Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Ärztliche Plaudereien Wieder mit neuen Versprechungen und in neuer Form in den Handel gebracht Nun, die Serumtherapie der letzten Jahre scheint sich ja behaupten zu Ärztliche Plaudereien Wieder mit neuen Versprechungen und in neuer Form in den Handel gebracht Nun, die Serumtherapie der letzten Jahre scheint sich ja behaupten zu <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0656" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227558"/> <fw type="header" place="top"> Ärztliche Plaudereien</fw><lb/> <p xml:id="ID_2368" prev="#ID_2367"> Wieder mit neuen Versprechungen und in neuer Form in den Handel gebracht<lb/> worden ist. „Wenn so etwas geschieht am grünen Holz, was wird erst am<lb/> dürren sein," so schrieb damals eine vielgelesene Zeitung!</p><lb/> <p xml:id="ID_2369" next="#ID_2370"> Nun, die Serumtherapie der letzten Jahre scheint sich ja behaupten zu<lb/> wollen, und man neigt immer mehr der Ansicht zu, daß wenigstens Herr<lb/> Behring mit seinem Diphtherieheilserum eine große Entdeckung gemacht hat;<lb/> freilich muß erst noch durch jahrelange Statistik bewiesen werden, daß die<lb/> geringere Sterblichkeit bei der Diphtherie wirklich nur durch das Heilserum<lb/> veranlaßt worden ist, und ob wir jetzt nicht in einer Zeit leben, wo die<lb/> Epidemien an und für sich leichter auftreten. Alles in allem ist also zuzugeben,<lb/> daß der vorläufig noch in den Kinderschuhen steckenden Bazillenwissenschaft<lb/> die Bedeutung uoch nicht beigelegt werden kann, die die Herren Bakteriologen<lb/> mit großem Selbstbewußtsein für sich in Anspruch nehmen, und man kann es<lb/> verstehen, daß Schweninger gegen die Bazillenfurcht zu Felde zieht, die ja<lb/> recht merkwürdige Blüten treibt. Wenn die auf Reisen befindliche Familie<lb/> eines Professors der Hygiene einen Teil der Speisen in sterilisirter Form aus<lb/> dem Laboratorium des Hausherrn bezieht, wie mir erzählt wurde; oder wenn<lb/> im Interesse einer vornehmen Dame die ängstliche Sorgfalt des Arztes so<lb/> weit ging, daß in dem modernen, bisher von Infektionskrankheiten verschont<lb/> gebliebner Hause bei Einrichtung des Wochenzimmers, neben andern Mani¬<lb/> pulationen, die Tapeten abgerissen und sogar nur sterilisirte Vorhänge und<lb/> Gardinen aufgesteckt wurden, so ist das eine Bazillenfurcht, die krankhaft ge¬<lb/> nannt werden darf. Etwas Kampf gegen solche Auswüchse kann nicht schaden,<lb/> besonders da bei fortschreitender Angst die Gefahr vorhanden ist, daß der<lb/> „Schutzmann" schließlich seine Nase auch in unsre Krankenzimmer steckt, um<lb/> unsre Angehörigen im Fall einer infektiösen Erkrankung der Jsolirbaracke zu¬<lb/> zuführen; aber dieser Kampf darf nicht so weit gehen, wie ihn Herr<lb/> Schweninger getrieben hat. Wenn wir ihn recht verstehen, dann meinte er<lb/> in seiner letzten Plauderei, daß nur die Kinder wirklich leistungsfähige Menschen<lb/> werden, die im fortwährenden Kampf mit allen möglichen Bazillenarten er¬<lb/> starkt sind; an den dabei zu Grunde gegangnen sei nichts gelegen! Der Herr<lb/> Professor schreibt also den lieben Bazillen die Rolle des Hechtes im Karpfen¬<lb/> teiche zu, und wenn er will, daß man bei gefährdeten Kindern die Natur<lb/> durch Abhaltung von Schädlichkeiten nicht unterstützen solle, so ist das nicht<lb/> weit entfernt von der Handlungsweise der alten Spartaner, die ihre schwäch¬<lb/> lichen Kinder lieber gleich aussetzten, in der Voraussetzung, daß doch nichts<lb/> ordentliches daraus werden würde. Leider hat aber die Sache einen Haken,<lb/> der die Thätigkeit des menschenfreundlichen Bcizillus in einem noch schlimmern<lb/> Licht erscheinen läßt. Es ist nämlich eine unter Ärzten bekannte Thatsache,<lb/> daß gerade kräftig entwickelte, vollsaftige Menschen von zahlreichen Infektions¬<lb/> krankheiten mit Vorliebe ergriffen werden; ich erinnere dabei nur an Scharlach,<lb/> Diphtherie und andre, denen oft genug die blühendsten Kinder zum Opfer</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0656]
Ärztliche Plaudereien
Wieder mit neuen Versprechungen und in neuer Form in den Handel gebracht
worden ist. „Wenn so etwas geschieht am grünen Holz, was wird erst am
dürren sein," so schrieb damals eine vielgelesene Zeitung!
