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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Von der deutschen Volksseele

Schimmer vortrefflichen Deutschen Volkskunde,") unser Geleitsmann bei
diesen Bemerkungen, auch für das deutsche Märchen als eigentümlich deutsch
in Anspruch nimmt, das Gepräge humoristisch-inniger Gemütlichkeit, das es
auch internationalen Stoffen auf unserm Boden aufgedrückt hat. Ähnliches
unterscheidet die deutsche Ballade von der andrer Nationen. "Die epische
Ruhe des serbischen Balladenstils, die Würde des spanischen, die Leidenschaft
des italienischen und die Anmut des französischen erreicht der deutsche nicht.
Aber seine Sprunghaftigkeit steigert sein dramatisches Leben, und tiefes Natur¬
gefühl und innige, wenn auch derben Ausdruck nicht scheuerte Liebe durch¬
dringen das Ganze. Dazu bemerkt man oft den Hang zu süßer Spielerei mit
phantastischen Bildern, zu einem ähnlich grübelnden "Traumwerk," mit dem
uns die gewaltigen Radirungen Dürers, wie seine Melancholie, so zauberhaft
umspinnen."

Was die beiden letzten dieser Sätze schön sagen, kann man in einem be¬
zeichnenden Worte für die innerste Lebensauffassung des deutschen Volkes zu¬
sammenfassen: es lebt und empfindet, glaubt und denkt -- alles noch eins --
im Symbol. Fest mit der Wirklichkeit verwachsene Symbole sind die uns phan¬
tastisch erscheinenden Bilder, Liebe ist die Trägerin der ganzen symbolischen
Naturauffassung, und ans der symbolischen Art des Lebens und Denkens er¬
klärt sich auch die Sprunghaftigkeit oder bester Angenblickhaftigkeit und Zeit-
losigkeit der poetischen Handlung (wie in der Sage, während das Märchen
schon einem spätern, epischen Denken entspricht) und vollends jene andre Sprung¬
haftigkeit, die, nach der modernen Auffassung, in der gewaltsam raschen Über-
brückuug der Kluft zwischen dem Naturbild und dem menschlichen Ereignis liegt.

Diesem Symbol, dessen einheimischer Charakter nur mit dem Gefühl
wiederzuerkennen ist, wollen wir zunächst noch etwas nachgehen, doch uns vorher
über zwei dazu gehörende Punkte mit Meyer auseinandersetzen. Bei der
Besprechung von zwei uralten gemeingermanischen Rätseln, dem bekannten vom
Vogel federlos usw. und der in schwäbischer Mundart mitgeteilten Charakte¬
ristik der Kuh

sagt Meyer: "Wie schon diese paar alten Beispiele zeigen, hat das Rätsel den
innersten Trieb, das Unpersönliche zu persvuifiziren, das Gewöhnliche zu ver¬
schönen, das Sinnliche zu vergeistigen. Seltner kommt es umgekehrt zu einer
Versinnlichung des Geistigen und Abstrakten, wie etwa des "Gedankens" und
etwa noch "Gottes" und des "Jahres."" Schon die von ihm gebrauchte Be-



") Straßburg, Karl E> Trübner, 18W. Der Verfasser ist Professor an der Universität
Areibnrg i, B,
Von der deutschen Volksseele

Schimmer vortrefflichen Deutschen Volkskunde,") unser Geleitsmann bei
diesen Bemerkungen, auch für das deutsche Märchen als eigentümlich deutsch
in Anspruch nimmt, das Gepräge humoristisch-inniger Gemütlichkeit, das es
auch internationalen Stoffen auf unserm Boden aufgedrückt hat. Ähnliches
unterscheidet die deutsche Ballade von der andrer Nationen. „Die epische
Ruhe des serbischen Balladenstils, die Würde des spanischen, die Leidenschaft
des italienischen und die Anmut des französischen erreicht der deutsche nicht.
Aber seine Sprunghaftigkeit steigert sein dramatisches Leben, und tiefes Natur¬
gefühl und innige, wenn auch derben Ausdruck nicht scheuerte Liebe durch¬
dringen das Ganze. Dazu bemerkt man oft den Hang zu süßer Spielerei mit
phantastischen Bildern, zu einem ähnlich grübelnden »Traumwerk,« mit dem
uns die gewaltigen Radirungen Dürers, wie seine Melancholie, so zauberhaft
umspinnen."

