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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sagenbildung und Sagenentrvicklung

gebracht hat, wieder bei ihm Aufnahme. Nach einiger Zeit stirbt die Königin
Helche; Etzel vermählt sich abermals mit Kriemhild, der Witwe des dnrch
ihre nächsten Angehörigen ermordeten Siegfried. Diese geht die neue Ehe nur
ein in der heimlichen Voraussetzung, damit die Machtmittel zu erlangen, die
sie zur Ausführung der Rache für ihren ersten Gatten nötig hat. Sowie sie
in deren Besitz ist, veranlaßt sie Etzel, ihren Bruder Günther, den zu Worms
regierenden Burgundenköuig, mit seinen vornehmsten Mannen an den hunnischen
Hof zu einem Feste zu laden. Bei diesem Feste gelingt es ihr, den Racheplan
zur Ausführung zu bringen: die Burgunder werden angegriffen, es entsteht
ein allgemeiner mörderischer Kampf, der schließlich nur durch Dietrichs Ein¬
greifen zu Gunsten der hunnischen Partei entschieden wird. Das Gemetzel
überleben von namhaften Personen nur Etzel, Dietrich und Hildebrand; Kriem¬
hild ist zur Strafe für deu an ihren Verwandten verübten Verrat getötet
worden.

Inzwischen ist auch Ermenrich von seinem Schicksal ereilt worden: nach
einer Überlieferung, die freilich im dreizehnten Jahrhundert wohl schon er¬
loschen war, ist er zur Rache für eine neue Unthat von zwei Brüdern, die
noch im zwölften Jahrhundert Sarelo und Hamidieens genannt werden, tötlich
verwundet worden. Dietrich beschließt daher, in seine Heimat zurückzukehren.
Auf dem Wege dahin findet ein feindlicher Zusammenstoß statt, bei dem der
alte Hildebrand mit seinem eignen Sohn zu kämpfen hat, der seinerzeit als
kleines Kind in Italien zurückgeblieben ist; diesem Kampfe, der ursprünglich
tragisch mit dem Tode des Sohnes endete, hat schon die Darstellung des
dreizehnten Jahrhunderts einen versöhnlichen Ausgang gegeben. Ohne nennens¬
werte Schwierigkeiten findet nun Dietrich die Anerkennung als König im
Reiche seiner Väter, und damit die Sage im wesentlichen ihren Abschluß.

Man erkennt leicht, daß den Kern der ganzen Erzählung die Geschichte
Dietrichs von Bern bildet, die Wucht genug gehabt haben muß, eine große
Zahl andrer Sagen ein sich zu ziehen und mit sich zu einem großen Ganzen
zu vereinigen. Dieser Dietrich, Dietmars Sohn, der Amelung, ist aber un¬
zweifelhaft das Spiegelbild des geschichtlichen Ostgotenkönigs Theoderichs des
Großem, des Sohnes Theodemers ans dem Geschlechte der Amaler. In der
Geschichte führt er sein Volk aus der Balkanhalbinsel 489 nach Italien, um
dieses Land im Auftrage des oströmischen Kaisers dem Usurpator Odoaker zu
entreißen. Die Eroberung gelingt und schließt mit der Einnahme von Ravenna
493- , Odoaker wird getötet. Seitdem herrscht Theuderich kraft eignen Rechts
von Ravenna aus über ein Reich, das im wesentliche,, den von der Sage be¬
haupteten Umfang hat, denn auch Deutschland südlich von der Donau gehört
dazu; sein Einfluß, der die gesamten zeitgenössischen Germanenfürsten beherrschte,
ist bekannt. - '^:. ' ^ ^

Aber auch der ^Amelung Ermenrich der Sage ist auf eine geschichtliche


Sagenbildung und Sagenentrvicklung

gebracht hat, wieder bei ihm Aufnahme. Nach einiger Zeit stirbt die Königin
Helche; Etzel vermählt sich abermals mit Kriemhild, der Witwe des dnrch
ihre nächsten Angehörigen ermordeten Siegfried. Diese geht die neue Ehe nur
ein in der heimlichen Voraussetzung, damit die Machtmittel zu erlangen, die
sie zur Ausführung der Rache für ihren ersten Gatten nötig hat. Sowie sie
in deren Besitz ist, veranlaßt sie Etzel, ihren Bruder Günther, den zu Worms
regierenden Burgundenköuig, mit seinen vornehmsten Mannen an den hunnischen
Hof zu einem Feste zu laden. Bei diesem Feste gelingt es ihr, den Racheplan
zur Ausführung zu bringen: die Burgunder werden angegriffen, es entsteht
ein allgemeiner mörderischer Kampf, der schließlich nur durch Dietrichs Ein¬
greifen zu Gunsten der hunnischen Partei entschieden wird. Das Gemetzel
überleben von namhaften Personen nur Etzel, Dietrich und Hildebrand; Kriem¬
hild ist zur Strafe für deu an ihren Verwandten verübten Verrat getötet
worden.

Inzwischen ist auch Ermenrich von seinem Schicksal ereilt worden: nach
einer Überlieferung, die freilich im dreizehnten Jahrhundert wohl schon er¬
loschen war, ist er zur Rache für eine neue Unthat von zwei Brüdern, die
noch im zwölften Jahrhundert Sarelo und Hamidieens genannt werden, tötlich
verwundet worden. Dietrich beschließt daher, in seine Heimat zurückzukehren.
Auf dem Wege dahin findet ein feindlicher Zusammenstoß statt, bei dem der
alte Hildebrand mit seinem eignen Sohn zu kämpfen hat, der seinerzeit als
kleines Kind in Italien zurückgeblieben ist; diesem Kampfe, der ursprünglich
tragisch mit dem Tode des Sohnes endete, hat schon die Darstellung des
dreizehnten Jahrhunderts einen versöhnlichen Ausgang gegeben. Ohne nennens¬
werte Schwierigkeiten findet nun Dietrich die Anerkennung als König im
Reiche seiner Väter, und damit die Sage im wesentlichen ihren Abschluß.

Man erkennt leicht, daß den Kern der ganzen Erzählung die Geschichte
Dietrichs von Bern bildet, die Wucht genug gehabt haben muß, eine große
Zahl andrer Sagen ein sich zu ziehen und mit sich zu einem großen Ganzen
zu vereinigen. Dieser Dietrich, Dietmars Sohn, der Amelung, ist aber un¬
zweifelhaft das Spiegelbild des geschichtlichen Ostgotenkönigs Theoderichs des
Großem, des Sohnes Theodemers ans dem Geschlechte der Amaler. In der
Geschichte führt er sein Volk aus der Balkanhalbinsel 489 nach Italien, um
dieses Land im Auftrage des oströmischen Kaisers dem Usurpator Odoaker zu
entreißen. Die Eroberung gelingt und schließt mit der Einnahme von Ravenna
493- , Odoaker wird getötet. Seitdem herrscht Theuderich kraft eignen Rechts
von Ravenna aus über ein Reich, das im wesentliche,, den von der Sage be¬
haupteten Umfang hat, denn auch Deutschland südlich von der Donau gehört
dazu; sein Einfluß, der die gesamten zeitgenössischen Germanenfürsten beherrschte,
ist bekannt. - '^:. ' ^ ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/91>, abgerufen am 08.01.2025.