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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sageilbildung und Sagenentivicklung

Naturmythen, nach dem poetischen dichterische Verarbeitung irgend welcher sei
es ethischer, sei es natürlicher Grundlagen der Ursprung der Sagen gewesen;
bei den beiden zuletzt genannten werden die Beziehungen zur Geschichte soweit
beiseite geschoben, daß höchstens eine spätere Anlehnung an sie zugestanden
wird. Aber meist ist nicht eine dieser drei Erklärungsweisen ausschließlich
angewendet, sondern bald ist die eine, bald die andre bevorzugt worden;
freilich fehlt dabei nicht selten der schlagende Beweis für die Richtigkeit
der angewandten Methode. Umso lohnender muß ein Versuch sein, sowohl
den Ursprung unsrer Sagen wie auch die Umstände, die für ihre weitere Ent¬
wicklung maßgebend gewesen sind, zu erforschen; vielleicht läßt sich daraus eine
Methode gewinnen, deren Anwendung wenigstens auf die deutsche Sage , eine
gewisse Bürgschaft für ihre Richtigkeit darbietet. Ein kurzer Überblick über
den ganzen Sagenkreis, wie er etwa im dreizehnten Jahrhundert bestand, mag
die Untersuchung einleiten.

Nach der Sage herrschte einst über Italien und die angrenzenden Teile
Süddeutschlands (Baiern und Schwaben) das Königshaus der Amelunge. Nach
einer Reihe von Vorfahren, unter denen besonders Ortnid und Wvlfdietrich
hervortreten, kam das Reich an drei Brüder, die es teilten: der älteste,
Ermenrich, erhielt den Hauptanteil mit der Königsstadt Ravenna, der zweite,
Dietmar, nahm seinen Sitz in Bern (Verona), der dritte, dessen Name in der
Überlieferung schwankt, in Breisach. Die beiden jüngern Brüder starben früh,
hinterließen aber Erben: Dietmars Sohn und Nachfolger ist Dietrich, der sich
bald durch große Heldenthaten auszeichnet; die Söhne des dritten Bruders
sind die Harluuge. Nun beginnt Ermenrich, verführt durch die heimtückischen
Angaben seines bösen Rates Sibich, gegen sein eigen Geschlecht zu wüten: er
sendet den eignen Sohn Friedrich mit einem Urinsbrief in den Tod, bringt die
jungen Harluuge trotz der Aufsicht ihres treuen Hüters Eckehart in seine Ge¬
walt und läßt sie hängen und vertreibt schließlich Dietrich von Land und
Leuten. Dieser begiebt sich landflüchtig in'Begleitung, seiner treu gebliebner
Gefolgsleute, unter denen der alte Hildebrand, sein Lehr- und Waffenmeister,
hervorragt, zu Etzel, dem mächtigen Herrscher der Hunnen (deren Gebiet im
wesentlichen dem geschichtlichen Ungarn gleichgesetzt wird), und findet bei ihm
Aufnahme durch Vermittlung Nüdegers, des Markgrafen von Bechelaren. Da
Dietrich, einmal in Etzels Gefolge eingetreten, an allen Feldzügen der Hunnen
rühmlichen Anteil nimmt, so wird er auch in seiner eignen Sache thatkräftig
unterstützt: an der Spitze eines hunnischen Heeres macht er den Versuch, sich
seines väterlichen Erbes wieder zu bemächtigen; ihn begleiten Etzels und der
Königin Helche junge Söhne. Allein der Versuch mißglückt in der Schlacht
von Ravenna, und Etzels Söhne fallen von der Hand Witigs, eines der
Mannen Ermenrichs, der früher in Dietrichs Diensten gestanden hat. Dietrich
lehrt zu Etzel zurück und findet trotz des Unheils, das er über dessen Haus


Sageilbildung und Sagenentivicklung

Naturmythen, nach dem poetischen dichterische Verarbeitung irgend welcher sei
es ethischer, sei es natürlicher Grundlagen der Ursprung der Sagen gewesen;
bei den beiden zuletzt genannten werden die Beziehungen zur Geschichte soweit
beiseite geschoben, daß höchstens eine spätere Anlehnung an sie zugestanden
wird. Aber meist ist nicht eine dieser drei Erklärungsweisen ausschließlich
angewendet, sondern bald ist die eine, bald die andre bevorzugt worden;
freilich fehlt dabei nicht selten der schlagende Beweis für die Richtigkeit
der angewandten Methode. Umso lohnender muß ein Versuch sein, sowohl
den Ursprung unsrer Sagen wie auch die Umstände, die für ihre weitere Ent¬
wicklung maßgebend gewesen sind, zu erforschen; vielleicht läßt sich daraus eine
Methode gewinnen, deren Anwendung wenigstens auf die deutsche Sage , eine
gewisse Bürgschaft für ihre Richtigkeit darbietet. Ein kurzer Überblick über
den ganzen Sagenkreis, wie er etwa im dreizehnten Jahrhundert bestand, mag
die Untersuchung einleiten.

Nach der Sage herrschte einst über Italien und die angrenzenden Teile
Süddeutschlands (Baiern und Schwaben) das Königshaus der Amelunge. Nach
einer Reihe von Vorfahren, unter denen besonders Ortnid und Wvlfdietrich
hervortreten, kam das Reich an drei Brüder, die es teilten: der älteste,
Ermenrich, erhielt den Hauptanteil mit der Königsstadt Ravenna, der zweite,
Dietmar, nahm seinen Sitz in Bern (Verona), der dritte, dessen Name in der
Überlieferung schwankt, in Breisach. Die beiden jüngern Brüder starben früh,
hinterließen aber Erben: Dietmars Sohn und Nachfolger ist Dietrich, der sich
bald durch große Heldenthaten auszeichnet; die Söhne des dritten Bruders
sind die Harluuge. Nun beginnt Ermenrich, verführt durch die heimtückischen
Angaben seines bösen Rates Sibich, gegen sein eigen Geschlecht zu wüten: er
sendet den eignen Sohn Friedrich mit einem Urinsbrief in den Tod, bringt die
jungen Harluuge trotz der Aufsicht ihres treuen Hüters Eckehart in seine Ge¬
walt und läßt sie hängen und vertreibt schließlich Dietrich von Land und
Leuten. Dieser begiebt sich landflüchtig in'Begleitung, seiner treu gebliebner
Gefolgsleute, unter denen der alte Hildebrand, sein Lehr- und Waffenmeister,
hervorragt, zu Etzel, dem mächtigen Herrscher der Hunnen (deren Gebiet im
wesentlichen dem geschichtlichen Ungarn gleichgesetzt wird), und findet bei ihm
Aufnahme durch Vermittlung Nüdegers, des Markgrafen von Bechelaren. Da
Dietrich, einmal in Etzels Gefolge eingetreten, an allen Feldzügen der Hunnen
rühmlichen Anteil nimmt, so wird er auch in seiner eignen Sache thatkräftig
unterstützt: an der Spitze eines hunnischen Heeres macht er den Versuch, sich
seines väterlichen Erbes wieder zu bemächtigen; ihn begleiten Etzels und der
Königin Helche junge Söhne. Allein der Versuch mißglückt in der Schlacht
von Ravenna, und Etzels Söhne fallen von der Hand Witigs, eines der
Mannen Ermenrichs, der früher in Dietrichs Diensten gestanden hat. Dietrich
lehrt zu Etzel zurück und findet trotz des Unheils, das er über dessen Haus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/90>, abgerufen am 07.01.2025.