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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Ärztliche Plaudereien

Setzung, das? er ihn möglicherweise später noch einmal nötig haben könnte.
Noch ans einen Punkt möchte ich aufmerksam machen, der für die Verbreitung
der Morphiumsucht nicht unwesentlich ist, nämlich auf den Proselytismus.
Ich kannte Kranke, die im seligen Morphiumdusel mit der Spritze in der Hand
zu allen Freunden und Bekannten umhergingen, um auch ihnen ein Nirwana
zu bereiten; und es kommt leider nicht so gar selten vor, daß der Mann seine
Fran und noch andre Familienmitglieder dem Gift in die Arme führt.

Mehr als eigentümlich klingen auch die Auslassungen des Herrn Geheim¬
rath über die "Diagnosen," die er anscheinend für ganz überflüssig hält. Wenn
er damit nur sagen will, daß auf das Diagnvstiziren vielfach ein größeres
Gewicht gelegt wird als auf das Heilen der Krankheiten, so muß man ihm
recht geben, denn in der That machte es schon vor achtzehn Jahren auf uns
junge Studenten einen wenig erhebenden Eindruck, wenn über die Diagnose
stundenlang gesprochen wurde, während der Therapie oft nur wenige Worte
gewidmet wurden. Daß es in der Praxis auf eine subtile, wissenschaftliche
Diagnose nicht immer ankommt, und daß durch eine zu pedantische Unter¬
suchung dem Patienten oft mehr geschadet wird, soll ebenfalls nicht in Abrede
gestellt werden; man darf aber nicht vergessen, daß im allgemeinen eine erfolg¬
reiche Therapie erst durch die richtige Diagnose möglich wird, und daß sich
der Arzt einer schweren Unterlassung schuldig macheu würde, der ohne richtige
Erkenntnis des Übels drauf los kuriren wollte. Wir können also mit Herrn
Schweninger nur einverstanden sein, wenn er sich über die cillzneifrige
Diagnostizirerei lustig macht, wie sie nicht selten von Assistenten und jungen
Dozenten geübt wird, die gern etwas werden wollen und min einen Paradefall
nach dem andern in der medizinischen Presse breit treten. Der Herr Geheim-
rat greift aber nicht nur die Berechtigung der Diagnosen an, er versteigt sich
auch zu der Behauptung, daß die wissenschaftlichen Männer um 20 Prozent
mehr falsche Diagnosen stellen als die unwissenschaftlichen! Wenn ich diese
Worte nicht schwarz ans weiß in einer wohlunterrichteten Zeitung gelesen hätte,
dann würde ich sie nicht für möglich halten. Das Diagnostiziren ist eine
Kunst, in der der moderne Arzt weit vorgeschritten ist; freilich kommen auf
dieser unvollkommnen Welt überall Irrtümer vor, und nicht selten werden auch
dem gewiegtesten Arzt manche Erscheinungen an seinen Kranken dunkel bleiben,
aber wir dürften glücklich sein, wenn wir nur alle richtig erkannten Krankheiten
anch wirklich Heilen könnten! Glaubt der Herr Professor über seine Wissen¬
schaft und den Stand, dem er selbst angehört, immer nnr absprechend urteilen
zu müssen, dann soll er sich wenigstens an das halten, was wirklich tadelns¬
wert ist!

Seine Äußerungen über "Diagnosen" decken sich übrigens ganz mit den
Ansichten, die Herr Schweninger vor einigen Jahren in einem längern Ge¬
spräch mir gegenüber entwickelt hat. Schon damals hörte ich, daß er auf eine
präzise Diagnose gar kein Gewicht lege, und ans meine Frage, ob er denn


Ärztliche Plaudereien

Setzung, das? er ihn möglicherweise später noch einmal nötig haben könnte.
Noch ans einen Punkt möchte ich aufmerksam machen, der für die Verbreitung
der Morphiumsucht nicht unwesentlich ist, nämlich auf den Proselytismus.
Ich kannte Kranke, die im seligen Morphiumdusel mit der Spritze in der Hand
zu allen Freunden und Bekannten umhergingen, um auch ihnen ein Nirwana
zu bereiten; und es kommt leider nicht so gar selten vor, daß der Mann seine
Fran und noch andre Familienmitglieder dem Gift in die Arme führt.

