Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Die Billet worden ist, gar nicht vorhanden ohne Christus, der die allergrößte Wirksamkeit Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie weit die christlichen Dogmen Die Billet worden ist, gar nicht vorhanden ohne Christus, der die allergrößte Wirksamkeit Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie weit die christlichen Dogmen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0716" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227618"/> <fw type="header" place="top"> Die Billet</fw><lb/> <p xml:id="ID_2515" prev="#ID_2514"> worden ist, gar nicht vorhanden ohne Christus, der die allergrößte Wirksamkeit<lb/> ausgeübt und dadurch bewiesen hat, daß er ein unendlich viel Größerer ist als<lb/> Sokrcites. Er hat sie ausgeübt und übt sie noch aus, indem er jenen eigen¬<lb/> tümlichen Liebestrieb erzeugt, der deu Griechen fremd war: den Trieb, allen<lb/> Menschen wohlzuthun, zu Wildfremden zu eilen, die einen nicht rufen, und ihnen<lb/> Wohlthaten anzubieten, an denen ihnen so wenig gelegen ist, daß sie nicht<lb/> selten den Wohlthäter umbringen. Das war eine den Griechen völlig fremde<lb/> Empfindung. Sie waren, wie ich bei andrer Gelegenheit gezeigt habe, human<lb/> gegen jedermann und mitleidig sogar gegen den leidenden Feind, aber der<lb/> Gevanke, sich um Menschen zu kümmern, die außerhalb ihres engern Wirkungs¬<lb/> kreises wohnten, lag ihnen fern. Die nationalen Schranken hatte dann wohl<lb/> die Verschmelzung aller Kulturstaaten zu dem einen römischen orbis törrarum<lb/> durchbrochen, sodaß namentlich den Stoikern das Pauliuische „weder Grieche<lb/> noch Barbar" geläufig war, nur daß sie: „sondern Mensch" fortfuhren, nicht:<lb/> „sondern Christ"; aber daß man verpflichtet sei, diesen Mitmenschen das Heil<lb/> zu bringen, auch wenn man in keiner verwandtschaftlichen oder sonst ver¬<lb/> pflichtenden Beziehung zu ihnen stand, davon wußten sie nichts. Erst Christus<lb/> hat jene Liebe zu den Seelen gebracht, die die Kirche gegründet hat, der aber<lb/> freilich als häßlicher Schatten — keine irdische Erscheinung göttlicher Kräfte<lb/> bleibt ohne häßlichen Schatten — der Fanatismus anhaftet, gegen den es<lb/> wiederum kein besseres Gegengewicht giebt, als die Beschäftigung mit den<lb/> kühlen, klaren, heitern Griechen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2516" next="#ID_2517"> Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie weit die christlichen Dogmen<lb/> von der Trinitcit, von der Person Christi, vom Teufel, von Sündenfall und vou<lb/> der Erlösung, die, wie wir bei der Betrachtung des Buches der Weisheit gesehen<lb/> haben, die Philosophie der Alten vorbereitet hatte, inwieweit sie zum Wesen des<lb/> Christentums gehören oder nur Symbole sind, Lückenbüßer sür unsre Vernunft,<lb/> die das Wesen der Welt ergründen will und es nicht vermag. Es genügt<lb/> hier festzustellen, daß das Christentum die Ergebnisse der Geistesarbeit der<lb/> Alten zusammengefaßt und allen spätern Geschlechtern zugänglich gemacht hat,<lb/> und daß es durch Gründung der Kirche die Verbreitung, Erhaltung, Fort¬<lb/> pflanzung der höchsten Güter unabhängig gemacht hat von den vergänglichen<lb/> und wandelbaren Gebilden, denen diese Aufgabe bis dahin obgelegen hatte,<lb/> den Staaten. Durch diese Leistung ist Christus in einem Sinne der Mittel¬<lb/> punkt, in einem andern Sinne der Schlußstein der Weltgeschichte geworden;<lb/> das zweite in dem Sinne, daß seit ihm für das höhere Leben der Menschen<lb/> nichts mehr gewonnen werden konnte. Alle Philosophie der christlichen Zeiten<lb/> ist nur Variation der alten Philosophie und entweder beweisende Ausführung<lb/> der christlichen Glaubenssätze oder Kampf gegen diese. Die Philosophen sind<lb/> entweder Theisten oder Atheisten, heut wie vor dreitausend Jahren; etwas<lb/> wesentlich neues erfahren wir von keinem; nen sind nur die Vervollständigungen<lb/> lückenhafter Kausalreiheu, die Anwendungen alter Wahrheiten auf neue Ver¬<lb/> hältnisse und die sich nach dem Zeitgeschmack richtende Redeweise. In der<lb/> Ethik kann erst recht nichts neues gefunden werden. Auch die Künste tonnen<lb/> nur Variationen des Alten und neue Effekte durch neue und vervollkommnete<lb/> Darstellungsmittel bieten. Am ehesten noch wird man von der Musik sagen<lb/> können, daß sie seit dem siebzehnten Jahrhundert neues geleistet habe. Die<lb/> Gedankenbewegung hat also seit Christus nicht mehr den Zweck, neues zu finden,<lb/> sondern sie ist nur um ihrer selbst willen da, weil sie das Leben der Seele</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0716]
