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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Ärztliche Plaudereien

fallen, während schwächliche verschont blieben. Auch der Brechdurchfall, jene
meist im Sommer blitzschnell auftretende und oft genug tödlich endigende
Krankheit, pflegt kräftige und schwächliche Kinder in gleicher Weise zu befallen,
und wenn auch die vorher gesunden widerstandsfähiger sind, so weiß doch jede
Mutter, wie schwer es hält, bis der früher blühende Liebling seine Kräfte wieder
gesunden hat. Ich verstehe es nicht, wie Herr Geheimrat Schweninger vor
solchen Thatsachen noch von einer heilsamen Wirkung der Bazillen reden kann !

Die natürlichste Ernährung der Kinder ist die Muttermilch, und wo
diese fehlt, wird man einen völlig gleichwertigen Ersatz nur in Ammenmilch
finden können. Eine solche Nährmutter zu halten, die natürlich auch sorgfältig
ausgewählt sein muß, ist aber mit Unzuträglichkeiten verbunden und ein Luxus,
den sich der weniger gut situirte Teil unsrer Mitmenschen nicht leisten kann;
dann erst kommt die Kuhmilch in Betracht, die aber immer noch allen ge¬
priesenen künstlichen Surrogaten weit überlegen ist. Leider ist nur die Milch
nicht immer keimfrei und um so leichter iufizirt, je weiter sie herbeigeschafft
werden muß; die Gefahr ist also in großen Städten besonders groß. Was
ich hier sage, steht so fest wie das Einmaleins, und wenn ich so bekannte
Wahrheiten anführe, dann geschieht das nur, um gegen Herrn Schweninger
zu betonen, daß gerade der Soxhlet als eine segensreiche Erfindung zu be¬
trachten ist, die in den Augen des Publikums nicht herabgesetzt werden darf.
Soll einmal getadelt werden, dann kann man vielleicht ihm und ähnlichen
Apparaten den Vorwurf machen, daß durch zu starkes Kochen die Milch etwas
an Nährwert verliert; an der Thatsache selbst darf aber nicht gerüttelt werden,
daß durch die Soxhletsche Erfindung die Gefährlichkeit der Kuhmilchernährung
für Säuglinge ganz bedeutend verringert worden ist.

Interessant gestaltete sich die Debatte über diesen Gegenstand. Auf die
Frage: "Mit was soll der Neugeborne ernährt werden?" antwortet Herr
Schweninger: "Mit Kuhmilch, aber nicht mit Soxhlet. Mit Ammenmilch?
Nein! Was ich gegen den Soxhlet habe? Nicht viel, aber gegen den Wahn¬
sinn alles." Herr, dunkel ist der Rede Sinn, kann man bei dieser letzten
Antwort nur sagen, die einer Pythia Ehre machen würde! Dem im Saale
anwesenden Professor Soxhlet, der auf die Notwendigkeit aufmerksam machte,
den Kindern keimfreie Milch vorzusetzen, wirft er vor, daß ja nicht jede ver¬
unreinigte Milch Bakterien erzeuge, und daß mit dem Soxhlet doch keine
bessere Generation erzielt würde! Auf die Entgegnung, daß man doch nicht
jeder Milch vorher ansehen könne, ob sie vergiftet sei oder nicht, versteigt sich
der Herr Geheimrat zu den Worten: "Lieber einmal vergiftete Milch geben,
als immer mit dem Soxhlet kochen."

Es verlohnt sich nicht, auf solche Äußerungen noch näher einzugehen, die
schon ein Fachblatt als völlig undiskutirbar bezeichnet hat.




Ärztliche Plaudereien

fallen, während schwächliche verschont blieben. Auch der Brechdurchfall, jene
meist im Sommer blitzschnell auftretende und oft genug tödlich endigende
Krankheit, pflegt kräftige und schwächliche Kinder in gleicher Weise zu befallen,
und wenn auch die vorher gesunden widerstandsfähiger sind, so weiß doch jede
Mutter, wie schwer es hält, bis der früher blühende Liebling seine Kräfte wieder
gesunden hat. Ich verstehe es nicht, wie Herr Geheimrat Schweninger vor
solchen Thatsachen noch von einer heilsamen Wirkung der Bazillen reden kann !

Die natürlichste Ernährung der Kinder ist die Muttermilch, und wo
diese fehlt, wird man einen völlig gleichwertigen Ersatz nur in Ammenmilch
finden können. Eine solche Nährmutter zu halten, die natürlich auch sorgfältig
ausgewählt sein muß, ist aber mit Unzuträglichkeiten verbunden und ein Luxus,
den sich der weniger gut situirte Teil unsrer Mitmenschen nicht leisten kann;
dann erst kommt die Kuhmilch in Betracht, die aber immer noch allen ge¬
priesenen künstlichen Surrogaten weit überlegen ist. Leider ist nur die Milch
nicht immer keimfrei und um so leichter iufizirt, je weiter sie herbeigeschafft
werden muß; die Gefahr ist also in großen Städten besonders groß. Was
ich hier sage, steht so fest wie das Einmaleins, und wenn ich so bekannte
Wahrheiten anführe, dann geschieht das nur, um gegen Herrn Schweninger
zu betonen, daß gerade der Soxhlet als eine segensreiche Erfindung zu be¬
trachten ist, die in den Augen des Publikums nicht herabgesetzt werden darf.
Soll einmal getadelt werden, dann kann man vielleicht ihm und ähnlichen
Apparaten den Vorwurf machen, daß durch zu starkes Kochen die Milch etwas
an Nährwert verliert; an der Thatsache selbst darf aber nicht gerüttelt werden,
daß durch die Soxhletsche Erfindung die Gefährlichkeit der Kuhmilchernährung
für Säuglinge ganz bedeutend verringert worden ist.

