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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Hundert Jahre Allgemeine Zeitung

rung nach dem Quadratmaß), L. Schneider (der ehemalige Schauspieler, dann
Vorleser Friedrich Wilhelms IV., versorgte zugängliche Zeitungen mit russischen
Nachrichten), Hehn, Corviu, Savoye (um die Zeit des Hambacher Festes
Zeitungsredakteur in der Pfalz, dann in Frankreich naturalisirt und zum Ab¬
geordneten gewählt, nach dem 2. Dezember nach England geflüchtet, Übersetzer von
V. Hugos "Äxolövn 1s?stip, Leop. Hafner (der 1848 in Wien die Republik aus¬
rief, später in Paris und Brüssel tapferer Kämpfer gegen den Bonapartismus).
Zwei Professoren der Staatswissenschaften bringen eine komische Anekdote in
Erinnerung. Lorenz Stein wurde nach der sogenannten Pazifikation der Elb-
herzogtümer seiner Professur in Kiel enthoben, weil er bei dem Ausbruche des
Krieges einen dänischen Orden zurückgeschickt hatte. Kollegen von ihm in
gleicher Lage fanden bald anderswo Stellung, er aber galt für gefährlich, weil
er das erste deutsche Werk über den französischen Sozialismus geschrieben hatte.
Der Minister Brück war vorurteilsfrei genug, Steins Anstellung in Wien zu
befürworten, wo er später recht unglückliche Versuche gemacht haben soll, seine
nationalökonomischen Theorien als Eisenbahndirektor u. dergl. zu erproben.
Auch die gegen Cotta, den er zur Verlegung der Augsburgerin nach Wien
zu bestimmen suchte, geäußerte Voraussage, daß künftig auch keine große Uni¬
versität werde an einem kleinen Orte bestehen können, ist nicht in Erfüllung
gegangen. Im Winter 1871 erhielt er, wie erzählt worden ist, von seinem
aus Württemberg berufnen Kollegen Alb. Schäffle einen Brief mit der Bitte,
dessen Vorlesungen fortzusetzen, weil der Schreiber durch seine Ernennung zum
Minister daran verhindert sei. Der höchlich überraschte Stein schickte den
Brief nebst einem rücksichtsvollen Begleitschreiben an Frau Schäffle, um sie
darauf aufmerksam zu machen, daß der an Überarbeitung leidende Mann offenbar
ärztlichen Rates bedürfe. Die Sache hatte indessen ihre Nichtigkeit, Schäffle
wurde Mitglied des sogenannten Faschingsministeriums; und so kurz und wenig
ruhmvoll seine staatsmünnische Thätigkeit war, gewährt sie ihm doch noch jetzt
die Befriedigung, sich auf den Titeln seiner Bücher als k. k. Minister a. D.
vorzustellen.

Noch dürfen einige sonderbare Gestalten nicht mit Schweigen übergangen
werden. Zu diesen gehört der Münchner Fr. W. Bruckbräu, sonst nur als
Verfasser schlüpfriger Romane bekannt, "später ernsthafterer Kummer am
Parnaß und 1859 ein tapferer Streiter gegen Frankreich."

Nach der Julirevolution lieferte Dr. Karl Weil in Stuttgart "sehr ab¬
schreckende Gemälde der französischen und der spanischen Zustände," für die er
gern "müßige und herumstreichende Individuen" verantwortlich machte. Dieser
Weil gab in den vierziger Jahren in Stuttgart "Konstitutionelle Jahrbücher"
heraus, und als die Altliberalen in Berlin als Gegengewicht gegen die dortige
demokratische Presse eine "Konstitutionelle Zeitung" ins Leben riefen, glaubten
sie in ihm die beste Kraft für die Leitung des Blattes zu gewinnen. Wie


Hundert Jahre Allgemeine Zeitung

rung nach dem Quadratmaß), L. Schneider (der ehemalige Schauspieler, dann
Vorleser Friedrich Wilhelms IV., versorgte zugängliche Zeitungen mit russischen
Nachrichten), Hehn, Corviu, Savoye (um die Zeit des Hambacher Festes
Zeitungsredakteur in der Pfalz, dann in Frankreich naturalisirt und zum Ab¬
geordneten gewählt, nach dem 2. Dezember nach England geflüchtet, Übersetzer von
V. Hugos «Äxolövn 1s?stip, Leop. Hafner (der 1848 in Wien die Republik aus¬
rief, später in Paris und Brüssel tapferer Kämpfer gegen den Bonapartismus).
Zwei Professoren der Staatswissenschaften bringen eine komische Anekdote in
Erinnerung. Lorenz Stein wurde nach der sogenannten Pazifikation der Elb-
herzogtümer seiner Professur in Kiel enthoben, weil er bei dem Ausbruche des
Krieges einen dänischen Orden zurückgeschickt hatte. Kollegen von ihm in
gleicher Lage fanden bald anderswo Stellung, er aber galt für gefährlich, weil
er das erste deutsche Werk über den französischen Sozialismus geschrieben hatte.
Der Minister Brück war vorurteilsfrei genug, Steins Anstellung in Wien zu
befürworten, wo er später recht unglückliche Versuche gemacht haben soll, seine
nationalökonomischen Theorien als Eisenbahndirektor u. dergl. zu erproben.
Auch die gegen Cotta, den er zur Verlegung der Augsburgerin nach Wien
zu bestimmen suchte, geäußerte Voraussage, daß künftig auch keine große Uni¬
versität werde an einem kleinen Orte bestehen können, ist nicht in Erfüllung
gegangen. Im Winter 1871 erhielt er, wie erzählt worden ist, von seinem
aus Württemberg berufnen Kollegen Alb. Schäffle einen Brief mit der Bitte,
dessen Vorlesungen fortzusetzen, weil der Schreiber durch seine Ernennung zum
Minister daran verhindert sei. Der höchlich überraschte Stein schickte den
Brief nebst einem rücksichtsvollen Begleitschreiben an Frau Schäffle, um sie
darauf aufmerksam zu machen, daß der an Überarbeitung leidende Mann offenbar
ärztlichen Rates bedürfe. Die Sache hatte indessen ihre Nichtigkeit, Schäffle
wurde Mitglied des sogenannten Faschingsministeriums; und so kurz und wenig
ruhmvoll seine staatsmünnische Thätigkeit war, gewährt sie ihm doch noch jetzt
die Befriedigung, sich auf den Titeln seiner Bücher als k. k. Minister a. D.
vorzustellen.

