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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Alphonse Daudet

nur dem Strebertum, der Dummheit und Faulheit dienst. Du machst die
Sehenden blind, du stachelst die Leidenschaften auf, trennst die edeln Herzen,
die für einander geschaffen sind, und bringst die zusammen, die gar nicht für
einander taugen. Du vernichtest das Gewissen, du machst die Lügen'und
Winkelzüge zur Gewohnheit; dir ist es zu danken, daß ehrliche Männer zu
Freunden von Spitzbuben werden, weil sie zufällig derselben Partei angehören.
Ich hasse dich, weil du in unsern Herzen die Vaterlandsliebe getötet hast! Ich
hasse dich, weil du den fürchterlichen Ausspruch Heinrich Heines zur Wahrheit
gemacht hast: In Frankreich giebt es keine Nation mehr, dort giebt es nur
noch Parteien.

Daudet ist ein viel zu gescheiter Mann gewesen, als daß er sich einer
politischen oder litterarischen Partei hätte anschließen sollen. Und gerade diese
Unabhängigkeit hat ihm die Frische, die Klarheit und Beweglichkeit erhalten,
die selbst in seineu letzten Schöpfungen noch zu spüren sind, obwohl sich schon
die Schatten des Todes darüber verbreiteten. Daudet ist also kein Partei¬
gänger des Naturalismus. Man könnte ihn mit demselben Rechte zur
idealistischen wie zur realistischen Schule reichen; denn er befriedigt die Leser
eines Erckmann-Chatrian, Feuillee. Theuriet und Cherbuliez ebenso wie die
eines Zola und Manpassant. In einer Eigenschaft, der scharfen Beobachtung,
dem Wirklichkeitssinn schließt sich Daudet freilich an die Träger des realistischen
Romans, an Stendhal, Balzac, Flaubert und die Gebrüder Goncourt an. Er
machte sich den Grundsatz der Goncourts zu eigen: 0n n<z t'ait bien <zu<z o"z
on'on g, vu, und baute sich nicht, wie die Idealisten, eine eigne phantastische
Welt. Daudet ist ein seiner Beobachter des Menschen, er hat für die Eigen¬
tümlichkeiten, und wären sie noch so versteckt, ein scharfes Ange: eine Hand-
bewegung, ein Zucken im Gesicht, eine Äußerung genügt ihm, den ganzen
Menschen zu zeichnen. Wie der Naturforscher aus der Struktur einer Holz¬
faser auf die Natur des ganzen Baumes schließt, aus dem Bau eines Zahns
auf die ganze Lebensweise eines Tieres, so konstruirt sich Daudet seine Ge¬
stalten aus scheinbar unbedeutenden Beobachtungen. Ohne diese Einzelheiten
der Charakterzüge zu haben, beginnt er kein Werk; sein Notizbuch, sein Zettel¬
kasten muß ihm das positive Material liefern- Er spricht an einer Stelle
selbst über seine Arbeitsweise: Wie die Maler sorgfältig ihre Skizzenbücher
aufbewahren, worin Köpfe, Stellungen, eine Verkürzung oder Bewegung des
Armes nach dem Leben gezeichnet sind, so sammle ich seit Jahren eine Menge
kleiner Hefte, sur löLauizls Iss rsinarquös, iss pönssos n'our xartois ein'uns
ki^ruz 86rrv6, av cjnoi so raxvolor rin Zesto, uns Intonation, (^voloxnos,
kArMäis xws tara xour 1'lig.imoniö as 1'ozuvro iinxorwnts.

In der Art der Beobachtung schließt sich Daudet also ziemlich eng an
die Methode der realistischen Schriftsteller an. Die Menschen, die er uns
vorführt, hat er wirklich gesehen, beobachtet, studiert; die meisten seiner Ge¬
schichten hat er selbst erlebt. Das ganze Stadtviertel arbeitete für mich, sagt


Alphonse Daudet

nur dem Strebertum, der Dummheit und Faulheit dienst. Du machst die
Sehenden blind, du stachelst die Leidenschaften auf, trennst die edeln Herzen,
die für einander geschaffen sind, und bringst die zusammen, die gar nicht für
einander taugen. Du vernichtest das Gewissen, du machst die Lügen'und
Winkelzüge zur Gewohnheit; dir ist es zu danken, daß ehrliche Männer zu
Freunden von Spitzbuben werden, weil sie zufällig derselben Partei angehören.
Ich hasse dich, weil du in unsern Herzen die Vaterlandsliebe getötet hast! Ich
hasse dich, weil du den fürchterlichen Ausspruch Heinrich Heines zur Wahrheit
gemacht hast: In Frankreich giebt es keine Nation mehr, dort giebt es nur
noch Parteien.

