Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Die Bibel bei den einen natürlich reiner und vollkommner als bei den andern. Die Noch eines allerdings hat das Christentum eigentümlich, woraus sich °) Dus mögen sich Herr Szmuln und seine agrarischen Freunde merken, die über das
Fortlaufen der Arbeiter aus Ostclbien jammern; dagegen würde, wie nuszer der obigen Äußerung des Antiphon auch noch die ganze Weltgeschichte lehrt, nicht einmal die Wiedereinführung der Sklaverei helfen. Die Bibel bei den einen natürlich reiner und vollkommner als bei den andern. Die Noch eines allerdings hat das Christentum eigentümlich, woraus sich °) Dus mögen sich Herr Szmuln und seine agrarischen Freunde merken, die über das
Fortlaufen der Arbeiter aus Ostclbien jammern; dagegen würde, wie nuszer der obigen Äußerung des Antiphon auch noch die ganze Weltgeschichte lehrt, nicht einmal die Wiedereinführung der Sklaverei helfen. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0715" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227617"/> <fw type="header" place="top"> Die Bibel</fw><lb/> <p xml:id="ID_2513" prev="#ID_2512"> bei den einen natürlich reiner und vollkommner als bei den andern. Die<lb/> Griechen und Römer aber haben anch schon jene feinern sittlichen Begriffe<lb/> und Empfindungen ausgebildet, die man gewöhnlich für eigentümlich christlich<lb/> hält. Aristoteles hat freilich die Sklaverei für notwendig erklärt — wäre er<lb/> doch nicht allein Revolutionär sondern Utopist gewesen, wenn er das Gegen¬<lb/> teil gethan hätte — und sie sittlich dadurch zu rechtfertigen gesucht, daß er<lb/> einen Unterschied der natürlichen Begabung zwischen Sklaven und Freien an¬<lb/> nahm, also gerade so. wie heute einige Svzialethiker den Unterschied zwischen<lb/> den Besitzenden und Besitzlosen, den Unternehmern und den Arbeitern zu recht¬<lb/> fertigen suchen. Aber sowohl die Dichter wie die Philosophen haben gelehrt,<lb/> daß der Mensch auch im Sklaven geachtet werden müsse, und daß ein tugend¬<lb/> hafter Sklave achtuugswerter sei als ein lasterhafter Herr. Der Gedanke einer<lb/> Predigt des Chrhsvstomus, daß, wenn ein nüchterner Sklave einen trunkner<lb/> Herrn bediene, dieser der Sklave, jener der Freie sei, kehrt bei den Alten<lb/> öfter wieder, und denen, die meinen, der Sklave könne seinem Herrn keine<lb/> Wohlthat erweisen, erwidert Seneca (vo döirvüoiis 18>, sie seien des<lb/> Menschenrechts unkundig; nicht vom Stande, sondern von der Gesinnung des<lb/> Handelnden hänge die sittliche Bedeutung einer Handlung ab. Zum Urteil<lb/> über den sittlichen Charakter eines Menschen aber sind nicht einmal Hand-<lb/> lungen notwendig; denn die Gesinnung, die Absicht ist es, was den Menschen<lb/> gut oder böse macht, wie Seneca nach Kleanthes lehrt, der dreihundert Jahre<lb/> vor der Bergpredigt gelebt hat: der Mörder sei schon ein Mörder, ehe<lb/> er seine Hände mit Blut befleckt. (In derselben Schrift 5, 14.) Die Ver¬<lb/> achtung des Reichtums und des äußern Glanzes endlich, so ziemlich alles<lb/> dessen, was das Neue Testament mit dem Worte Welt bezeichnet, war etwas<lb/> ganz gewöhnliches bei den Alten. Es bleibt also der neutestamentlichen Moral<lb/> eigentlich nichts eigentümlich als die Feindesliebe; eine praktisch wertlose Eigen¬<lb/> tümlichkeit, wenigstens habe ich fie bis heute unter Christen nirgends gesunden,<lb/> Nieder im öffentlichen noch im Privatleben.</p><lb/> <p xml:id="ID_2514" next="#ID_2515"> Noch eines allerdings hat das Christentum eigentümlich, woraus sich<lb/> die Feindesliebe als theoretische Folgerung ergiebt, die Zurllckführung aller<lb/> Äußerungen des sittlichen Lebens auf die Liebe als ihren Quell. Und damit<lb/> berühren wir nun den Punkt, an dein man inne wird, daß das Christentum<lb/> keine bloße Mischung jüdisch-orieiitalisch-griechischer Weisheitslehren ist. Christus<lb/> war die verkörperte Liebe, dogmatisch gesprochen, der Mensch gewordne Gott.