Noch dürfen einige sonderbare Gestalten nicht mit Schweigen übergangen
werden. Zu diesen gehört der Münchner Fr. W. Bruckbräu, sonst nur als
Verfasser schlüpfriger Romane bekannt, „später ernsthafterer Kummer am
Parnaß und 1859 ein tapferer Streiter gegen Frankreich."

Nach der Julirevolution lieferte Dr. Karl Weil in Stuttgart „sehr ab¬
schreckende Gemälde der französischen und der spanischen Zustände," für die er
gern „müßige und herumstreichende Individuen" verantwortlich machte. Dieser
Weil gab in den vierziger Jahren in Stuttgart „Konstitutionelle Jahrbücher"
heraus, und als die Altliberalen in Berlin als Gegengewicht gegen die dortige
demokratische Presse eine „Konstitutionelle Zeitung" ins Leben riefen, glaubten
sie in ihm die beste Kraft für die Leitung des Blattes zu gewinnen. Wie


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[0699] Hundert Jahre Allgemeine Zeitung rung nach dem Quadratmaß), L. Schneider (der ehemalige Schauspieler, dann Vorleser Friedrich Wilhelms IV., versorgte zugängliche Zeitungen mit russischen Nachrichten), Hehn, Corviu, Savoye (um die Zeit des Hambacher Festes Zeitungsredakteur in der Pfalz, dann in Frankreich naturalisirt und zum Ab¬ geordneten gewählt, nach dem 2. Dezember nach England geflüchtet, Übersetzer von V. Hugos «Äxolövn 1s?stip, Leop. Hafner (der 1848 in Wien die Republik aus¬ rief, später in Paris und Brüssel tapferer Kämpfer gegen den Bonapartismus). Zwei Professoren der Staatswissenschaften bringen eine komische Anekdote in Erinnerung. Lorenz Stein wurde nach der sogenannten Pazifikation der Elb- herzogtümer seiner Professur in Kiel enthoben, weil er bei dem Ausbruche des Krieges einen dänischen Orden zurückgeschickt hatte. Kollegen von ihm in gleicher Lage fanden bald anderswo Stellung, er aber galt für gefährlich, weil er das erste deutsche Werk über den französischen Sozialismus geschrieben hatte. Der Minister Brück war vorurteilsfrei genug, Steins Anstellung in Wien zu befürworten, wo er später recht unglückliche Versuche gemacht haben soll, seine nationalökonomischen Theorien als Eisenbahndirektor u. dergl. zu erproben. Auch die gegen Cotta, den er zur Verlegung der Augsburgerin nach Wien zu bestimmen suchte, geäußerte Voraussage, daß künftig auch keine große Uni¬ versität werde an einem kleinen Orte bestehen können, ist nicht in Erfüllung gegangen. Im Winter 1871 erhielt er, wie erzählt worden ist, von seinem aus Württemberg berufnen Kollegen Alb. Schäffle einen Brief mit der Bitte, dessen Vorlesungen fortzusetzen, weil der Schreiber durch seine Ernennung zum Minister daran verhindert sei. Der höchlich überraschte Stein schickte den Brief nebst einem rücksichtsvollen Begleitschreiben an Frau Schäffle, um sie darauf aufmerksam zu machen, daß der an Überarbeitung leidende Mann offenbar ärztlichen Rates bedürfe. Die Sache hatte indessen ihre Nichtigkeit, Schäffle wurde Mitglied des sogenannten Faschingsministeriums; und so kurz und wenig ruhmvoll seine staatsmünnische Thätigkeit war, gewährt sie ihm doch noch jetzt die Befriedigung, sich auf den Titeln seiner Bücher als k. k. Minister a. D. vorzustellen. Noch dürfen einige sonderbare Gestalten nicht mit Schweigen übergangen werden. Zu diesen gehört der Münchner Fr. W. Bruckbräu, sonst nur als Verfasser schlüpfriger Romane bekannt, „später ernsthafterer Kummer am Parnaß und 1859 ein tapferer Streiter gegen Frankreich." Nach der Julirevolution lieferte Dr. Karl Weil in Stuttgart „sehr ab¬ schreckende Gemälde der französischen und der spanischen Zustände," für die er gern „müßige und herumstreichende Individuen" verantwortlich machte. Dieser Weil gab in den vierziger Jahren in Stuttgart „Konstitutionelle Jahrbücher" heraus, und als die Altliberalen in Berlin als Gegengewicht gegen die dortige demokratische Presse eine „Konstitutionelle Zeitung" ins Leben riefen, glaubten sie in ihm die beste Kraft für die Leitung des Blattes zu gewinnen. Wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/699>, abgerufen am 08.01.2025.