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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Ärztliche Plaudereien

Wir hören ferner, daß der Herr Geheimrat schon durch den in München
genossenen medizinischen Unterricht skeptisch gesinnt wurde, denn was der eine
Professor als seine heiligste Überzeugung vorgetragen hatte, sei später von
einem andern oft genug als Unsinn erklärt worden. Die Lehre von den
Bazillen als Krankheitsursache habe sich in den letzten Jahren ungewöhnlich
entwickelt, ohne daß die Dinge schon genügend erforscht worden seien, und die
Furcht vor den Bazillen stehe in gar keinem Verhältnis zu dem stolzen Wort:
"Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt." Interessant
sind auch die Mitteilungen über Morphiumsucht, und wir erfahren mit an¬
erkennenswerter Offenheit, daß der berühmte Arzt des Fürsten Vismarck einer
Familie angehört, in der viele Mitglieder an Morphium zu Grunde gegangen
sind. Wenn er aber behauptet, daß die Morphiumsucht nur von Ärzten ver¬
anlaßt worden sei und noch heute befördert würde, so ist das eine Behauptung,
die als direkte Unwahrheit nicht scharf genug zurückgewiesen werden kann.

Schreiber dieses hat in frühern Jahren als Leiter einer Nervenheilanstalt
viel mit Morphiumentziehung zu thun gehabt und der Entstehung der einzelnen
Fülle sorgfältig nachgeforscht, wobei er zu der Überzeugung kam, daß nur in
einem kleinen Prozentsatz der Fälle ärztliches Verschulden festzustellen war. Dem
Kollegen freilich, der seineu Patienten die Morphiumspritze in die Hand giebt
und ein beliebig zu erneuerndes Rezept verschreibt, darf der Vorwurf eines
Verbrechens gemacht werden, aber diese Voraussetzungen treffen glücklicherweise
nnr selten zu. Unter etwa hundert Morphiumkranken kenne ich nur drei
Fälle, wo den Arzt ein direktes Verschulden trifft, und einer dieser Fälle
hatte sich noch dazu im Auslande zugetragen. "Ohne Morphium möchte ich
kein Arzt sein" -- so sagte einmal ein alter hochgeschätzter Praktiker! Der
gesunde Mensch weiß nicht, was körperliche Schmerzen sind; wer aber als Arzt
fast täglich beobachten kann, zu welchen unerträglichen Qualen wir armen
Sterblichen verdammt sein können, der wird auch den Segen des Morphiums
zu schützen wissen. Wenn unter mehreren tausend Chlorvformnarkosen ein
Todesfall eintritt, so wird man deswegen dieses Mittel ebenso wenig aus
dem Arzneischatz streichen wie das Morphium, weil ihm jährlich eine Anzahl
charakterloser und entnervter Menschen zum Opfer füllt. Für mich wenigstens
ist es auch nicht zweifelhaft, daß, abgesehen von den Unglücklichen, die wegen
immerwährender Schmerzen Trost und Linderung suchen, nur schwache und
verweichlichte Charaktere dem Morphium unterliegen können. Die Schuld für
diese Krankheit trifft also keinesfalls die Ärzte, die es wahrlich an Vorsicht
nicht fehlen lassen. Will man einen Sündenbock haben, dann soll man ihn
bei jenen Dunkelmännern suchen, die aus der krankhaften Leidenschaft ihrer
Mitmenschen ein Geschäft machen und ohne ärztliches Rezept das Morphium
zu teuern Preisen verkaufen. Leider sind diese Leute nur selten zu fassen,
denn ein Morphinist wird seinen Lieferanten niemals verraten, in der Voraus-


Grenzboton I 1893 W
Ärztliche Plaudereien

Wir hören ferner, daß der Herr Geheimrat schon durch den in München
genossenen medizinischen Unterricht skeptisch gesinnt wurde, denn was der eine
Professor als seine heiligste Überzeugung vorgetragen hatte, sei später von
einem andern oft genug als Unsinn erklärt worden. Die Lehre von den
Bazillen als Krankheitsursache habe sich in den letzten Jahren ungewöhnlich
entwickelt, ohne daß die Dinge schon genügend erforscht worden seien, und die
Furcht vor den Bazillen stehe in gar keinem Verhältnis zu dem stolzen Wort:
„Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt." Interessant
sind auch die Mitteilungen über Morphiumsucht, und wir erfahren mit an¬
erkennenswerter Offenheit, daß der berühmte Arzt des Fürsten Vismarck einer
Familie angehört, in der viele Mitglieder an Morphium zu Grunde gegangen
sind. Wenn er aber behauptet, daß die Morphiumsucht nur von Ärzten ver¬
anlaßt worden sei und noch heute befördert würde, so ist das eine Behauptung,
die als direkte Unwahrheit nicht scharf genug zurückgewiesen werden kann.

