie er diese Geschichte aufbaut,
dramatisch steigert, psychologisch vertieft, wie er den Leser fesselt und in die
größte Spannung versetzt, in seiner Seele alle Empfindungen von Furcht und
Mitleid, von Beifall und Entrüstung wachruft, das hat Daudet nicht von
der kalten beschreibenden Experimentalmethode der Naturalisten gelernt, das ist
sein eignes Werk, das ist das Geheimnis seiner Kunst, das ist die Arbeit
seiner Phantasie und seines Herzens.

Damit kommen wir zu den charakteristischen Merkmalen, die diesen Schrift¬
steller vor allen andern auszeichnen, und in denen er in dem vollständigsten
Gegensatz zu Zola und seiner Schule steht. Drei besondre Züge sind uns
an Daudets litterarischem Bilde immer wieder aufgefallen, so oft wir seine
Werke in die Hand nahmen: seine absichtlich verhüllte, aber doch immer wieder
in allen Werken leise hervortönende lyrisch-romantische Stimmung, sein starkes
Heimatgefühl, das ihn auch im verwirrenden Treiben der Großstadt immer
wieder nach dem Lande seiner Kindheit, nach der Provence zurückführt, und
endlich ein Zug, der bei französischen Schriftstellern selten zu finden ist, der
menschen- und welterlösende Humor, der Humor, der uns Deutschen als die
köstlichste Blüte aller Dichtung erscheint. Ein Kritiker nennt Daudet 1s Ms
«IiÄstv 6s N08 romMoiers, und in der That müssen wir sagen, daß sich Daudet
vou allen widerwärtigen Szenen ferngehalten hat. Er wußte, daß zum
Schmutzmaler, zum artists 6v oräurs, nicht viel mehr gehört als eine gute
Portion von Schamlosigkeit, und daß es unwürdig ist, seine Kunst nach den
rohen Instinkten der Masse zu richten. Daher bleibt ihm selbst bei den ver¬
fänglichsten Stoffen etwas von der keuschen Poesie, die seine ^inourousos, seine
Phantasien, wie die Geschichten vom Rotkäppchen und von den Friedhofs¬
nachtigallen, und seine I^etres 6s mein Norilin auszeichnen. Wie echt roman¬
tisch ist die kleine Geschichte I^Sö Mönch von dem jungen provenzalischen
Schäfer, der auf seinem einsamen Bergland von der schönen Stephanette träumt,
der Tochter seiner Herrin! Wie einfach und doch wie poetisch erzählt der
Schüfer ihr Zusammentreffen: „Also hier lebst du, mein armer Schäfer? O,
wie mußt du dich langweilen, immer so allein zu sein! Was machst dn denn?
An was denkst du deun?" — „Ach, ich hätte so gern geantwortet: An Euch,
meine Herrin, und es wäre keine Lüge gewesen; aber meine Verwirrung war
so groß, daß ich nicht ein einziges Wort hervorbringen konnte." Stephanette
ist gezwungen, die Nacht ans dem Berge zu bleiben. Sie wird müde und
schläft, an seine Schulter gelehnt, ein. „Und ich, ich sah auf die schlum¬
mernde, und das Herz pochte mir, aber mich hütete die Nacht, die klare Nacht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/147>, abgerufen am 27.12.2024.