Die Billet
worden ist, gar nicht vorhanden ohne Christus, der die allergrößte Wirksamkeit
ausgeübt und dadurch bewiesen hat, daß er ein unendlich viel Größerer ist als
Sokrcites. Er hat sie ausgeübt und übt sie noch aus, indem er jenen eigen¬
tümlichen Liebestrieb erzeugt, der deu Griechen fremd war: den Trieb, allen
Menschen wohlzuthun, zu Wildfremden zu eilen, die einen nicht rufen, und ihnen
Wohlthaten anzubieten, an denen ihnen so wenig gelegen ist, daß sie nicht
selten den Wohlthäter umbringen. Das war eine den Griechen völlig fremde
Empfindung. Sie waren, wie ich bei andrer Gelegenheit gezeigt habe, human
gegen jedermann und mitleidig sogar gegen den leidenden Feind, aber der
Gevanke, sich um Menschen zu kümmern, die außerhalb ihres engern Wirkungs¬
kreises wohnten, lag ihnen fern. Die nationalen Schranken hatte dann wohl
die Verschmelzung aller Kulturstaaten zu dem einen römischen orbis törrarum
durchbrochen, sodaß namentlich den Stoikern das Pauliuische „weder Grieche
noch Barbar" geläufig war, nur daß sie: „sondern Mensch" fortfuhren, nicht:
„sondern Christ"; aber daß man verpflichtet sei, diesen Mitmenschen das Heil
zu bringen, auch wenn man in keiner verwandtschaftlichen oder sonst ver¬
pflichtenden Beziehung zu ihnen stand, davon wußten sie nichts. Erst Christus
hat jene Liebe zu den Seelen gebracht, die die Kirche gegründet hat, der aber
freilich als häßlicher Schatten — keine irdische Erscheinung göttlicher Kräfte
bleibt ohne häßlichen Schatten — der Fanatismus anhaftet, gegen den es
wiederum kein besseres Gegengewicht giebt, als die Beschäftigung mit den
kühlen, klaren, heitern Griechen.
Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie weit die christlichen Dogmen
von der Trinitcit, von der Person Christi, vom Teufel, von Sündenfall und vou
der Erlösung, die, wie wir bei der Betrachtung des Buches der Weisheit gesehen
haben, die Philosophie der Alten vorbereitet hatte, inwieweit sie zum Wesen des
Christentums gehören oder nur Symbole sind, Lückenbüßer sür unsre Vernunft,
die das Wesen der Welt ergründen will und es nicht vermag. Es genügt
hier festzustellen, daß das Christentum die Ergebnisse der Geistesarbeit der
Alten zusammengefaßt und allen spätern Geschlechtern zugänglich gemacht hat,
und daß es durch Gründung der Kirche die Verbreitung, Erhaltung, Fort¬
pflanzung der höchsten Güter unabhängig gemacht hat von den vergänglichen
und wandelbaren Gebilden, denen diese Aufgabe bis dahin obgelegen hatte,
den Staaten. Durch diese Leistung ist Christus in einem Sinne der Mittel¬
punkt, in einem andern Sinne der Schlußstein der Weltgeschichte geworden;
das zweite in dem Sinne, daß seit ihm für das höhere Leben der Menschen
nichts mehr gewonnen werden konnte. Alle Philosophie der christlichen Zeiten
ist nur Variation der alten Philosophie und entweder beweisende Ausführung
der christlichen Glaubenssätze oder Kampf gegen diese. Die Philosophen sind
entweder Theisten oder Atheisten, heut wie vor dreitausend Jahren; etwas
wesentlich neues erfahren wir von keinem; nen sind nur die Vervollständigungen
lückenhafter Kausalreiheu, die Anwendungen alter Wahrheiten auf neue Ver¬
hältnisse und die sich nach dem Zeitgeschmack richtende Redeweise. In der
Ethik kann erst recht nichts neues gefunden werden. Auch die Künste tonnen
nur Variationen des Alten und neue Effekte durch neue und vervollkommnete
Darstellungsmittel bieten. Am ehesten noch wird man von der Musik sagen
können, daß sie seit dem siebzehnten Jahrhundert neues geleistet habe. Die
Gedankenbewegung hat also seit Christus nicht mehr den Zweck, neues zu finden,
sondern sie ist nur um ihrer selbst willen da, weil sie das Leben der Seele
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