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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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die deutsche Bundesverfassung von 1815 ebenso die Konsequenzen aus der
politischen Entwicklung der letzten anderthalb Jahrhunderte wie der Westfälische
Friede aus der vorhergehenden Zeit: sie gewährte den der Zahl nach durch die
Napoleonische Umwälzung sehr verringerten aber innerlich erstarkten Einzel-
staaten die formelle Souveränität, dem Gesamtstaat deutscher Nation die Gestalt
eines lockern Staatenbundes.

Aber während nun die thatsächliche und rechtliche Selbständigkeit des
deutschen Reichsfllrstentums vollendet wurde, war die sittliche Berechtigung
dieser Selbständigkeit im Schwinden begriffen. Denn so Tüchtiges die Einzel¬
staaten in ihrer Verwaltung leisteten, im nationalen Interesse lag das zuletzt
errungne Maß von Selbständigkeit nicht nur nicht, sondern es stand ihm
geradezu entgegen, da die Zeit unerbittlich eine stärkere Zusammenfassung der
nationalen Kräfte forderte, wenn das deutsche Volk seine Existenz behaupten,
seine Weltstellung sichern, also überhaupt eine Zukunft haben sollte. Um dieser
Zukunft willen mußte ein Ausgleich zwischen dem nationalen Bedürfnis und
der geschichtlich gewordnen Selbständigkeit der Einzelstaaten gefunden werden.
Daß dieses Ziel nicht ohne schwere Kämpfe zu erreichen war, versteht sich von
selbst; erst mußte Preußen seine überlegne Kraft, mußten die Mittelstaaten ihre
Lebens- und Leistungsfähigkeit anch auf dem Schlachtfelde erwiesen haben, ehe
der Ausgleich gefunden werden konnte. In der Verfassung des Norddeutschen
Bundes und in der auf ihr beruhenden Verfassung des Deutschen Reichs sehen
wir ihn verwirklicht. Sie hat die berechtigte innere Selbständigkeit der Einzel¬
staaten gesichert und ihren Fürsten im Bundesrate die Möglichkeit gegeben,
die Gesamtleitung der Nation wirkungsvoll zu führen, aber sie hat das Reich
als ein machtvolles, nach außen einheitliches und auch das innere Leben der
Nation immer stärker und vielseitiger beeinflussendes Ganze hingestellt.

Wie die ältern von uns diese Umwandlung der ganzen Nation in sich
selbst innerlich durchgemacht haben, so ist sie auch unsern Fürsten nicht er¬
spart geblieben, und sie ist ihnen schwerer geworden als andern, weil der ihnen
zugemutete Verzicht auf altererbte, tiefgewurzelte Anschauungen am größten
war. Unter denen, die diese Umwandlung bis zum völligen restlosen Ausgleich
in sich durchgemacht haben, steht König Albert in erster Reihe; er ist, so
rühmen wir es mit freudigem Stolze, darin geradezu vorbildlich. Geboren am
23. April 1828, kaum ein Jahr nach dem Tode des wie ein Patriarch verehrten
greisen Königs Friedrich August des Gerechten, wuchs er auf einerseits unter
dem noch frischen Eindrucke der schmerzlichen Erinnerungen an die Napoleonische
Zeit, andrerseits unter dem der völligen innern Neugestaltung Sachsens
seit dem Erlaß der Verfassung von 1831 und dem Eintritt Sachsens in die
werdende nationale Wirtschaftsgenossenschaft des Zollvereins mit dem 1. Januar
1834, in einer Zeit, die an freiheitlichen Bestrebungen und Phrasen sehr reich,
an nationalem Gemeingefühl und nationalem Stolze sehr arm war. Wie hätte


die deutsche Bundesverfassung von 1815 ebenso die Konsequenzen aus der
politischen Entwicklung der letzten anderthalb Jahrhunderte wie der Westfälische
Friede aus der vorhergehenden Zeit: sie gewährte den der Zahl nach durch die
Napoleonische Umwälzung sehr verringerten aber innerlich erstarkten Einzel-
staaten die formelle Souveränität, dem Gesamtstaat deutscher Nation die Gestalt
eines lockern Staatenbundes.

Aber während nun die thatsächliche und rechtliche Selbständigkeit des
deutschen Reichsfllrstentums vollendet wurde, war die sittliche Berechtigung
dieser Selbständigkeit im Schwinden begriffen. Denn so Tüchtiges die Einzel¬
staaten in ihrer Verwaltung leisteten, im nationalen Interesse lag das zuletzt
errungne Maß von Selbständigkeit nicht nur nicht, sondern es stand ihm
geradezu entgegen, da die Zeit unerbittlich eine stärkere Zusammenfassung der
nationalen Kräfte forderte, wenn das deutsche Volk seine Existenz behaupten,
seine Weltstellung sichern, also überhaupt eine Zukunft haben sollte. Um dieser
Zukunft willen mußte ein Ausgleich zwischen dem nationalen Bedürfnis und
der geschichtlich gewordnen Selbständigkeit der Einzelstaaten gefunden werden.
Daß dieses Ziel nicht ohne schwere Kämpfe zu erreichen war, versteht sich von
selbst; erst mußte Preußen seine überlegne Kraft, mußten die Mittelstaaten ihre
Lebens- und Leistungsfähigkeit anch auf dem Schlachtfelde erwiesen haben, ehe
der Ausgleich gefunden werden konnte. In der Verfassung des Norddeutschen
Bundes und in der auf ihr beruhenden Verfassung des Deutschen Reichs sehen
wir ihn verwirklicht. Sie hat die berechtigte innere Selbständigkeit der Einzel¬
staaten gesichert und ihren Fürsten im Bundesrate die Möglichkeit gegeben,
die Gesamtleitung der Nation wirkungsvoll zu führen, aber sie hat das Reich
als ein machtvolles, nach außen einheitliches und auch das innere Leben der
Nation immer stärker und vielseitiger beeinflussendes Ganze hingestellt.

Wie die ältern von uns diese Umwandlung der ganzen Nation in sich
selbst innerlich durchgemacht haben, so ist sie auch unsern Fürsten nicht er¬
spart geblieben, und sie ist ihnen schwerer geworden als andern, weil der ihnen
zugemutete Verzicht auf altererbte, tiefgewurzelte Anschauungen am größten
war. Unter denen, die diese Umwandlung bis zum völligen restlosen Ausgleich
in sich durchgemacht haben, steht König Albert in erster Reihe; er ist, so
rühmen wir es mit freudigem Stolze, darin geradezu vorbildlich. Geboren am
23. April 1828, kaum ein Jahr nach dem Tode des wie ein Patriarch verehrten
greisen Königs Friedrich August des Gerechten, wuchs er auf einerseits unter
dem noch frischen Eindrucke der schmerzlichen Erinnerungen an die Napoleonische
Zeit, andrerseits unter dem der völligen innern Neugestaltung Sachsens
seit dem Erlaß der Verfassung von 1831 und dem Eintritt Sachsens in die
werdende nationale Wirtschaftsgenossenschaft des Zollvereins mit dem 1. Januar
1834, in einer Zeit, die an freiheitlichen Bestrebungen und Phrasen sehr reich,
an nationalem Gemeingefühl und nationalem Stolze sehr arm war. Wie hätte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/109>, abgerufen am 28.12.2024.