Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Sie Bibel des göttliche" Planes zu verkleinern, hat die Tübinger Schule diesen Plan In der That, nur als Leistung des forschenden Geistes betrachtet ist das Um die gewöhnliche bürgerliche Moral, die heute hie und da für den In¬ Sie Bibel des göttliche» Planes zu verkleinern, hat die Tübinger Schule diesen Plan In der That, nur als Leistung des forschenden Geistes betrachtet ist das Um die gewöhnliche bürgerliche Moral, die heute hie und da für den In¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0714" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227616"/> <fw type="header" place="top"> Sie Bibel</fw><lb/> <p xml:id="ID_2510" prev="#ID_2509"> des göttliche» Planes zu verkleinern, hat die Tübinger Schule diesen Plan<lb/> erst recht verherrlicht, indem sie die Elemente nachwies, aus denen die neu-<lb/> testamentliche Lehre zusammengeflossen ist. Ihr Irrtum bestand uur darin,<lb/> daß sie das neue Gewächs erklärt zu haben glaubte, indem sie seine Bestand¬<lb/> teile darlegte. Kein Genie fällt in dem Sinne vom Himmel, daß es nichts<lb/> von den Ergebnissen der Thätigkeit der übrigen Menschen brauchte und in sich<lb/> aufnähme; auch ein Augustin, ein Luther, ein Goethe hat im Grunde nur gesagt,<lb/> was er von andern gelernt hat, und was viele vor ihm gesagt hatten. Daß er<lb/> es noch einmal sagte, gerade zu der Zeit wo und in der Form, wie es wirksam<lb/> werden konnte, das war seine besondre Leistung und die Erfüllung eiuer uur<lb/> ihm zu teil gewordnen Sendung. Es gab viel Männer im Römischen Reich,<lb/> die — bis auf eines — ganz dasselbe hätten sagen können, was Christus<lb/> gesagt hat, und die es auch wirklich, der eine dieses, der andre jenes, gesagt<lb/> haben; aber ohne Christus und seine Kirche würde die heutige Welt nicht<lb/> einmal die Namen dieser Männer kennen, geschweige denn ihre Schriften.</p><lb/> <p xml:id="ID_2511"> In der That, nur als Leistung des forschenden Geistes betrachtet ist das<lb/> Neue Testament schon vor Christus dagewesen; es kommt nichts darin vor<lb/> über Gott, Welt und Menschheit, was nicht schon von andern gefunden worden<lb/> wäre. Der jüdischen Gedankenarbeit war die griechische parallel gegangen.<lb/> Von den großen Tragikern waren die Götter versittlicht worden, sodaß sie<lb/> mit Götzen nichts mehr gemein hatten, sondern teils als Sinnbilder, teils als<lb/> wirksame Hüter der sittlichen Ideen und Verhältnisse, der Pflichten und Tugenden<lb/> erschienen. Die Philosophen aber hatten die Welt auf eine einheitliche Ursache<lb/> zurückgeführt, die als ein vernünftiger Geist gedacht wurde. Der Gott des<lb/> Anaxagoras, des Vorrates, Plato und Aristoteles unterscheidet sich von dem<lb/> der Propheten nur durch das Fehlen jener Lebenswärme, die deren leiden¬<lb/> schaftliches Gemüt hineinlegte; in einer kühlen und klaren Atmosphäre entstanden,<lb/> war er selbst kühl und klar. Wenn das Voll im Polytheismus stecken blieb,<lb/> so lag das an dem ästhetisch-plastischen Bedürfnis der europäischen Südländer,<lb/> ihrer entschiednen Abneigung gegen Abstraktionen. Sie stecken darin bis auf<lb/> den heutigen Tag, und weder die englische Bibelgesellschaft noch Herr Trabe<lb/> und die übrigen eifrigen Evangelisatorcn werden daran etwas ändern; man<lb/> kann die einmal gegebne natürliche Konstruktion eines Einzelnen oder Volks¬<lb/> gemüth zerbrechen, aber ändern kann man sie nicht. Gleichzeitig wurde die<lb/> Idee der unsterblichen Seele ausgebildet. Ganz so wie das Neue Testament<lb/> und die spätern christlichen Mystiker lehrte Sokrates die angenehme Erscheinung<lb/> des leiblichen Menschen als Einladung auffassen, seine Seele zu lieben, und<lb/> mahnte er, vor allem die Vervollkommnung der eignen Seele anzustreben.<lb/> Ja es klingt gar nicht mehr griechisch, sondern christlich-afketisch und erinnert<lb/> an das Wort vom Auge ausreißen, wenn er einmal den Mann, der es wagt,<lb/> einen schönen Jüngling zu küssen, den verwegensten und tollkühnsten aller<lb/> Menschen und die Schönheit ein giftiges Tier nennt, das gefährlicher sei als<lb/> die Giftspinnen. Mer. Mein. 1, 3.) Ebenso bedeutet doch die Parabel von<lb/> Herakles am Scheidewege, die Sokrates benutzt, ganz dasselbe wie das Wort<lb/> Christi vom breiten Wege, der zum Verderben, und vom schmalen, der zum<lb/> Himmel führt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2512" next="#ID_2513"> Um die gewöhnliche bürgerliche Moral, die heute hie und da für den In¬<lb/> begriff des Christentums ausgegeben wird, zu finden, braucht man nicht bis<lb/> zu den Griechen hinaufzusteigen, die findet man schon bei den Naturvölkern,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0714]