Nun, die Serumtherapie der letzten Jahre scheint sich ja behaupten zu
wollen, und man neigt immer mehr der Ansicht zu, daß wenigstens Herr
Behring mit seinem Diphtherieheilserum eine große Entdeckung gemacht hat;
freilich muß erst noch durch jahrelange Statistik bewiesen werden, daß die
geringere Sterblichkeit bei der Diphtherie wirklich nur durch das Heilserum
veranlaßt worden ist, und ob wir jetzt nicht in einer Zeit leben, wo die
Epidemien an und für sich leichter auftreten. Alles in allem ist also zuzugeben,
daß der vorläufig noch in den Kinderschuhen steckenden Bazillenwissenschaft
die Bedeutung uoch nicht beigelegt werden kann, die die Herren Bakteriologen
mit großem Selbstbewußtsein für sich in Anspruch nehmen, und man kann es
verstehen, daß Schweninger gegen die Bazillenfurcht zu Felde zieht, die ja
recht merkwürdige Blüten treibt. Wenn die auf Reisen befindliche Familie
eines Professors der Hygiene einen Teil der Speisen in sterilisirter Form aus
dem Laboratorium des Hausherrn bezieht, wie mir erzählt wurde; oder wenn
im Interesse einer vornehmen Dame die ängstliche Sorgfalt des Arztes so
weit ging, daß in dem modernen, bisher von Infektionskrankheiten verschont
gebliebner Hause bei Einrichtung des Wochenzimmers, neben andern Mani¬
pulationen, die Tapeten abgerissen und sogar nur sterilisirte Vorhänge und
Gardinen aufgesteckt wurden, so ist das eine Bazillenfurcht, die krankhaft ge¬
nannt werden darf. Etwas Kampf gegen solche Auswüchse kann nicht schaden,
besonders da bei fortschreitender Angst die Gefahr vorhanden ist, daß der
„Schutzmann" schließlich seine Nase auch in unsre Krankenzimmer steckt, um
unsre Angehörigen im Fall einer infektiösen Erkrankung der Jsolirbaracke zu¬
zuführen; aber dieser Kampf darf nicht so weit gehen, wie ihn Herr
Schweninger getrieben hat. Wenn wir ihn recht verstehen, dann meinte er
in seiner letzten Plauderei, daß nur die Kinder wirklich leistungsfähige Menschen
werden, die im fortwährenden Kampf mit allen möglichen Bazillenarten er¬
starkt sind; an den dabei zu Grunde gegangnen sei nichts gelegen! Der Herr
Professor schreibt also den lieben Bazillen die Rolle des Hechtes im Karpfen¬
teiche zu, und wenn er will, daß man bei gefährdeten Kindern die Natur
durch Abhaltung von Schädlichkeiten nicht unterstützen solle, so ist das nicht
weit entfernt von der Handlungsweise der alten Spartaner, die ihre schwäch¬
lichen Kinder lieber gleich aussetzten, in der Voraussetzung, daß doch nichts
ordentliches daraus werden würde. Leider hat aber die Sache einen Haken,
der die Thätigkeit des menschenfreundlichen Bcizillus in einem noch schlimmern
Licht erscheinen läßt. Es ist nämlich eine unter Ärzten bekannte Thatsache,
daß gerade kräftig entwickelte, vollsaftige Menschen von zahlreichen Infektions¬
krankheiten mit Vorliebe ergriffen werden; ich erinnere dabei nur an Scharlach,
Diphtherie und andre, denen oft genug die blühendsten Kinder zum Opfer
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |