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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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zeichnung der angeblichen Gegensätze, Personifizirung des Unpersönlichen und
Versinnlichung des Geistigen, zeigt, wie wenig hier von einem umgekehrten
Verhältnis die Rede sein kann. Die symbolische, metaphorische oder, wie man
es auch genannt hat, anthropozentrische Auffassung der Außenwelt ist sinn¬
lichen und geistigen Dingen gegenüber eine und dieselbe Art, sich ihrer zu be¬
mächtigen. Eine Trennung zwischen Sinnlichen und Geistigen wird noch gar
nicht gemacht; für das Jahr, die Sonnenstrahlen, den Kuhschwanz giebt es
nur eine Art der Betrachtung, und daß auf der naiven Stufe des geistigen
Volkslebens mehr Konkreta als Abstrakta, von unserm modernen Gesichtspunkt
ans gesehen, von sich reden machen, ist von vornherein klar.

Auch der andre Punkt betrifft eine Unterscheidung Meyers, die wir nicht
für förderlich für das Verständnis der fraglichen Erscheinungen halten. In
der Einleitung zu seinem Hauptkapitel "Sitte und Brauch" sagt er: "Unser
Volk behauptet energisch nicht eine bloße Analogie von Naturvorgang und
Lebensgang des Menschen, sondern glaubt fest an einen wirklichen, wenn auch
noch so wunderbaren Zusammenhang beider, was wir gewöhnlich Aberglauben
nennen. Was in der Volkspoesie nur Gleichnis, wird in der Sitte Ereignis."
Dort nur Gleichnis, hier Ereignis: diese Worte lassen der Volkspoesie nur
ein formal-ästhetisches Recht auf das, was die Volkssitte in jedem Sinne,
namentlich auch im ethischen, ihr eigen nennt. Daß Meyer recht hat, jener
Analogie zwischen Natur- und Menschenleben für die Sitte den Wert eines
Ereignisses zuzusprechen, darüber kann kein Zweifel sein, die Beispiele werden
es zeigen; aber wir nehmen denselben Wert für das Denken des Volkes, wie
es sich im Gedicht ausspricht, in Anspruch. In dem Symbol ruht die Kunst
des Volkes, d. h. sein erhöhtes Leben webt im Symbol; ob sich dieses Leben,
Empfinden und Denken in der Sprache vollzieht oder in einer Handlung der
Sitte, macht für das Verhältnis des Symbols zur bloßen Wirklichkeit keinen
Unterschied aus. Oder will Meyer "Ereignis" in seinem Satze nur im äußer¬
lichen Sinne verstanden haben? Das machen aber die bei ihm vorhergehenden
Worte wie auch das Anklingen der Faustverse unwahrscheinlich.

Wenn die Hebamme in katholischen Gegenden geweihtes Salz und Weih¬
wasser in das erste Bad des Kindes thut, wohl auch einen Rosenkranz oder ein
Geldstück, um das Kind fromm und sparsam zu machen, so ist das natürlich
nicht bloß eine gleichnisartige Handlung, sondern als wirkend, wirklich gedacht.
Darauf beruht auch ein gutes Stück der Volksheilkunde. "Hat ein kleines
Mädchen heftige Gichter, so zieht in der Pfalz der Pate rasch sein Hemde
aus und wickelt es hinein, dann wird es gesund oder stirbt rasch, und so
machts die Patin mit dem Knaben." Stark riechende Kräuter und geweihtes
Salz legt die Braut in den Schuh, um die bösen Geister fernzuhalten, Körner,
Erbsen, einige Faden Flachs und einige Pfennige, um fruchtbar und reich
zu werden. Unmittelbar aus der Wirklichkeit hervorgegangen ist eine syn-


zeichnung der angeblichen Gegensätze, Personifizirung des Unpersönlichen und
Versinnlichung des Geistigen, zeigt, wie wenig hier von einem umgekehrten
Verhältnis die Rede sein kann. Die symbolische, metaphorische oder, wie man
es auch genannt hat, anthropozentrische Auffassung der Außenwelt ist sinn¬
lichen und geistigen Dingen gegenüber eine und dieselbe Art, sich ihrer zu be¬
mächtigen. Eine Trennung zwischen Sinnlichen und Geistigen wird noch gar
nicht gemacht; für das Jahr, die Sonnenstrahlen, den Kuhschwanz giebt es
nur eine Art der Betrachtung, und daß auf der naiven Stufe des geistigen
Volkslebens mehr Konkreta als Abstrakta, von unserm modernen Gesichtspunkt
ans gesehen, von sich reden machen, ist von vornherein klar.

Auch der andre Punkt betrifft eine Unterscheidung Meyers, die wir nicht
für förderlich für das Verständnis der fraglichen Erscheinungen halten. In
der Einleitung zu seinem Hauptkapitel „Sitte und Brauch" sagt er: „Unser
Volk behauptet energisch nicht eine bloße Analogie von Naturvorgang und
Lebensgang des Menschen, sondern glaubt fest an einen wirklichen, wenn auch
noch so wunderbaren Zusammenhang beider, was wir gewöhnlich Aberglauben
nennen. Was in der Volkspoesie nur Gleichnis, wird in der Sitte Ereignis."
Dort nur Gleichnis, hier Ereignis: diese Worte lassen der Volkspoesie nur
ein formal-ästhetisches Recht auf das, was die Volkssitte in jedem Sinne,
namentlich auch im ethischen, ihr eigen nennt. Daß Meyer recht hat, jener
Analogie zwischen Natur- und Menschenleben für die Sitte den Wert eines
Ereignisses zuzusprechen, darüber kann kein Zweifel sein, die Beispiele werden
es zeigen; aber wir nehmen denselben Wert für das Denken des Volkes, wie
es sich im Gedicht ausspricht, in Anspruch. In dem Symbol ruht die Kunst
des Volkes, d. h. sein erhöhtes Leben webt im Symbol; ob sich dieses Leben,
Empfinden und Denken in der Sprache vollzieht oder in einer Handlung der
Sitte, macht für das Verhältnis des Symbols zur bloßen Wirklichkeit keinen
Unterschied aus. Oder will Meyer „Ereignis" in seinem Satze nur im äußer¬
lichen Sinne verstanden haben? Das machen aber die bei ihm vorhergehenden
Worte wie auch das Anklingen der Faustverse unwahrscheinlich.

Wenn die Hebamme in katholischen Gegenden geweihtes Salz und Weih¬
wasser in das erste Bad des Kindes thut, wohl auch einen Rosenkranz oder ein
Geldstück, um das Kind fromm und sparsam zu machen, so ist das natürlich
nicht bloß eine gleichnisartige Handlung, sondern als wirkend, wirklich gedacht.
Darauf beruht auch ein gutes Stück der Volksheilkunde. „Hat ein kleines
Mädchen heftige Gichter, so zieht in der Pfalz der Pate rasch sein Hemde
aus und wickelt es hinein, dann wird es gesund oder stirbt rasch, und so
machts die Patin mit dem Knaben." Stark riechende Kräuter und geweihtes
Salz legt die Braut in den Schuh, um die bösen Geister fernzuhalten, Körner,
Erbsen, einige Faden Flachs und einige Pfennige, um fruchtbar und reich
zu werden. Unmittelbar aus der Wirklichkeit hervorgegangen ist eine syn-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/703>, abgerufen am 08.01.2025.