<lb/> Seneca hat keine Wirkung ausgeübt, denn er war zwar ein großer Philosoph<lb/> und Tugeudbold, aber zugleich ein noch größerer Wucherer. Sokrates hat eine<lb/> mächtige Wirkung ausgeübt und übt sie bis auf den heutige» Tag, denn er<lb/> lebte, was er lehrte, und gab nicht schöne Worte, sondern sich selbst. Das<lb/> schönste Zeugnis stellte ihm einer seiner Feinde, der Sophist Antiphon ans,<lb/> der ihm sagte, ein Sklave würde fortlaufen, wenn ihm sein Herr eine so harte<lb/> und entbehrungsvvlle Lebensweise zumutete/') wie sie Sokrates freiwillig<lb/> führe, worauf dieser natürlich antwortete, eben die Freiwilligkeit mache den<lb/> Unterschied. Aber des Sokrates heutige Wirksamkeit wäre, wie schon bemerkt</p><lb/> <note xml:id="FID_86" place="foot"> °) Dus mögen sich Herr Szmuln und seine agrarischen Freunde merken, die über das<lb/> Fortlaufen der Arbeiter aus Ostclbien jammern; dagegen würde, wie nuszer der obigen Äußerung<lb/> des Antiphon auch noch die ganze Weltgeschichte lehrt, nicht einmal die Wiedereinführung der<lb/> Sklaverei helfen.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0715]
Die Bibel
bei den einen natürlich reiner und vollkommner als bei den andern. Die
Griechen und Römer aber haben anch schon jene feinern sittlichen Begriffe
und Empfindungen ausgebildet, die man gewöhnlich für eigentümlich christlich
hält. Aristoteles hat freilich die Sklaverei für notwendig erklärt — wäre er
doch nicht allein Revolutionär sondern Utopist gewesen, wenn er das Gegen¬
teil gethan hätte — und sie sittlich dadurch zu rechtfertigen gesucht, daß er
einen Unterschied der natürlichen Begabung zwischen Sklaven und Freien an¬
nahm, also gerade so. wie heute einige Svzialethiker den Unterschied zwischen
den Besitzenden und Besitzlosen, den Unternehmern und den Arbeitern zu recht¬
fertigen suchen. Aber sowohl die Dichter wie die Philosophen haben gelehrt,
daß der Mensch auch im Sklaven geachtet werden müsse, und daß ein tugend¬
hafter Sklave achtuugswerter sei als ein lasterhafter Herr. Der Gedanke einer
Predigt des Chrhsvstomus, daß, wenn ein nüchterner Sklave einen trunkner
Herrn bediene, dieser der Sklave, jener der Freie sei, kehrt bei den Alten
öfter wieder, und denen, die meinen, der Sklave könne seinem Herrn keine
Wohlthat erweisen, erwidert Seneca (vo döirvüoiis 18>, sie seien des
Menschenrechts unkundig; nicht vom Stande, sondern von der Gesinnung des
Handelnden hänge die sittliche Bedeutung einer Handlung ab. Zum Urteil
über den sittlichen Charakter eines Menschen aber sind nicht einmal Hand-
lungen notwendig; denn die Gesinnung, die Absicht ist es, was den Menschen
gut oder böse macht, wie Seneca nach Kleanthes lehrt, der dreihundert Jahre
vor der Bergpredigt gelebt hat: der Mörder sei schon ein Mörder, ehe
er seine Hände mit Blut befleckt. (In derselben Schrift 5, 14.) Die Ver¬
achtung des Reichtums und des äußern Glanzes endlich, so ziemlich alles
dessen, was das Neue Testament mit dem Worte Welt bezeichnet, war etwas
ganz gewöhnliches bei den Alten. Es bleibt also der neutestamentlichen Moral
eigentlich nichts eigentümlich als die Feindesliebe; eine praktisch wertlose Eigen¬
tümlichkeit, wenigstens habe ich fie bis heute unter Christen nirgends gesunden,
Nieder im öffentlichen noch im Privatleben.
Noch eines allerdings hat das Christentum eigentümlich, woraus sich
die Feindesliebe als theoretische Folgerung ergiebt, die Zurllckführung aller
Äußerungen des sittlichen Lebens auf die Liebe als ihren Quell. Und damit
berühren wir nun den Punkt, an dein man inne wird, daß das Christentum
keine bloße Mischung jüdisch-orieiitalisch-griechischer Weisheitslehren ist. Christus
war die verkörperte Liebe, dogmatisch gesprochen, der Mensch gewordne Gott.
Seneca hat keine Wirkung ausgeübt, denn er war zwar ein großer Philosoph
und Tugeudbold, aber zugleich ein noch größerer Wucherer. Sokrates hat eine
mächtige Wirkung ausgeübt und übt sie bis auf den heutige» Tag, denn er
lebte, was er lehrte, und gab nicht schöne Worte, sondern sich selbst. Das
schönste Zeugnis stellte ihm einer seiner Feinde, der Sophist Antiphon ans,
der ihm sagte, ein Sklave würde fortlaufen, wenn ihm sein Herr eine so harte
und entbehrungsvvlle Lebensweise zumutete/') wie sie Sokrates freiwillig
führe, worauf dieser natürlich antwortete, eben die Freiwilligkeit mache den
Unterschied. Aber des Sokrates heutige Wirksamkeit wäre, wie schon bemerkt
°) Dus mögen sich Herr Szmuln und seine agrarischen Freunde merken, die über das
Fortlaufen der Arbeiter aus Ostclbien jammern; dagegen würde, wie nuszer der obigen Äußerung
des Antiphon auch noch die ganze Weltgeschichte lehrt, nicht einmal die Wiedereinführung der
Sklaverei helfen.
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