Schreiber dieses hat in frühern Jahren als Leiter einer Nervenheilanstalt
viel mit Morphiumentziehung zu thun gehabt und der Entstehung der einzelnen
Fülle sorgfältig nachgeforscht, wobei er zu der Überzeugung kam, daß nur in
einem kleinen Prozentsatz der Fälle ärztliches Verschulden festzustellen war. Dem
Kollegen freilich, der seineu Patienten die Morphiumspritze in die Hand giebt
und ein beliebig zu erneuerndes Rezept verschreibt, darf der Vorwurf eines
Verbrechens gemacht werden, aber diese Voraussetzungen treffen glücklicherweise
nnr selten zu. Unter etwa hundert Morphiumkranken kenne ich nur drei
Fälle, wo den Arzt ein direktes Verschulden trifft, und einer dieser Fälle
hatte sich noch dazu im Auslande zugetragen. „Ohne Morphium möchte ich
kein Arzt sein" — so sagte einmal ein alter hochgeschätzter Praktiker! Der
gesunde Mensch weiß nicht, was körperliche Schmerzen sind; wer aber als Arzt
fast täglich beobachten kann, zu welchen unerträglichen Qualen wir armen
Sterblichen verdammt sein können, der wird auch den Segen des Morphiums
zu schützen wissen. Wenn unter mehreren tausend Chlorvformnarkosen ein
Todesfall eintritt, so wird man deswegen dieses Mittel ebenso wenig aus
dem Arzneischatz streichen wie das Morphium, weil ihm jährlich eine Anzahl
charakterloser und entnervter Menschen zum Opfer füllt. Für mich wenigstens
ist es auch nicht zweifelhaft, daß, abgesehen von den Unglücklichen, die wegen
immerwährender Schmerzen Trost und Linderung suchen, nur schwache und
verweichlichte Charaktere dem Morphium unterliegen können. Die Schuld für
diese Krankheit trifft also keinesfalls die Ärzte, die es wahrlich an Vorsicht
nicht fehlen lassen. Will man einen Sündenbock haben, dann soll man ihn
bei jenen Dunkelmännern suchen, die aus der krankhaften Leidenschaft ihrer
Mitmenschen ein Geschäft machen und ohne ärztliches Rezept das Morphium
zu teuern Preisen verkaufen. Leider sind diese Leute nur selten zu fassen,
denn ein Morphinist wird seinen Lieferanten niemals verraten, in der Voraus-


Grenzboton I 1893 W
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[0653] Ärztliche Plaudereien Wir hören ferner, daß der Herr Geheimrat schon durch den in München genossenen medizinischen Unterricht skeptisch gesinnt wurde, denn was der eine Professor als seine heiligste Überzeugung vorgetragen hatte, sei später von einem andern oft genug als Unsinn erklärt worden. Die Lehre von den Bazillen als Krankheitsursache habe sich in den letzten Jahren ungewöhnlich entwickelt, ohne daß die Dinge schon genügend erforscht worden seien, und die Furcht vor den Bazillen stehe in gar keinem Verhältnis zu dem stolzen Wort: „Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt." Interessant sind auch die Mitteilungen über Morphiumsucht, und wir erfahren mit an¬ erkennenswerter Offenheit, daß der berühmte Arzt des Fürsten Vismarck einer Familie angehört, in der viele Mitglieder an Morphium zu Grunde gegangen sind. Wenn er aber behauptet, daß die Morphiumsucht nur von Ärzten ver¬ anlaßt worden sei und noch heute befördert würde, so ist das eine Behauptung, die als direkte Unwahrheit nicht scharf genug zurückgewiesen werden kann. Schreiber dieses hat in frühern Jahren als Leiter einer Nervenheilanstalt viel mit Morphiumentziehung zu thun gehabt und der Entstehung der einzelnen Fülle sorgfältig nachgeforscht, wobei er zu der Überzeugung kam, daß nur in einem kleinen Prozentsatz der Fälle ärztliches Verschulden festzustellen war. Dem Kollegen freilich, der seineu Patienten die Morphiumspritze in die Hand giebt und ein beliebig zu erneuerndes Rezept verschreibt, darf der Vorwurf eines Verbrechens gemacht werden, aber diese Voraussetzungen treffen glücklicherweise nnr selten zu. Unter etwa hundert Morphiumkranken kenne ich nur drei Fälle, wo den Arzt ein direktes Verschulden trifft, und einer dieser Fälle hatte sich noch dazu im Auslande zugetragen. „Ohne Morphium möchte ich kein Arzt sein" — so sagte einmal ein alter hochgeschätzter Praktiker! Der gesunde Mensch weiß nicht, was körperliche Schmerzen sind; wer aber als Arzt fast täglich beobachten kann, zu welchen unerträglichen Qualen wir armen Sterblichen verdammt sein können, der wird auch den Segen des Morphiums zu schützen wissen. Wenn unter mehreren tausend Chlorvformnarkosen ein Todesfall eintritt, so wird man deswegen dieses Mittel ebenso wenig aus dem Arzneischatz streichen wie das Morphium, weil ihm jährlich eine Anzahl charakterloser und entnervter Menschen zum Opfer füllt. Für mich wenigstens ist es auch nicht zweifelhaft, daß, abgesehen von den Unglücklichen, die wegen immerwährender Schmerzen Trost und Linderung suchen, nur schwache und verweichlichte Charaktere dem Morphium unterliegen können. Die Schuld für diese Krankheit trifft also keinesfalls die Ärzte, die es wahrlich an Vorsicht nicht fehlen lassen. Will man einen Sündenbock haben, dann soll man ihn bei jenen Dunkelmännern suchen, die aus der krankhaften Leidenschaft ihrer Mitmenschen ein Geschäft machen und ohne ärztliches Rezept das Morphium zu teuern Preisen verkaufen. Leider sind diese Leute nur selten zu fassen, denn ein Morphinist wird seinen Lieferanten niemals verraten, in der Voraus- Grenzboton I 1893 W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/653>, abgerufen am 09.01.2025.