Mehr als eigentümlich klingen auch die Auslassungen des Herrn Geheim¬
rath über die „Diagnosen," die er anscheinend für ganz überflüssig hält. Wenn
er damit nur sagen will, daß auf das Diagnvstiziren vielfach ein größeres
Gewicht gelegt wird als auf das Heilen der Krankheiten, so muß man ihm
recht geben, denn in der That machte es schon vor achtzehn Jahren auf uns
junge Studenten einen wenig erhebenden Eindruck, wenn über die Diagnose
stundenlang gesprochen wurde, während der Therapie oft nur wenige Worte
gewidmet wurden. Daß es in der Praxis auf eine subtile, wissenschaftliche
Diagnose nicht immer ankommt, und daß durch eine zu pedantische Unter¬
suchung dem Patienten oft mehr geschadet wird, soll ebenfalls nicht in Abrede
gestellt werden; man darf aber nicht vergessen, daß im allgemeinen eine erfolg¬
reiche Therapie erst durch die richtige Diagnose möglich wird, und daß sich
der Arzt einer schweren Unterlassung schuldig macheu würde, der ohne richtige
Erkenntnis des Übels drauf los kuriren wollte. Wir können also mit Herrn
Schweninger nur einverstanden sein, wenn er sich über die cillzneifrige
Diagnostizirerei lustig macht, wie sie nicht selten von Assistenten und jungen
Dozenten geübt wird, die gern etwas werden wollen und min einen Paradefall
nach dem andern in der medizinischen Presse breit treten. Der Herr Geheim-
rat greift aber nicht nur die Berechtigung der Diagnosen an, er versteigt sich
auch zu der Behauptung, daß die wissenschaftlichen Männer um 20 Prozent
mehr falsche Diagnosen stellen als die unwissenschaftlichen! Wenn ich diese
Worte nicht schwarz ans weiß in einer wohlunterrichteten Zeitung gelesen hätte,
dann würde ich sie nicht für möglich halten. Das Diagnostiziren ist eine
Kunst, in der der moderne Arzt weit vorgeschritten ist; freilich kommen auf
dieser unvollkommnen Welt überall Irrtümer vor, und nicht selten werden auch
dem gewiegtesten Arzt manche Erscheinungen an seinen Kranken dunkel bleiben,
aber wir dürften glücklich sein, wenn wir nur alle richtig erkannten Krankheiten
anch wirklich Heilen könnten! Glaubt der Herr Professor über seine Wissen¬
schaft und den Stand, dem er selbst angehört, immer nnr absprechend urteilen
zu müssen, dann soll er sich wenigstens an das halten, was wirklich tadelns¬
wert ist!

Seine Äußerungen über „Diagnosen" decken sich übrigens ganz mit den
Ansichten, die Herr Schweninger vor einigen Jahren in einem längern Ge¬
spräch mir gegenüber entwickelt hat. Schon damals hörte ich, daß er auf eine
präzise Diagnose gar kein Gewicht lege, und ans meine Frage, ob er denn


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[0654] Ärztliche Plaudereien Setzung, das? er ihn möglicherweise später noch einmal nötig haben könnte. Noch ans einen Punkt möchte ich aufmerksam machen, der für die Verbreitung der Morphiumsucht nicht unwesentlich ist, nämlich auf den Proselytismus. Ich kannte Kranke, die im seligen Morphiumdusel mit der Spritze in der Hand zu allen Freunden und Bekannten umhergingen, um auch ihnen ein Nirwana zu bereiten; und es kommt leider nicht so gar selten vor, daß der Mann seine Fran und noch andre Familienmitglieder dem Gift in die Arme führt. Mehr als eigentümlich klingen auch die Auslassungen des Herrn Geheim¬ rath über die „Diagnosen," die er anscheinend für ganz überflüssig hält. Wenn er damit nur sagen will, daß auf das Diagnvstiziren vielfach ein größeres Gewicht gelegt wird als auf das Heilen der Krankheiten, so muß man ihm recht geben, denn in der That machte es schon vor achtzehn Jahren auf uns junge Studenten einen wenig erhebenden Eindruck, wenn über die Diagnose stundenlang gesprochen wurde, während der Therapie oft nur wenige Worte gewidmet wurden. Daß es in der Praxis auf eine subtile, wissenschaftliche Diagnose nicht immer ankommt, und daß durch eine zu pedantische Unter¬ suchung dem Patienten oft mehr geschadet wird, soll ebenfalls nicht in Abrede gestellt werden; man darf aber nicht vergessen, daß im allgemeinen eine erfolg¬ reiche Therapie erst durch die richtige Diagnose möglich wird, und daß sich der Arzt einer schweren Unterlassung schuldig macheu würde, der ohne richtige Erkenntnis des Übels drauf los kuriren wollte. Wir können also mit Herrn Schweninger nur einverstanden sein, wenn er sich über die cillzneifrige Diagnostizirerei lustig macht, wie sie nicht selten von Assistenten und jungen Dozenten geübt wird, die gern etwas werden wollen und min einen Paradefall nach dem andern in der medizinischen Presse breit treten. Der Herr Geheim- rat greift aber nicht nur die Berechtigung der Diagnosen an, er versteigt sich auch zu der Behauptung, daß die wissenschaftlichen Männer um 20 Prozent mehr falsche Diagnosen stellen als die unwissenschaftlichen! Wenn ich diese Worte nicht schwarz ans weiß in einer wohlunterrichteten Zeitung gelesen hätte, dann würde ich sie nicht für möglich halten. Das Diagnostiziren ist eine Kunst, in der der moderne Arzt weit vorgeschritten ist; freilich kommen auf dieser unvollkommnen Welt überall Irrtümer vor, und nicht selten werden auch dem gewiegtesten Arzt manche Erscheinungen an seinen Kranken dunkel bleiben, aber wir dürften glücklich sein, wenn wir nur alle richtig erkannten Krankheiten anch wirklich Heilen könnten! Glaubt der Herr Professor über seine Wissen¬ schaft und den Stand, dem er selbst angehört, immer nnr absprechend urteilen zu müssen, dann soll er sich wenigstens an das halten, was wirklich tadelns¬ wert ist! Seine Äußerungen über „Diagnosen" decken sich übrigens ganz mit den Ansichten, die Herr Schweninger vor einigen Jahren in einem längern Ge¬ spräch mir gegenüber entwickelt hat. Schon damals hörte ich, daß er auf eine präzise Diagnose gar kein Gewicht lege, und ans meine Frage, ob er denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/654>, abgerufen am 09.01.2025.