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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sagenbilduug und Sageneiitwicklung

eben den echten König zunächst einmal seinerseits vertrieben, Theuderich hat
schon vor Odoaker eine Zeit lang in Italien geherrscht.

Der Vorgang, der in unserm Falle aus der Geschichte eine Sage macht,
ist also der: es ist nur eine wichtige Thatsache in der Erinnerung geblieben,
ihr geschichtlicher Grund war verschollen; so wurde sie den inzwischen ver¬
änderten Umständen nach neu begründet.

Das älteste Denkmal aus dieser Dietrichsage, das wir haben, und das
mehr als ein bloßes Zeugnis ist, ist das im achten Jahrhundert entstandne
Hiltebrandslied. Es behandelt das Ereignis, das sich gelegentlich der Heim¬
kehr Dietrichs begeben haben soll. Der Gegner Dietrichs, der ihn vertrieben
hat, heißt hier noch Otachar; in der Zeit seiner Verbannung hat sich Dietrich
bei dem Könige der Hunnen aufgehalten, dessen Name zufällig nicht genannt
ist, der aber kein andrer sein kaun als der bekannte Attila (--Etzel). Wie kam
man nun wohl dazu, den nun einmal Verbanne gedachten Dietrich gerade zu
den Hunnen gehen zu lassen? Auch hierfür läßt sich leicht ein Grund in der
Geschichte finden: Attilas Unterthanen bestanden, außer seinen Hunnen, vor¬
wiegend aus Germanen, unter denen gerade die Ostgoten eine hervorragende
Stelle einnahmen. Die hunnische Oberhoheit war nicht drückend, im Gegen¬
teil, die Goten hatten ihre eignen Fürsten, die zu den ersten Ratgebern des
Großkönigs zählten. Uuter diesen befand sich auch Theuderichs Vater Theo-
demer. Man darf also gewiß annehmen, daß sich Dietrichs Aufenthalt im
Hunnenlande darstellt als eine Erinnerung an die frühere Zugehörigkeit der
Ostgoten zu jenem Reiche; die äußern Lebensumstände des Vaters Theodemer
sind dabei auf den Sohn übertragen worden.

Damit ist aber zugleich die erste gröbere Verletzung der wirklichen Zeit¬
folge gegeben. Das kaun uns jedoch nicht Wunder nehmen, da es sich von
vornherein um eine Darstellung der Vergangenheit handelt; denn für den un¬
gelehrten Menschen erscheinen alle vergangnen Ereignisse gewissermaßen auf ein
und derselben Fläche, die nötige Perspektive muß er nach eignem Gutdünken
hineinbringen.

Schon vorhin ist gezeigt worden, daß Dietrich für die Sage von vorn¬
herein in Italien herrscht; damit ist zugleich als Sitz der Ostgoteu für die
Sage ein für allemal Italien gegeben. Wir dürfen uns also auch nicht
Wundern, dem geschichtlich in Südrußland sitzenden Ermanarich als König von
Italien zu begegnen.

Die Sage von Ermenrich ist natürlich ältern Ursprungs als die von
Dietrich; schon der Gode Jordanes berichtet um 550 das hauptsächlichste Er¬
eignis, die Hinrichtung Schwanhilts und die tötliche Verwundung des Königs,
doch auf eine Weise, die die Möglichkeit offen läßt, daß wir hier noch einen
Bericht über geschichtliche Thatsache" vor uns haben. Außerordentlich früh
ist gerade diese Erzählung nach Skandinavien gebracht worden; hier erscheint


Sagenbilduug und Sageneiitwicklung

eben den echten König zunächst einmal seinerseits vertrieben, Theuderich hat
schon vor Odoaker eine Zeit lang in Italien geherrscht.

Der Vorgang, der in unserm Falle aus der Geschichte eine Sage macht,
ist also der: es ist nur eine wichtige Thatsache in der Erinnerung geblieben,
ihr geschichtlicher Grund war verschollen; so wurde sie den inzwischen ver¬
änderten Umständen nach neu begründet.

Das älteste Denkmal aus dieser Dietrichsage, das wir haben, und das
mehr als ein bloßes Zeugnis ist, ist das im achten Jahrhundert entstandne
Hiltebrandslied. Es behandelt das Ereignis, das sich gelegentlich der Heim¬
kehr Dietrichs begeben haben soll. Der Gegner Dietrichs, der ihn vertrieben
hat, heißt hier noch Otachar; in der Zeit seiner Verbannung hat sich Dietrich
bei dem Könige der Hunnen aufgehalten, dessen Name zufällig nicht genannt
ist, der aber kein andrer sein kaun als der bekannte Attila (—Etzel). Wie kam
man nun wohl dazu, den nun einmal Verbanne gedachten Dietrich gerade zu
den Hunnen gehen zu lassen? Auch hierfür läßt sich leicht ein Grund in der
Geschichte finden: Attilas Unterthanen bestanden, außer seinen Hunnen, vor¬
wiegend aus Germanen, unter denen gerade die Ostgoten eine hervorragende
Stelle einnahmen. Die hunnische Oberhoheit war nicht drückend, im Gegen¬
teil, die Goten hatten ihre eignen Fürsten, die zu den ersten Ratgebern des
Großkönigs zählten. Uuter diesen befand sich auch Theuderichs Vater Theo-
demer. Man darf also gewiß annehmen, daß sich Dietrichs Aufenthalt im
Hunnenlande darstellt als eine Erinnerung an die frühere Zugehörigkeit der
Ostgoten zu jenem Reiche; die äußern Lebensumstände des Vaters Theodemer
sind dabei auf den Sohn übertragen worden.

Damit ist aber zugleich die erste gröbere Verletzung der wirklichen Zeit¬
folge gegeben. Das kaun uns jedoch nicht Wunder nehmen, da es sich von
vornherein um eine Darstellung der Vergangenheit handelt; denn für den un¬
gelehrten Menschen erscheinen alle vergangnen Ereignisse gewissermaßen auf ein
und derselben Fläche, die nötige Perspektive muß er nach eignem Gutdünken
hineinbringen.

Schon vorhin ist gezeigt worden, daß Dietrich für die Sage von vorn¬
herein in Italien herrscht; damit ist zugleich als Sitz der Ostgoteu für die
Sage ein für allemal Italien gegeben. Wir dürfen uns also auch nicht
Wundern, dem geschichtlich in Südrußland sitzenden Ermanarich als König von
Italien zu begegnen.

Die Sage von Ermenrich ist natürlich ältern Ursprungs als die von
Dietrich; schon der Gode Jordanes berichtet um 550 das hauptsächlichste Er¬
eignis, die Hinrichtung Schwanhilts und die tötliche Verwundung des Königs,
doch auf eine Weise, die die Möglichkeit offen läßt, daß wir hier noch einen
Bericht über geschichtliche Thatsache» vor uns haben. Außerordentlich früh
ist gerade diese Erzählung nach Skandinavien gebracht worden; hier erscheint


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[0093] Sagenbilduug und Sageneiitwicklung eben den echten König zunächst einmal seinerseits vertrieben, Theuderich hat schon vor Odoaker eine Zeit lang in Italien geherrscht. Der Vorgang, der in unserm Falle aus der Geschichte eine Sage macht, ist also der: es ist nur eine wichtige Thatsache in der Erinnerung geblieben, ihr geschichtlicher Grund war verschollen; so wurde sie den inzwischen ver¬ änderten Umständen nach neu begründet. Das älteste Denkmal aus dieser Dietrichsage, das wir haben, und das mehr als ein bloßes Zeugnis ist, ist das im achten Jahrhundert entstandne Hiltebrandslied. Es behandelt das Ereignis, das sich gelegentlich der Heim¬ kehr Dietrichs begeben haben soll. Der Gegner Dietrichs, der ihn vertrieben hat, heißt hier noch Otachar; in der Zeit seiner Verbannung hat sich Dietrich bei dem Könige der Hunnen aufgehalten, dessen Name zufällig nicht genannt ist, der aber kein andrer sein kaun als der bekannte Attila (—Etzel). Wie kam man nun wohl dazu, den nun einmal Verbanne gedachten Dietrich gerade zu den Hunnen gehen zu lassen? Auch hierfür läßt sich leicht ein Grund in der Geschichte finden: Attilas Unterthanen bestanden, außer seinen Hunnen, vor¬ wiegend aus Germanen, unter denen gerade die Ostgoten eine hervorragende Stelle einnahmen. Die hunnische Oberhoheit war nicht drückend, im Gegen¬ teil, die Goten hatten ihre eignen Fürsten, die zu den ersten Ratgebern des Großkönigs zählten. Uuter diesen befand sich auch Theuderichs Vater Theo- demer. Man darf also gewiß annehmen, daß sich Dietrichs Aufenthalt im Hunnenlande darstellt als eine Erinnerung an die frühere Zugehörigkeit der Ostgoten zu jenem Reiche; die äußern Lebensumstände des Vaters Theodemer sind dabei auf den Sohn übertragen worden. Damit ist aber zugleich die erste gröbere Verletzung der wirklichen Zeit¬ folge gegeben. Das kaun uns jedoch nicht Wunder nehmen, da es sich von vornherein um eine Darstellung der Vergangenheit handelt; denn für den un¬ gelehrten Menschen erscheinen alle vergangnen Ereignisse gewissermaßen auf ein und derselben Fläche, die nötige Perspektive muß er nach eignem Gutdünken hineinbringen. Schon vorhin ist gezeigt worden, daß Dietrich für die Sage von vorn¬ herein in Italien herrscht; damit ist zugleich als Sitz der Ostgoteu für die Sage ein für allemal Italien gegeben. Wir dürfen uns also auch nicht Wundern, dem geschichtlich in Südrußland sitzenden Ermanarich als König von Italien zu begegnen. Die Sage von Ermenrich ist natürlich ältern Ursprungs als die von Dietrich; schon der Gode Jordanes berichtet um 550 das hauptsächlichste Er¬ eignis, die Hinrichtung Schwanhilts und die tötliche Verwundung des Königs, doch auf eine Weise, die die Möglichkeit offen läßt, daß wir hier noch einen Bericht über geschichtliche Thatsache» vor uns haben. Außerordentlich früh ist gerade diese Erzählung nach Skandinavien gebracht worden; hier erscheint

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/93>, abgerufen am 08.01.2025.