Sie Bibel
des göttliche» Planes zu verkleinern, hat die Tübinger Schule diesen Plan
erst recht verherrlicht, indem sie die Elemente nachwies, aus denen die neu-
testamentliche Lehre zusammengeflossen ist. Ihr Irrtum bestand uur darin,
daß sie das neue Gewächs erklärt zu haben glaubte, indem sie seine Bestand¬
teile darlegte. Kein Genie fällt in dem Sinne vom Himmel, daß es nichts
von den Ergebnissen der Thätigkeit der übrigen Menschen brauchte und in sich
aufnähme; auch ein Augustin, ein Luther, ein Goethe hat im Grunde nur gesagt,
was er von andern gelernt hat, und was viele vor ihm gesagt hatten. Daß er
es noch einmal sagte, gerade zu der Zeit wo und in der Form, wie es wirksam
werden konnte, das war seine besondre Leistung und die Erfüllung eiuer uur
ihm zu teil gewordnen Sendung. Es gab viel Männer im Römischen Reich,
die — bis auf eines — ganz dasselbe hätten sagen können, was Christus
gesagt hat, und die es auch wirklich, der eine dieses, der andre jenes, gesagt
haben; aber ohne Christus und seine Kirche würde die heutige Welt nicht
einmal die Namen dieser Männer kennen, geschweige denn ihre Schriften.
In der That, nur als Leistung des forschenden Geistes betrachtet ist das
Neue Testament schon vor Christus dagewesen; es kommt nichts darin vor
über Gott, Welt und Menschheit, was nicht schon von andern gefunden worden
wäre. Der jüdischen Gedankenarbeit war die griechische parallel gegangen.
Von den großen Tragikern waren die Götter versittlicht worden, sodaß sie
mit Götzen nichts mehr gemein hatten, sondern teils als Sinnbilder, teils als
wirksame Hüter der sittlichen Ideen und Verhältnisse, der Pflichten und Tugenden
erschienen. Die Philosophen aber hatten die Welt auf eine einheitliche Ursache
zurückgeführt, die als ein vernünftiger Geist gedacht wurde. Der Gott des
Anaxagoras, des Vorrates, Plato und Aristoteles unterscheidet sich von dem
der Propheten nur durch das Fehlen jener Lebenswärme, die deren leiden¬
schaftliches Gemüt hineinlegte; in einer kühlen und klaren Atmosphäre entstanden,
war er selbst kühl und klar. Wenn das Voll im Polytheismus stecken blieb,
so lag das an dem ästhetisch-plastischen Bedürfnis der europäischen Südländer,
ihrer entschiednen Abneigung gegen Abstraktionen. Sie stecken darin bis auf
den heutigen Tag, und weder die englische Bibelgesellschaft noch Herr Trabe
und die übrigen eifrigen Evangelisatorcn werden daran etwas ändern; man
kann die einmal gegebne natürliche Konstruktion eines Einzelnen oder Volks¬
gemüth zerbrechen, aber ändern kann man sie nicht. Gleichzeitig wurde die
Idee der unsterblichen Seele ausgebildet. Ganz so wie das Neue Testament
und die spätern christlichen Mystiker lehrte Sokrates die angenehme Erscheinung
des leiblichen Menschen als Einladung auffassen, seine Seele zu lieben, und
mahnte er, vor allem die Vervollkommnung der eignen Seele anzustreben.
Ja es klingt gar nicht mehr griechisch, sondern christlich-afketisch und erinnert
an das Wort vom Auge ausreißen, wenn er einmal den Mann, der es wagt,
einen schönen Jüngling zu küssen, den verwegensten und tollkühnsten aller
Menschen und die Schönheit ein giftiges Tier nennt, das gefährlicher sei als
die Giftspinnen. Mer. Mein. 1, 3.) Ebenso bedeutet doch die Parabel von
Herakles am Scheidewege, die Sokrates benutzt, ganz dasselbe wie das Wort
Christi vom breiten Wege, der zum Verderben, und vom schmalen, der zum
Himmel führt.
Um die gewöhnliche bürgerliche Moral, die heute hie und da für den In¬
begriff des Christentums ausgegeben wird, zu finden, braucht man nicht bis
zu den Griechen hinaufzusteigen, die findet man schon bei den Naturvölkern,
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