Daudet ist ein viel zu gescheiter Mann gewesen, als daß er sich einer
politischen oder litterarischen Partei hätte anschließen sollen. Und gerade diese
Unabhängigkeit hat ihm die Frische, die Klarheit und Beweglichkeit erhalten,
die selbst in seineu letzten Schöpfungen noch zu spüren sind, obwohl sich schon
die Schatten des Todes darüber verbreiteten. Daudet ist also kein Partei¬
gänger des Naturalismus. Man könnte ihn mit demselben Rechte zur
idealistischen wie zur realistischen Schule reichen; denn er befriedigt die Leser
eines Erckmann-Chatrian, Feuillee. Theuriet und Cherbuliez ebenso wie die
eines Zola und Manpassant. In einer Eigenschaft, der scharfen Beobachtung,
dem Wirklichkeitssinn schließt sich Daudet freilich an die Träger des realistischen
Romans, an Stendhal, Balzac, Flaubert und die Gebrüder Goncourt an. Er
machte sich den Grundsatz der Goncourts zu eigen: 0n n<z t'ait bien <zu<z o«z
on'on g, vu, und baute sich nicht, wie die Idealisten, eine eigne phantastische
Welt. Daudet ist ein seiner Beobachter des Menschen, er hat für die Eigen¬
tümlichkeiten, und wären sie noch so versteckt, ein scharfes Ange: eine Hand-
bewegung, ein Zucken im Gesicht, eine Äußerung genügt ihm, den ganzen
Menschen zu zeichnen. Wie der Naturforscher aus der Struktur einer Holz¬
faser auf die Natur des ganzen Baumes schließt, aus dem Bau eines Zahns
auf die ganze Lebensweise eines Tieres, so konstruirt sich Daudet seine Ge¬
stalten aus scheinbar unbedeutenden Beobachtungen. Ohne diese Einzelheiten
der Charakterzüge zu haben, beginnt er kein Werk; sein Notizbuch, sein Zettel¬
kasten muß ihm das positive Material liefern- Er spricht an einer Stelle
selbst über seine Arbeitsweise: Wie die Maler sorgfältig ihre Skizzenbücher
aufbewahren, worin Köpfe, Stellungen, eine Verkürzung oder Bewegung des
Armes nach dem Leben gezeichnet sind, so sammle ich seit Jahren eine Menge
kleiner Hefte, sur löLauizls Iss rsinarquös, iss pönssos n'our xartois ein'uns
ki^ruz 86rrv6, av cjnoi so raxvolor rin Zesto, uns Intonation, (^voloxnos,
kArMäis xws tara xour 1'lig.imoniö as 1'ozuvro iinxorwnts.

In der Art der Beobachtung schließt sich Daudet also ziemlich eng an
die Methode der realistischen Schriftsteller an. Die Menschen, die er uns
vorführt, hat er wirklich gesehen, beobachtet, studiert; die meisten seiner Ge¬
schichten hat er selbst erlebt. Das ganze Stadtviertel arbeitete für mich, sagt


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[0146] Alphonse Daudet nur dem Strebertum, der Dummheit und Faulheit dienst. Du machst die Sehenden blind, du stachelst die Leidenschaften auf, trennst die edeln Herzen, die für einander geschaffen sind, und bringst die zusammen, die gar nicht für einander taugen. Du vernichtest das Gewissen, du machst die Lügen'und Winkelzüge zur Gewohnheit; dir ist es zu danken, daß ehrliche Männer zu Freunden von Spitzbuben werden, weil sie zufällig derselben Partei angehören. Ich hasse dich, weil du in unsern Herzen die Vaterlandsliebe getötet hast! Ich hasse dich, weil du den fürchterlichen Ausspruch Heinrich Heines zur Wahrheit gemacht hast: In Frankreich giebt es keine Nation mehr, dort giebt es nur noch Parteien. Daudet ist ein viel zu gescheiter Mann gewesen, als daß er sich einer politischen oder litterarischen Partei hätte anschließen sollen. Und gerade diese Unabhängigkeit hat ihm die Frische, die Klarheit und Beweglichkeit erhalten, die selbst in seineu letzten Schöpfungen noch zu spüren sind, obwohl sich schon die Schatten des Todes darüber verbreiteten. Daudet ist also kein Partei¬ gänger des Naturalismus. Man könnte ihn mit demselben Rechte zur idealistischen wie zur realistischen Schule reichen; denn er befriedigt die Leser eines Erckmann-Chatrian, Feuillee. Theuriet und Cherbuliez ebenso wie die eines Zola und Manpassant. In einer Eigenschaft, der scharfen Beobachtung, dem Wirklichkeitssinn schließt sich Daudet freilich an die Träger des realistischen Romans, an Stendhal, Balzac, Flaubert und die Gebrüder Goncourt an. Er machte sich den Grundsatz der Goncourts zu eigen: 0n n<z t'ait bien <zu<z o«z on'on g, vu, und baute sich nicht, wie die Idealisten, eine eigne phantastische Welt. Daudet ist ein seiner Beobachter des Menschen, er hat für die Eigen¬ tümlichkeiten, und wären sie noch so versteckt, ein scharfes Ange: eine Hand- bewegung, ein Zucken im Gesicht, eine Äußerung genügt ihm, den ganzen Menschen zu zeichnen. Wie der Naturforscher aus der Struktur einer Holz¬ faser auf die Natur des ganzen Baumes schließt, aus dem Bau eines Zahns auf die ganze Lebensweise eines Tieres, so konstruirt sich Daudet seine Ge¬ stalten aus scheinbar unbedeutenden Beobachtungen. Ohne diese Einzelheiten der Charakterzüge zu haben, beginnt er kein Werk; sein Notizbuch, sein Zettel¬ kasten muß ihm das positive Material liefern- Er spricht an einer Stelle selbst über seine Arbeitsweise: Wie die Maler sorgfältig ihre Skizzenbücher aufbewahren, worin Köpfe, Stellungen, eine Verkürzung oder Bewegung des Armes nach dem Leben gezeichnet sind, so sammle ich seit Jahren eine Menge kleiner Hefte, sur löLauizls Iss rsinarquös, iss pönssos n'our xartois ein'uns ki^ruz 86rrv6, av cjnoi so raxvolor rin Zesto, uns Intonation, (^voloxnos, kArMäis xws tara xour 1'lig.imoniö as 1'ozuvro iinxorwnts. In der Art der Beobachtung schließt sich Daudet also ziemlich eng an die Methode der realistischen Schriftsteller an. Die Menschen, die er uns vorführt, hat er wirklich gesehen, beobachtet, studiert; die meisten seiner Ge¬ schichten hat er selbst erlebt. Das ganze Stadtviertel arbeitete für mich, sagt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/146>, abgerufen am 23.07.2024.