Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Einführung der Deportation in das deutsche Strafrecht

erreichen schien, die Deportation nicht nur im Prinzip -- wie man auch heute
noch ziemlich allgemein zuzugestehen geneigt ist --, sondern auch in der Praxis
als das eigentlich ideale Strafvollzugsverfahren in den Augen verständiger
Staatsmänner und Juristen erschien. Die spätern Jahrzehnte haben in dieser
Hinsicht eine starke Ernüchterung hervorgerufen. Als nach kaum funfzigjährigen
Bestehen auf stürmisches Verlangen der ganzen freien Bevölkerung von Neusüd¬
wales (durch Akte vom 20. Mai 1840) die Strafe wieder abgeschafft war, und
als in der Kapkolonie, die nun dafür ins Auge gefaßt worden war, bei Ankunft
der ersten Schiffsladung von Sträflingen geradezu eine Empörung gegen die
Regierung ausbrach, sodaß das Schiff von London aus nach Vandiemensland
geschickt wurde (1843/49), hat sich selbst England genötigt gesehen, die eigentliche
Deportation aufzugeben. Das Wesen dieser alten Deportation können wir am
besten mit dem deutschen Worte Zwangsansiedlung bezeichnen. Die Geschichte
der Kolonisation in neuerer Zeit lehrt also, daß sich diese Zwangsansiedluug
nicht bewährt hat. Was dann nach 1850 in England an die Stelle jener
alten Deportation trat, die zuerst (unter Karl II. und Jakob II.) nach West¬
indien und Nordamerika geleitet wurde, das können wir nur bezeichnen teils
als Unterbringung von Sträflingen in Zuchthäusern, die außerhalb Eng¬
lands oder Europas liegen, teils als freie Ansiedlung, die nicht mehr als
Strafe, sondern als Belohnung für gutes Verhalten uach einer aus diesem
Grunde abgekürzten Strafzeit zu betrachten ist. Einen ganz andern Charakter
als jene alte englische trägt die neuere französische Deportation. Bei dieser
herrscht der Straf-, genauer ausgedrückt der Sicherungsgedanke vor, während in
der englischen der Besiedlungszweck der ursprüngliche und immer vorherrschende
gewesen ist. Beide Zwecke, der der Strafe und der der Besiedlung liegen in der
Geschichte der Deportation aber so nahe zusammen, daß ihre Vermischung sehr
natürlich erscheint; und doch bildet gerade diese den Hauptgrund, weshalb man
bei der mit Recht immer wieder aufgeworfnen Frage über die Zweckmäßigkeit
dieser Strafe zu falschen Ansichten und Vorschlägen gelangen muß.

Wir können es daher für die Klärung dieser Frage nur als vorteilhaft
betrachten, wenn einer ihrer eifrigsten und unermüdlichsten Verfechter, Professor
Friedrich Felix Brück in Breslau, in seiner neuesten Schrift hierüber: Die
gesetzliche Einführung der Deportation im Deutschen Reich (Breslau,
1897) namentlich die juristisch-technische Seite der Frage ins Auge faßt und
erörtert, während er mit seiner frühern Schrift: Neudeutschland und seine
Pioniere (Breslau, 1896) hauptsächlich die koloniale Seite berücksichtigt hatte.