Was die beiden letzten dieser Sätze schön sagen, kann man in einem be¬
zeichnenden Worte für die innerste Lebensauffassung des deutschen Volkes zu¬
sammenfassen: es lebt und empfindet, glaubt und denkt — alles noch eins —
im Symbol. Fest mit der Wirklichkeit verwachsene Symbole sind die uns phan¬
tastisch erscheinenden Bilder, Liebe ist die Trägerin der ganzen symbolischen
Naturauffassung, und ans der symbolischen Art des Lebens und Denkens er¬
klärt sich auch die Sprunghaftigkeit oder bester Angenblickhaftigkeit und Zeit-
losigkeit der poetischen Handlung (wie in der Sage, während das Märchen
schon einem spätern, epischen Denken entspricht) und vollends jene andre Sprung¬
haftigkeit, die, nach der modernen Auffassung, in der gewaltsam raschen Über-
brückuug der Kluft zwischen dem Naturbild und dem menschlichen Ereignis liegt.

Diesem Symbol, dessen einheimischer Charakter nur mit dem Gefühl
wiederzuerkennen ist, wollen wir zunächst noch etwas nachgehen, doch uns vorher
über zwei dazu gehörende Punkte mit Meyer auseinandersetzen. Bei der
Besprechung von zwei uralten gemeingermanischen Rätseln, dem bekannten vom
Vogel federlos usw. und der in schwäbischer Mundart mitgeteilten Charakte¬
ristik der Kuh

sagt Meyer: „Wie schon diese paar alten Beispiele zeigen, hat das Rätsel den
innersten Trieb, das Unpersönliche zu persvuifiziren, das Gewöhnliche zu ver¬
schönen, das Sinnliche zu vergeistigen. Seltner kommt es umgekehrt zu einer
Versinnlichung des Geistigen und Abstrakten, wie etwa des »Gedankens« und
etwa noch »Gottes« und des »Jahres.«" Schon die von ihm gebrauchte Be-



") Straßburg, Karl E> Trübner, 18W. Der Verfasser ist Professor an der Universität
Areibnrg i, B,
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[0702] Von der deutschen Volksseele Schimmer vortrefflichen Deutschen Volkskunde,") unser Geleitsmann bei diesen Bemerkungen, auch für das deutsche Märchen als eigentümlich deutsch in Anspruch nimmt, das Gepräge humoristisch-inniger Gemütlichkeit, das es auch internationalen Stoffen auf unserm Boden aufgedrückt hat. Ähnliches unterscheidet die deutsche Ballade von der andrer Nationen. „Die epische Ruhe des serbischen Balladenstils, die Würde des spanischen, die Leidenschaft des italienischen und die Anmut des französischen erreicht der deutsche nicht. Aber seine Sprunghaftigkeit steigert sein dramatisches Leben, und tiefes Natur¬ gefühl und innige, wenn auch derben Ausdruck nicht scheuerte Liebe durch¬ dringen das Ganze. Dazu bemerkt man oft den Hang zu süßer Spielerei mit phantastischen Bildern, zu einem ähnlich grübelnden »Traumwerk,« mit dem uns die gewaltigen Radirungen Dürers, wie seine Melancholie, so zauberhaft umspinnen." Was die beiden letzten dieser Sätze schön sagen, kann man in einem be¬ zeichnenden Worte für die innerste Lebensauffassung des deutschen Volkes zu¬ sammenfassen: es lebt und empfindet, glaubt und denkt — alles noch eins — im Symbol. Fest mit der Wirklichkeit verwachsene Symbole sind die uns phan¬ tastisch erscheinenden Bilder, Liebe ist die Trägerin der ganzen symbolischen Naturauffassung, und ans der symbolischen Art des Lebens und Denkens er¬ klärt sich auch die Sprunghaftigkeit oder bester Angenblickhaftigkeit und Zeit- losigkeit der poetischen Handlung (wie in der Sage, während das Märchen schon einem spätern, epischen Denken entspricht) und vollends jene andre Sprung¬ haftigkeit, die, nach der modernen Auffassung, in der gewaltsam raschen Über- brückuug der Kluft zwischen dem Naturbild und dem menschlichen Ereignis liegt. Diesem Symbol, dessen einheimischer Charakter nur mit dem Gefühl wiederzuerkennen ist, wollen wir zunächst noch etwas nachgehen, doch uns vorher über zwei dazu gehörende Punkte mit Meyer auseinandersetzen. Bei der Besprechung von zwei uralten gemeingermanischen Rätseln, dem bekannten vom Vogel federlos usw. und der in schwäbischer Mundart mitgeteilten Charakte¬ ristik der Kuh sagt Meyer: „Wie schon diese paar alten Beispiele zeigen, hat das Rätsel den innersten Trieb, das Unpersönliche zu persvuifiziren, das Gewöhnliche zu ver¬ schönen, das Sinnliche zu vergeistigen. Seltner kommt es umgekehrt zu einer Versinnlichung des Geistigen und Abstrakten, wie etwa des »Gedankens« und etwa noch »Gottes« und des »Jahres.«" Schon die von ihm gebrauchte Be- ") Straßburg, Karl E> Trübner, 18W. Der Verfasser ist Professor an der Universität Areibnrg i, B,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/702>, abgerufen am 07.01.2025.