Interessant gestaltete sich die Debatte über diesen Gegenstand. Auf die
Frage: „Mit was soll der Neugeborne ernährt werden?" antwortet Herr
Schweninger: „Mit Kuhmilch, aber nicht mit Soxhlet. Mit Ammenmilch?
Nein! Was ich gegen den Soxhlet habe? Nicht viel, aber gegen den Wahn¬
sinn alles." Herr, dunkel ist der Rede Sinn, kann man bei dieser letzten
Antwort nur sagen, die einer Pythia Ehre machen würde! Dem im Saale
anwesenden Professor Soxhlet, der auf die Notwendigkeit aufmerksam machte,
den Kindern keimfreie Milch vorzusetzen, wirft er vor, daß ja nicht jede ver¬
unreinigte Milch Bakterien erzeuge, und daß mit dem Soxhlet doch keine
bessere Generation erzielt würde! Auf die Entgegnung, daß man doch nicht
jeder Milch vorher ansehen könne, ob sie vergiftet sei oder nicht, versteigt sich
der Herr Geheimrat zu den Worten: „Lieber einmal vergiftete Milch geben,
als immer mit dem Soxhlet kochen."

Es verlohnt sich nicht, auf solche Äußerungen noch näher einzugehen, die
schon ein Fachblatt als völlig undiskutirbar bezeichnet hat.




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[0657] Ärztliche Plaudereien fallen, während schwächliche verschont blieben. Auch der Brechdurchfall, jene meist im Sommer blitzschnell auftretende und oft genug tödlich endigende Krankheit, pflegt kräftige und schwächliche Kinder in gleicher Weise zu befallen, und wenn auch die vorher gesunden widerstandsfähiger sind, so weiß doch jede Mutter, wie schwer es hält, bis der früher blühende Liebling seine Kräfte wieder gesunden hat. Ich verstehe es nicht, wie Herr Geheimrat Schweninger vor solchen Thatsachen noch von einer heilsamen Wirkung der Bazillen reden kann ! Die natürlichste Ernährung der Kinder ist die Muttermilch, und wo diese fehlt, wird man einen völlig gleichwertigen Ersatz nur in Ammenmilch finden können. Eine solche Nährmutter zu halten, die natürlich auch sorgfältig ausgewählt sein muß, ist aber mit Unzuträglichkeiten verbunden und ein Luxus, den sich der weniger gut situirte Teil unsrer Mitmenschen nicht leisten kann; dann erst kommt die Kuhmilch in Betracht, die aber immer noch allen ge¬ priesenen künstlichen Surrogaten weit überlegen ist. Leider ist nur die Milch nicht immer keimfrei und um so leichter iufizirt, je weiter sie herbeigeschafft werden muß; die Gefahr ist also in großen Städten besonders groß. Was ich hier sage, steht so fest wie das Einmaleins, und wenn ich so bekannte Wahrheiten anführe, dann geschieht das nur, um gegen Herrn Schweninger zu betonen, daß gerade der Soxhlet als eine segensreiche Erfindung zu be¬ trachten ist, die in den Augen des Publikums nicht herabgesetzt werden darf. Soll einmal getadelt werden, dann kann man vielleicht ihm und ähnlichen Apparaten den Vorwurf machen, daß durch zu starkes Kochen die Milch etwas an Nährwert verliert; an der Thatsache selbst darf aber nicht gerüttelt werden, daß durch die Soxhletsche Erfindung die Gefährlichkeit der Kuhmilchernährung für Säuglinge ganz bedeutend verringert worden ist. Interessant gestaltete sich die Debatte über diesen Gegenstand. Auf die Frage: „Mit was soll der Neugeborne ernährt werden?" antwortet Herr Schweninger: „Mit Kuhmilch, aber nicht mit Soxhlet. Mit Ammenmilch? Nein! Was ich gegen den Soxhlet habe? Nicht viel, aber gegen den Wahn¬ sinn alles." Herr, dunkel ist der Rede Sinn, kann man bei dieser letzten Antwort nur sagen, die einer Pythia Ehre machen würde! Dem im Saale anwesenden Professor Soxhlet, der auf die Notwendigkeit aufmerksam machte, den Kindern keimfreie Milch vorzusetzen, wirft er vor, daß ja nicht jede ver¬ unreinigte Milch Bakterien erzeuge, und daß mit dem Soxhlet doch keine bessere Generation erzielt würde! Auf die Entgegnung, daß man doch nicht jeder Milch vorher ansehen könne, ob sie vergiftet sei oder nicht, versteigt sich der Herr Geheimrat zu den Worten: „Lieber einmal vergiftete Milch geben, als immer mit dem Soxhlet kochen." Es verlohnt sich nicht, auf solche Äußerungen noch näher einzugehen, die schon ein Fachblatt als völlig undiskutirbar bezeichnet hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/657>, abgerufen am 07.01.2025.