Freilich sieht der Verfasser in seinem Eifer für die von ihm lebhaft vertretne
Sache wohl zu rosig, wenn er sich jetzt auf die juristisch-technische Erörterung
deshalb beschränken zu können meint, weil über die durchschlagende Kraft der
für die andre Seite aufgeführten Gründe kein Zweifel mehr sei. Im Gegen¬
teil, wir fürchten, daß gerade von den Kolonialfreunden gegen einen etwaigen
Versuch, seine Deportationsvorschlüge zu verwirklichen, der entschiedenste Wider-


Die Einführung der Deportation in das deutsche Strafrecht

erreichen schien, die Deportation nicht nur im Prinzip — wie man auch heute
noch ziemlich allgemein zuzugestehen geneigt ist —, sondern auch in der Praxis
als das eigentlich ideale Strafvollzugsverfahren in den Augen verständiger
Staatsmänner und Juristen erschien. Die spätern Jahrzehnte haben in dieser
Hinsicht eine starke Ernüchterung hervorgerufen. Als nach kaum funfzigjährigen
Bestehen auf stürmisches Verlangen der ganzen freien Bevölkerung von Neusüd¬
wales (durch Akte vom 20. Mai 1840) die Strafe wieder abgeschafft war, und
als in der Kapkolonie, die nun dafür ins Auge gefaßt worden war, bei Ankunft
der ersten Schiffsladung von Sträflingen geradezu eine Empörung gegen die
Regierung ausbrach, sodaß das Schiff von London aus nach Vandiemensland
geschickt wurde (1843/49), hat sich selbst England genötigt gesehen, die eigentliche
Deportation aufzugeben. Das Wesen dieser alten Deportation können wir am
besten mit dem deutschen Worte Zwangsansiedlung bezeichnen. Die Geschichte
der Kolonisation in neuerer Zeit lehrt also, daß sich diese Zwangsansiedluug
nicht bewährt hat. Was dann nach 1850 in England an die Stelle jener
alten Deportation trat, die zuerst (unter Karl II. und Jakob II.) nach West¬
indien und Nordamerika geleitet wurde, das können wir nur bezeichnen teils
als Unterbringung von Sträflingen in Zuchthäusern, die außerhalb Eng¬
lands oder Europas liegen, teils als freie Ansiedlung, die nicht mehr als
Strafe, sondern als Belohnung für gutes Verhalten uach einer aus diesem
Grunde abgekürzten Strafzeit zu betrachten ist. Einen ganz andern Charakter
als jene alte englische trägt die neuere französische Deportation. Bei dieser
herrscht der Straf-, genauer ausgedrückt der Sicherungsgedanke vor, während in
der englischen der Besiedlungszweck der ursprüngliche und immer vorherrschende
gewesen ist. Beide Zwecke, der der Strafe und der der Besiedlung liegen in der
Geschichte der Deportation aber so nahe zusammen, daß ihre Vermischung sehr
natürlich erscheint; und doch bildet gerade diese den Hauptgrund, weshalb man
bei der mit Recht immer wieder aufgeworfnen Frage über die Zweckmäßigkeit
dieser Strafe zu falschen Ansichten und Vorschlägen gelangen muß.

Wir können es daher für die Klärung dieser Frage nur als vorteilhaft
betrachten, wenn einer ihrer eifrigsten und unermüdlichsten Verfechter, Professor
Friedrich Felix Brück in Breslau, in seiner neuesten Schrift hierüber: Die
gesetzliche Einführung der Deportation im Deutschen Reich (Breslau,
1897) namentlich die juristisch-technische Seite der Frage ins Auge faßt und
erörtert, während er mit seiner frühern Schrift: Neudeutschland und seine
Pioniere (Breslau, 1896) hauptsächlich die koloniale Seite berücksichtigt hatte.
Freilich sieht der Verfasser in seinem Eifer für die von ihm lebhaft vertretne
Sache wohl zu rosig, wenn er sich jetzt auf die juristisch-technische Erörterung
deshalb beschränken zu können meint, weil über die durchschlagende Kraft der
für die andre Seite aufgeführten Gründe kein Zweifel mehr sei. Im Gegen¬
teil, wir fürchten, daß gerade von den Kolonialfreunden gegen einen etwaigen
Versuch, seine Deportationsvorschlüge zu verwirklichen, der entschiedenste Wider-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0678" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227580"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Einführung der Deportation in das deutsche Strafrecht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2419" prev="#ID_2418"> erreichen schien, die Deportation nicht nur im Prinzip &#x2014; wie man auch heute<lb/>
noch ziemlich allgemein zuzugestehen geneigt ist &#x2014;, sondern auch in der Praxis<lb/>
als das eigentlich ideale Strafvollzugsverfahren in den Augen verständiger<lb/>
Staatsmänner und Juristen erschien. Die spätern Jahrzehnte haben in dieser<lb/>
Hinsicht eine starke Ernüchterung hervorgerufen. Als nach kaum funfzigjährigen<lb/>
Bestehen auf stürmisches Verlangen der ganzen freien Bevölkerung von Neusüd¬<lb/>
wales (durch Akte vom 20. Mai 1840) die Strafe wieder abgeschafft war, und<lb/>
als in der Kapkolonie, die nun dafür ins Auge gefaßt worden war, bei Ankunft<lb/>
der ersten Schiffsladung von Sträflingen geradezu eine Empörung gegen die<lb/>
Regierung ausbrach, sodaß das Schiff von London aus nach Vandiemensland<lb/>
geschickt wurde (1843/49), hat sich selbst England genötigt gesehen, die eigentliche<lb/>
Deportation aufzugeben. Das Wesen dieser alten Deportation können wir am<lb/>
besten mit dem deutschen Worte Zwangsansiedlung bezeichnen. Die Geschichte<lb/>
der Kolonisation in neuerer Zeit lehrt also, daß sich diese Zwangsansiedluug<lb/>
nicht bewährt hat. Was dann nach 1850 in England an die Stelle jener<lb/>
alten Deportation trat, die zuerst (unter Karl II. und Jakob II.) nach West¬<lb/>
indien und Nordamerika geleitet wurde, das können wir nur bezeichnen teils<lb/>
als Unterbringung von Sträflingen in Zuchthäusern, die außerhalb Eng¬<lb/>
lands oder Europas liegen, teils als freie Ansiedlung, die nicht mehr als<lb/>
Strafe, sondern als Belohnung für gutes Verhalten uach einer aus diesem<lb/>
Grunde abgekürzten Strafzeit zu betrachten ist. Einen ganz andern Charakter<lb/>
als jene alte englische trägt die neuere französische Deportation. Bei dieser<lb/>
herrscht der Straf-, genauer ausgedrückt der Sicherungsgedanke vor, während in<lb/>
der englischen der Besiedlungszweck der ursprüngliche und immer vorherrschende<lb/>
gewesen ist. Beide Zwecke, der der Strafe und der der Besiedlung liegen in der<lb/>
Geschichte der Deportation aber so nahe zusammen, daß ihre Vermischung sehr<lb/>
natürlich erscheint; und doch bildet gerade diese den Hauptgrund, weshalb man<lb/>
bei der mit Recht immer wieder aufgeworfnen Frage über die Zweckmäßigkeit<lb/>
dieser Strafe zu falschen Ansichten und Vorschlägen gelangen muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2420" next="#ID_2421"> Wir können es daher für die Klärung dieser Frage nur als vorteilhaft<lb/>
betrachten, wenn einer ihrer eifrigsten und unermüdlichsten Verfechter, Professor<lb/>
Friedrich Felix Brück in Breslau, in seiner neuesten Schrift hierüber: Die<lb/>
gesetzliche Einführung der Deportation im Deutschen Reich (Breslau,<lb/>
1897) namentlich die juristisch-technische Seite der Frage ins Auge faßt und<lb/>
erörtert, während er mit seiner frühern Schrift: Neudeutschland und seine<lb/>
Pioniere (Breslau, 1896) hauptsächlich die koloniale Seite berücksichtigt hatte.<lb/>
Freilich sieht der Verfasser in seinem Eifer für die von ihm lebhaft vertretne<lb/>
Sache wohl zu rosig, wenn er sich jetzt auf die juristisch-technische Erörterung<lb/>
deshalb beschränken zu können meint, weil über die durchschlagende Kraft der<lb/>
für die andre Seite aufgeführten Gründe kein Zweifel mehr sei. Im Gegen¬<lb/>
teil, wir fürchten, daß gerade von den Kolonialfreunden gegen einen etwaigen<lb/>
Versuch, seine Deportationsvorschlüge zu verwirklichen, der entschiedenste Wider-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0678] Die Einführung der Deportation in das deutsche Strafrecht erreichen schien, die Deportation nicht nur im Prinzip — wie man auch heute noch ziemlich allgemein zuzugestehen geneigt ist —, sondern auch in der Praxis als das eigentlich ideale Strafvollzugsverfahren in den Augen verständiger Staatsmänner und Juristen erschien. Die spätern Jahrzehnte haben in dieser Hinsicht eine starke Ernüchterung hervorgerufen. Als nach kaum funfzigjährigen Bestehen auf stürmisches Verlangen der ganzen freien Bevölkerung von Neusüd¬ wales (durch Akte vom 20. Mai 1840) die Strafe wieder abgeschafft war, und als in der Kapkolonie, die nun dafür ins Auge gefaßt worden war, bei Ankunft der ersten Schiffsladung von Sträflingen geradezu eine Empörung gegen die Regierung ausbrach, sodaß das Schiff von London aus nach Vandiemensland geschickt wurde (1843/49), hat sich selbst England genötigt gesehen, die eigentliche Deportation aufzugeben. Das Wesen dieser alten Deportation können wir am besten mit dem deutschen Worte Zwangsansiedlung bezeichnen. Die Geschichte der Kolonisation in neuerer Zeit lehrt also, daß sich diese Zwangsansiedluug nicht bewährt hat. Was dann nach 1850 in England an die Stelle jener alten Deportation trat, die zuerst (unter Karl II. und Jakob II.) nach West¬ indien und Nordamerika geleitet wurde, das können wir nur bezeichnen teils als Unterbringung von Sträflingen in Zuchthäusern, die außerhalb Eng¬ lands oder Europas liegen, teils als freie Ansiedlung, die nicht mehr als Strafe, sondern als Belohnung für gutes Verhalten uach einer aus diesem Grunde abgekürzten Strafzeit zu betrachten ist. Einen ganz andern Charakter als jene alte englische trägt die neuere französische Deportation. Bei dieser herrscht der Straf-, genauer ausgedrückt der Sicherungsgedanke vor, während in der englischen der Besiedlungszweck der ursprüngliche und immer vorherrschende gewesen ist. Beide Zwecke, der der Strafe und der der Besiedlung liegen in der Geschichte der Deportation aber so nahe zusammen, daß ihre Vermischung sehr natürlich erscheint; und doch bildet gerade diese den Hauptgrund, weshalb man bei der mit Recht immer wieder aufgeworfnen Frage über die Zweckmäßigkeit dieser Strafe zu falschen Ansichten und Vorschlägen gelangen muß. Wir können es daher für die Klärung dieser Frage nur als vorteilhaft betrachten, wenn einer ihrer eifrigsten und unermüdlichsten Verfechter, Professor Friedrich Felix Brück in Breslau, in seiner neuesten Schrift hierüber: Die gesetzliche Einführung der Deportation im Deutschen Reich (Breslau, 1897) namentlich die juristisch-technische Seite der Frage ins Auge faßt und erörtert, während er mit seiner frühern Schrift: Neudeutschland und seine Pioniere (Breslau, 1896) hauptsächlich die koloniale Seite berücksichtigt hatte. Freilich sieht der Verfasser in seinem Eifer für die von ihm lebhaft vertretne Sache wohl zu rosig, wenn er sich jetzt auf die juristisch-technische Erörterung deshalb beschränken zu können meint, weil über die durchschlagende Kraft der für die andre Seite aufgeführten Gründe kein Zweifel mehr sei. Im Gegen¬ teil, wir fürchten, daß gerade von den Kolonialfreunden gegen einen etwaigen Versuch, seine Deportationsvorschlüge zu verwirklichen, der entschiedenste Wider-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/678
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/678>, abgerufen am 07.01.2025.